Überall Taxi Orange! Die Welt als Container oder: Wenn das Lustprinzip des Voyeurs (alles zu sehen) und das Lustprinzip des Exhibitionisten (alles zu zeigen) zu sozialen Normen werden.
W er heute einen Flughafen durch quert, kennt die folgende Szene: Vor dem Betreten des Flugzeugs muss sich der Passagier einer Reihe von Kontrollen unterwerfen, die darauf abzielen, das Reich der Sichtbarkeit auszudehnen und abzusichern, indem jeder Rest von Unsichtbarkeit getilgt und jedes Objekt, das der Sichtbarkeit sich entzieht, ans Licht der Sichtbarkeit gezerrt wird. Eine relativ umfangreiche Apparatur, ein Verbund von Detektoren und Kameras, wurde aufgebaut, um die lokalen Ereignisse unter die Diktatur der absoluten Sichtbarkeit zu stellen. Diese absolute Sichtbarkeit wird legitimiert mit dem Anspruch und der Garantie von absoluter Sicherheit. Auf dem Flughafen herrscht das Regime des panoptischen Prinzips: Alles muss gesehen, alles muss gezeigt werden.
Unter den Ritualen der Kontrolle formieren sich allerdings ganz andere libidinale Regimes. Ein sozialer Vorwand legitimiert massives Eindringen voyeuristischer und exhibitionistischer Verhaltensweisen in das öffentliche und soziale Leben. Das Lustprinzip des Voyeurs - alles zu sehen - und das Lustprinzip des Exhibitionisten - alles zu zeigen - werden von privaten Triebschicksalen zu sozialen Normen. Voyeurismus, Exhibitionismus und Narzissmus transformieren sich von individualpsychologischen Kriterien zu sozialen Kategorien. Mit ihnen einher gehen auch narzisstische Identifikationen mit der Macht des Beobachters, der alles sehen darf, und infantile Kastrationsängste desjenigen, der nicht alles zeigen will. Wie Michel Foucault aufzeigte, verbergen sich unter den Mechanismen des Überwachens Mechanismen der Macht. Diese Machtmechanismen bilden sich an psychologischen Mechanis- men. Durch diese Verschränkung werden Exhibitionismus und Vo- yeurismus von illegitimen zu legitimen Vergnügen. Ebenso werden den sadistischen Vergnügen, die mit der Kontrolle des Blicks verbunden sind, und den masochistischen Vergnügen, die mit der Unterwerfung unter den Blick verbunden sind, neue Freiräume eröffnet. Masochistisches und sadistisches Verhalten, exhibitionistische und voyeuristische Freuden invadieren den öffentlichen Raum und bewegen sich in neue Zonen, deren Gestalt noch ungewiss ist. Die Morphologie des Begehrens erscheint täglich in neuen Formen. Dieses Theater der Triebe verbirgt sich hinter den Masken der Kontrollrituale, deren offizielle Version lautet: Sichtbarkeit ist die oberste Maxime. Im Namen der Sicherheit für alle.
Insbesondere eine Bewegung macht die spezifischen Bedingungen des zeitgenössischen Panoptikums deutlich, nämlich die Bewegung des Handgepäcks auf dem Fließband, das den Reisenden begleitet. Der Passagier geht durch einen Korridor in Form eines elektronischen Tors, das an die mittelalterlichen Kontrollen an den Stadtmauern erinnert. Gleichzeitig dazu durchquert das Gepäck einen Korridor in Form einer Schleuse. Das Gepäck ist eine Zeit lang sichtbar, dann wird es in der Schleuse unsichtbar, aber der Inhalt des Gepäcks wird auf einem Bildschirm sichtbar. Anschließend wird das Gepäck wieder sichtbar, aber sein Inhalt unsichtbar. Das Gepäck durchläuft also Zonen der Visibilität und der Invisibilität. Diese Zonen sind nicht nur variabel im Raum und in der Dauer, sondern auch in Bezug auf ihre Diaphanität. In der Zone der Sichtbarkeit sind die Gegenstände nicht diaphan. In den Zonen der Unsichtbarkeit hingegen sind sie diaphan. Aus der Zone der Visibilität taucht das Gepäck plötzlich ein in eine Zone der Invisibilität, gibt aber dort sein Inneres visuell preis und kehrt nach Durchlaufen des Kofferschachts wieder zurück in die Zone der Sichtbarkeit. Paradoxerweise werden die Gegenstände in der Zone der Unsichtbarkeit diaphan. Im Schacht, ausgeschlossen aus dem natürlichen skopischen Regime, dem menschlichen Auge nicht zugänglich, werden die Gegenstände mit Hilfe von technischen Apparaturen durchscheinend, genauer: zu Diaphanien.
Mit der Frage nach der Funktion von Materialität und Immaterialität in der Kunst brachte Lyotard das Problem der Sichtbarkeit in die postmoderne Diskussion. Für ihn liegt die wesentliche Arbeit des Künstlers darin, "sehen zu lassen, daß es Unsichtbares im Sichtbaren gibt". War für den modernen Künstler wie Paul Klee die Aufgabe der Kunst, das Unsichtbare sichtbar zu machen, stellt sich der postmoderne Künstler der komplexen Aufgabe, darauf hinzuweisen, dass es im Sichtbaren noch Unsichtbares gibt. Er sagt das nicht als Agent der totalen Kontrolle, der auch noch den letzten Rest Unsichtbarkeit tilgen möchte, sondern sagt dies als Analytiker, der darauf verweist, dass das Reich der Sichtbarkeit nicht unbegrenzt ist, sondern dass es im Gegenteil prinzipielle Grenzen der Sichtbarkeit gibt. Diese prinzipielle Struktur der Regulierung von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit bezieht sich auf die Verwerfung, wie sie nicht nur der Paranoia eingeschrieben ist, aber ihr insbesondere, sondern der gesamten sozialen Ordnung. Das Sichtbare ist das Feld der symbolischen Ordnung, und wie es in der symbolischen Ordnung notwendigerweise zu Verwerfungen kommt, so kommt es im Feld des Sichtbaren notwendigerweise zu Zonen der Unsichtbarkeit. Viele Bereiche der Wirklichkeit sind unseren natürlichen Sinnen nicht mehr zugänglich. Sie können vom natürlichen menschlichen Auge nicht mehr gesehen werden, sondern nur durch speziell dafür geschaffene Apparate. So sehen wir also nicht die Welt, sondern Bilder einer Welt, die Apparate für unsere Augen schaffen. Ist das Bild die einzige Realität, die sich vor die sinnlich erfahrbare Wirklichkeit stellt, und ist die Wirklichkeit unseren natürlichen Sinnen nicht mehr zugänglich, dann kommt es darauf an, das Bild richtig zu interpretieren. Es gibt nämlich Apparate, die tiefer und weiter in die Realität vordringen als das menschliche Auge. Die fotografischen Bedingungen bestimmen daher auch die Bedingungen der Weit.
Die postmoderne Formulierung des Sichtbaren bezieht sich also auf die Technologie des Sehens, auf die Bilder der Apparatewelt, auf die Erfahrung des technischen Sehens. Das technische Sehen lehrt uns, dass es eine (für
das natürliche Auge) unsichtbare Realität gibt, die in (technischen) Bildern sichtbar werden kann. Visibilität und Invisibilität, das Sichtbare und das Verborgene, bilden in der technischen Welt eine neue Gleichung: Das Verborgene kann sichtbar werden, das Sichtbare kann Verborgenes enthalten. Eine unsichtbare Realität kann in Bildern sichtbar werden. Eine verdrängte Realität artikuliert sich in Bildern, weil das Realitätsprinzip nicht ausreicht, die Konflikte zu lösen. Das Lustprinzip sorgt dafür, dass die psychische Funktion der Aufmerksamkeit sich von unlusterregenden Phänomenen zurückzieht, sie verdrängt. Da die Wünsche aber nicht durch die Realität befriedigt werden können, geschieht dies durch Bilder, die in ihrer Funktion Halluzinationen gleichen. Es kommt zu nachrealen Befriedigungen. Die Bilder der Massenmedien zeigen das soziale Unbewusste, die verdrängten kollektiven Wünsche. Eine sichtbare Welt kann in Bildern das Unsichtbare zeigen. Akteure der politischen Bühne, die ebenfalls das Realitätsprinzip nicht durchsetzen können, produzieren daher das Verworfene, das ideologisch Exkludierte als Bild. Sie produzieren, durchaus durch reale Taten, vor allem Bilder für die Massenmedien, um das sozial Verdrängte sichtbar zu machen. Die postmoderne Bildtheorie der Simulation erklärt mit Baudrillard "the desert of the real", die Agonie und das Verdrängen des Realen, mit ebendieser Tatsache, dass die Bilder zur Realität werden, auf die wir uns beziehen.
Eine postmoderne Bildtheorie geht also nicht von einer Weltbeobachtung, sondern von einer Bildbeobachtung aus. Das kommunikative Handeln geschieht über Bilder. Und dieses Handeln bezieht sich insbesondere auf das Verschieben der Zonen der Visibilität und der Diaphanität. Das Sichtbare wird wie mit einem Regler kontrolliert; das sichtbare Feld wird zu einer mobilen Luke; der Bildschirm ist der Regler, mit dem die Zonen der Visibilität angesteuert werden können: Das Sichtbare wird zu einer variablen Zone, in welcher der diaphane Zustand des Gegenstandes ebenfalls variabel ist. Diese variable Visibilität und Diaphanität ist ein entscheidendes Charakteristikum der postmodernen Welt nach der elektromagnetischen Techno-Transformation der Erde, nach der Errichtung der Herrschaft der elektromagnetischen Wellen und Strahlen via Radio, TV, Satellit. Die totale globale Kontrolle via Satellit, GPS und Data Surveillance ist gerade diese variable Visibilität und Diaphanität.
1956 erschien ein Werk, das diese Welt der elektromagnetischen Wellen und Strahlen zum ersten Mal genauer beschrieb: Günther Anders' Buch "Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution". Es enthält das Kapitel "Die Welt als Phantom und Matrize. Philosophische Betrachtungen über Rundfunk und Fernsehen". In ihm beschreibt er die Verschmelzung von Bildern und Wirklichkeit, von persönlichem und sozialem Leben durch die technischen Medien. "Was nun durch TV zu Hause herrscht, ist die gesendete - wirkliche oder fiktive - Außenwelt; und diese herrscht so unumschränkt, daß sie damit die Realität des Heims - nicht nur die der vier Wände und des Mobiliars, sondern eben die des gemeinsamen Lebens, ungültig und phantomhaft macht. Wenn das Phantom wirklich wird, wird das Wirkliche phantomhaft." Die eigentlich umwälzende Leistung von Radio und TV ist, dass die Welt zum Menschen kommt. Dies verändert sowohl Welt und als auch Menschen: "Wenn die Welt zu uns kommt, aber doch nur als Bild, ist sie halb an- und halb abwesend, also phantomhaft. Wenn das Ereignis mobil ist und in virtuell zahllosen Exemplaren auftritt, dann gehört es zu Serienprodukten; wenn für die Zusendung des Serienproduktes gezahlt wird, ist das Ereignis eine Ware. Wenn es erst in seiner Reproduktionsform, also als Bild sozial wichtig wird, ist der Unterschied zwischen Sein und Schein, zwischen Wirklichkeit und Bild aufgehoben. Wenn das Ereignis in seiner Reproduktionsform sozial wichtiger wird als in seiner Originalform, dann muß das Original sich nach seiner Reproduktion richten, das Ereignis also zur bloßen Matrize ihrer Reproduktion werden." In der Medienwelt verschwindet die Welt als Ereig-nis und wird zu einem bloßen Bild, zu ei- nem Spektakel, zu einem Phantom. Auch die
Fortsetzung Seite IV
Menschen, die in der Medienwelt auftreten, werden zu Images, phantomartigen Bildern, und zu Waren. Je höher der Fetischcharakter eines Images wird, umso mehr wird für dieses Image als Ware bezahlt, die Geburt des Starsystems.
In dem historischen Moment, wo die Reproduktionsform sozial wichtiger wird als die Originalform, agieren auch die politischen Akteure, die Herrschenden wie die Rebellen für die Reproduktionsform. Sie müssen als Images gewinnen und nicht als Realität. Ihre Aktionen sind Reproduktionen nach den massenmedialen Vorgaben von Film und Fernsehen. Die Politik wird zur Soap-Opera, die Rebellion zu einem Action-thriller. Im Spektakel der Images werden die öffentlichen Aktivitäten zu bloßen Reproduktionen der massenmedialen Formen, die ihrerseits nur Reproduktionen sind. Politik wird dadurch zu einem Theater der Instinkte, das unter einem Wiederholungszwang steht, da es der Tendenz unterliegt, einen früheren Zustand der Dinge zu restaurieren.
Dieser Wiederholungszwang wird besonders in Augenblicken massenmedialer Hysterien und politischer Katastrophen sichtbar: Immer wieder werden die Bilder politischer und sozialer Katastrophen fast manisch wiederholt und werden dadurch zu visuellen Symptomen für jene Degradierung des Politischen in Rituale der Instinkte. Eine adäquate politische und humane Reaktion am 11. September wäre gewesen, die Bilder eben nicht hypnotisch zu wiederholen, um die Emotion aufzuputschen, sondern im Gegenteil, die Bilder als das Verworfene zu erkennen, das in die Realität zurückkehrte. Sich der Wiederholung zu entziehen und aus Scham die Bilder der einstürzenden Twin Towers nicht immer wieder zwanghaft zu zeigen, wäre Medienpolitik gewesen, die sich nicht dem schamlosen Profitdenken beugt. Politik existiert nur, solange sie dazu taugt, ein Bild zu sein.
Auch an den politischen Bildern entzündet sich die Dialektik des Begehrens, bildet sich die Morphologie des Voyeurismus und Exhibitionismus, Sadismus und Masochismus aus. Auch die Erotisierung der Politik invadiert neue Zonen der Angst und der Identifikation mit der Macht, deren Ergebnisse ungewiss sind. Die Actionthriller und Katastrophenfilme liefern die Bilder jenes psychischen Thrills, liefern jene Bilder, denen sich das Wirkliche als Abbild unterwirft.
In einem Exkurs über das Fotografieren beschreibt Anders die "Phantomproduktion in Rundfunk und Fernsehen", deren Ergebnis es ist, "daß das Wirkliche zum Abbild seiner Bilder wird". In der Medienwelt gilt: "Jedes ist nur, weil es Bild ist. ,Sein' bedeutet also: Gewesensein und Reproduziertsein und Bildsein und Eigentum sein." In der Medienwelt ist also "Sein gleich Reproduziertsein. Die Phantome sind nicht nur Matrizen der Welterfahrung, sondern der Welt selbst. Das Wirkliche als Reproduktion seiner
Reproduktionen." Anders beschreibt also, wie die Herrschaft des Visuellen, die gesendete Welt, wie die Herrschaft der elektromagnetischen Wellen die Welt in eine Phantomwelt verwandelt hat, wie das Wirkliche phantomhafte Züge erhält. Visualität und Repräsentation müssen neu überdacht werden. Im Spiel zwischen Sichtbarmachung als Phantom und Phantomisierung des Sichtbaren sind neue Definitionen der Gleichung zwischen Visibilität und Invisibilität notwendig geworden. Mit der technischen Bedingung der postmodernen Welt, variablen Zonen der Visibilität ausgesetzt zu sein, fällt das panoptische Prinzip, dessen verborgenes Axiom lautete: Totale Sichtbarkeit garantiert totale Sicherheit.
1777 wurde eine ganze Epoche von John Howards Berichten "The State of Prisons in England and Wales, with an Account of some Foreign Prisons" aufgeschreckt. Der Philanthrop Howard (1726 bis 1790) gilt als Vater der Gefängnisreform. 1773 wurde er High Sheriff von Bedford und damit verantwortlich für das Landesgefängnis. Er reiste drei Jahre nicht nur durch England, sondern durch ganz Europa, um die Gefängnisse zu besichtigen, und entdeckte, dass diese dunkel, luftlos waren und den sanitären Mindestanforderungen nicht entsprachen. Typhus und Pocken rafften die Gefangenen dahin. Der Maler George Romney (1743 bis 1802) wurde von Howards Bericht zu einer Reihe von Zeichnungen inspiriert, die das Inferno der damaligen Verwahrung in Gefängnissen bewegend zeigte.
Jeremy Bentham wollte die Howards Forderungen und Vorstellungen entsprechende ideale Gefängnisarchitektur bauen: Den Gefangenen sollten saubere Räume zur Verfügung stehen sowie Kleidung und Bettwäsche. Die Gefangenen sollten getrennt werden nach Geschlecht, Alter und Schwere des Verbrechens. Eine grundlegende Gesundheitsversorgung sollte gewährleistet werden. Die Gefängnisse sollten nicht länger privat, sondern vom Staat betrieben werden. Bentham war jedoch nicht allein daran interessiert, die sanitären Zustände der Gefängnisse zu bessern. Als Aufklärer und Utilitarist, der das Maximum an Glück für ein Maximum an Menschen in seiner Philo-sophie anstrebte, kon-zipierte er ein ideales
Gefängnis, das auf der Annahme beruhte, dass Transparenz und Sichtbarkeit delinquentes Ver- halten verhindern. So entwarf er ein Gefängnis in Form eines halbrunden Kreises mit offenen Wänden, in dessen Mittelpunkt der Wächter sich befand. In die zum Wohle der Insassen von Licht und Luft durchfluteten Räumen konnte der Wärter stets Einsicht nehmen. Die Gefangenen hingegen wussten nie, wann und ob der Wächter sie beobachtet, da er sich hinter einem Jalousiensystem verbarg. Sie mussten daher annehmen, dass sie immer beobachtet würden und dass immer alles sichtbar sei, was sie taten. All ihre Handlungen würden unter dem Regime einer allumfassenden und steten Visibilität stehen. Bentham ging als Rationalist davon aus, dass die Sträflinge nicht so dumm sein würden, bei Tageslicht vor den Augen des Wärters ein Verbrechen zu begehen. Die Sichtbarkeit würde sie also daran hindern, straffällig zu werden. Im Laufe der Jahre würden die Gefangenen das panoptische Prinzip - das Gefühl, stets gesehen zu werden und nicht zu wissen, wann man nicht gesehen wird - verinnerlicht haben.
Wenn wir heute eine Radaranlage passieren, wissen wir nicht, ob sie real oder eine Attrappe ist, und verhalten uns gerade deshalb gesetzeskonform. Alle Verkehrsteilnehmer haben das panoptische Prinzip Benthams internalisiert. Sicherheitsmaßnahmen wie diejenigen auf Flughäfen, die ans Licht der strahlenden Bildschirme zerren, was in Taschen verborgen ist, zielen also darauf ab, das Maß der Sichtbarkeit zu erhöhen und das Regime der Visibilität unendlich auszudehnen. "Infinite visibility", nicht "Infinite justice" könnte daher der Titel jener globalen Operationen sein, mit denen die Staaten versuchen, sich vor illegalen Aktivitäten zu schützen.
Je mehr der Staat versucht, seine Bürger zu gläsernen Menschen und die Gemeinschaft zu einer gläsernen Gesellschaft
zu machen, umso mehr nimmt das Unsichtbare und damit das Unsichere zu. Je mehr Sichtbarkeit gefordert und produziert wird, umso mehr nimmt diese Sicherheit in Wirklichkeit ab. Die Diaphanität der sozialen Vorgänge ist wie die
der Bilder längst variabel und steuerbar geworden. Ebenso ist Visibilität selbst eine variable Zone. Gerade eine Gesellschaft, die aus ideologischen Gründen sich weigert, bestimmte Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen, die Minderheiten exkludiert und legitime Anliegen aus Eigeninteresse verwirft, unterliegt dieser neuen Logik der Visibilität, wie sie Jacques Lacan formulierte, umso mehr. Was in der symbolischen Ordnung verworfen und verweigert wird, erscheint wieder in der Realität. Die Gespenster, Geister und Phantome suchen die Welt heim.
Diese Variabilität der visuellen Zonen und die zunehmende Diaphanität zeigen sich auch im Bereich der Unterhaltung, im Radio, im Film und im Fernsehen. Die Gesellschaft des Spektakels hat in den sogenannten Reality-Shows und in nachmittäglichen Talk-Shows, in denen Menschen ihre intimsten Regungen preisgeben, ihren finalen Punkt erreicht. Das panoptische Prinzip, das George Orwell noch als Summe seiner politischen Erfahrungen mit den totalitären Systemen des Nationalsozialismus und Stalinismus als Bedrohung empfand und 1949 in seinem Roman "1984" als "big brother" beschrieb, als alles überwachendes autoritäres System, sank ab in die Unterhaltungsindustrie. Dort aber wird das panoptische Prinzip nicht als Bedrohung empfunden und nicht als Bestrafung, sondern als Belustigung und Befreiung.
Für den Wandel der Rezeption des panoptischen Prinzips können zwei Erklärungsmodelle angeboten werden. Das psychologische verweist auf die Herausbildung neuer Formen des Voyeurismus und Exhibitionismus unter den neuen Bedingungen des Blicks im technischen Zeitalter. Laura Mulvey stellte in ihrem einflussreichen Essay "Visual Pleasure and Narrative Cinema" (1975) fest, dass der Film als ein Instrument des männlichen Blicks konstruiert wird, der Bilder von Frauen von einer männlichen Perspektive aus entwirft. Im Mainstream-Kino ist der Mann das Subjekt des Blicks und die Frau das Objekt, das gesehen wird. Der männliche Blick kontrolliert, erfreut sich also nicht nur der Dominanz und des Vergnügens der Macht bis hin zum Sadismus, sondern auch der infantilen "scopophilia", der Freude, die Körper anderer Menschen als (erotische) Objekte zu betrachten. Die Frau wird zum Image, zum Spektakel. Männer sehen, Frauen werden angesehen.
Im Kino wiederholt sich die Situation des Wärters im panoptischen Gefängnis. In der Dunkelheit des Auditoriums wird der Betrachter weder von den Figuren auf der Leinwand noch von den Mitgliedern des Publikums gesehen, während er hingegen die Personen auf der Leinwand sieht. Diese Situation des panoptischen Gefängnisses gilt auch für die Zuschauerschaft der Reality-Shows wie "Big Brother". Eine Gruppe von Leuten wohnt in Containern und wird von einer Menge von Kameras beobachtet. Der Zuschauer vor dem Bildschirm sieht alles. Die Bewohner des Containers sehen nichts. Exhibitionismus und Voyeurismus ergänzen einander, ebenso der Sadismus der Kontrolle und der Masochismus des Kontrolliertwerdens. Darüber hinaus wird die Bildung narzisstischer Prozesse der Identifikation mit der Macht oder einem idealen Ich erleichtert, ebenso der voyeuristische Prozess der Verwandlung eines blickenden Subjekts zu einem dem Blick unterworfenen Objekt. Der Blick eines Fernsehzuschauers wird zum Kontrollblick der Macht. Der Fernseh-zuschauer ähnelt dem Wärter im panoptischen Gefängnis. Die Menschen in den Reality-TV-Shows werden zu Bildern, zu Spektakeln, überwacht und kontrolliert.
Diese Formation neuer skopophilischer und anderer Vergnügen der Überwachung haben auch eine soziale Bedeutung, die uns das zweite Erklärungsmodell liefert. Die Herausbildung neuer Formen des Begehrens und des Blicks dient der Anpassung an künftige soziale Verhältnisse. Die Überwachung zu genießen bedeutet, die fortschreitende Militarisierung der Wahrnehmung und die fortschreitende Aufrüstung der Gesellschaft zu genießen. Wenn die Gesellschaft die Visualität militärisch und apparativ aufrüstet, wenn also nicht nur die Erfahrung der Welt immer mehr über die mediale Apparatur von Film bis Fernsehen läuft, sondern zusätzlich die alltägliche Welt durch Überwachungskameras allenthalben und immer mehr mediatisiert wird, dann entsteht die Gefahr, dass die Bürger in diesem zunehmenden Druck von Überwachung und Kontrolle ein Unbehagen verspüren und eventuell beginnen, gegen diese Kontrollsysteme zu protestieren, demonstrieren und gar zu revoltieren. Um diese Revolte der Bürger gegen den künftigen Überwachungsstaat zu vermeiden, werden die Bürger über die Unterhaltungsmedien an die zunehmende Repression gewöhnt und angepasst, wie es schon stets die Funktion der Unterhaltungsindustrie in totalitären Systemen war. Sie werden freiwillige Opfer der Überwachung in den Containern der tausend Augen des Doktor Mabuse, freiwillige Opfer der totalen Kontrolle. In diesen neuen Zonen einer armierten, apparativ aufgerüsteten Visibilität wird Überwachung nicht als Bedrohung oder Strafe empfunden, wie Foucault dies für die Disziplinar-gesellschaft noch beschrieb, sondern - endlich angekommen in der Gesellschaft des Spektakels - enthusiastisch genossen. Überwachung wandelt sich von der Bestrafung zum Genuss. [*]