Ganz locker ins Blaue

Wie wird man und ab wann ist man ein Österreicher? Ich kam 1957 von Polen nach Wien; seit 1958 bin ich österreichischer Staatsbürger. Anders gefragt: Darf ein "Zugereister", ein naturalisierter österreichischer Staatsbürger sich als Österreicher bezeichnen, oder wird man ihm bis zum Ende sei-nes Lebens vorwerfen, er wäre in diesem Land ein Fremder? In den USA wird man Amerikaner, indem man
die Staatsbürgerschaft verliehen bekommt. Henry Kissinger kam als 16jähriger nach Amerika, wurde Amerikaner und stieg zur dritthöchsten Position in der amerikanischen Administration auf. Die Zahl dieser Beispiele ist endlos.

Wie anders ist da Österreich! Mit Erstaunen mußte ich feststellen, wie manche Leser und Leserinnen auf meinen Artikel "Moik statt Menasse" im "Spectrum" vom 27. Oktober reagierten. Sie fanden es nicht wert, über meine Argumente zu sprechen, sondern riefen einfach: "Kusch!" Das ist eine bewährte Methode, mit dem Fremden umzugehen. Sie sprachen mir einfach mein Österreichersein ab, und das nur deswegen, weil ich, wie ich meine, es gewagt hatte, ihnen einen Spiegel vorzuhalten. War das, was sie darin sahen, wirklich so erschreckend, daß sie mich zum Teufel jagen wollen?

F. G. aus Gloggnitz fordert mich auf, das Land unverzüglich zu verlassen. Es lebten andere schon viel länger hier, meint er, und ich als Zugereister hätte kein Recht, Österreich in irgendwelcher Art zu kritisieren, denn das
dürfe nur ein richtiger Österreicher. Wer aber gilt als "richtiger" Österreicher? War Hitler einer? Und bin ich keiner? Ich habe, zum Beispiel, dieser Republik jahrzehntelang Steuern bezahlt, ohne dabei vom Staat irgendeine Hilfeleistung zu beanspruchen. Berechtigt mich - unter anderem - das nicht, mich als Österreicher zu bezeichnen? Meine Frau, wie ich eine Zugereiste, hat 40 Jahre an der Universität Wien unterrichtet. Ist es uns trotzdem verwehrt, Österreich als unsere Heimat anzusehen und zu lieben? Weshalb spricht mir F. G. aus Gloggnitz das Recht darauf ab, ein österreichischer Patriot zu sein? Mit welchem Recht verlangt er, daß ich alles, was rund um mich in Österreich geschieht, ausnahmslos als paradiesisch bezeichne? Er will die Menschen in zwei Gruppen einteilen, in "Gute" und "Letztklassige", wobei er sich selbst natürlich den Guten zuzählt und mich den Letztklassigen. Genau eine solche Position ist aber das Antieuropäische, das Provinzielle, Anmaßende, das ich in meinem Artikel angeprangert habe.

Es ist auch höchst provinziell, sich hinter der Anonymität zu verstecken. Es ist darüber hinaus feige, wenn man

"Kusch!" Das ist hierzulande eine bewährte Methode, mit dem Fremden umzugehen.

dann auch noch Verdächtigungen anstellt, wie es ein anderer Briefschreiber, B. T. aus Hollabrunn, tut: "Gerade in Polen waren die Vertreiber, Plünderer, Mörder und Vergewaltiger besonders fleißig. Es wäre nicht uninteressant zu erfahren, was A. Z. getan hat, um diesen barbarischen Blutrausch im Sinne von Wahrheit, Menschlichkeit und Solidarität zu bekämpfen. Oder hat er vielleicht gar mitgetan beim Morden, Plündern und Vergewaltigen?"

Bei Kriegsende war ich nicht einmal 16 Jahre alt, und nach dem Krieg habe ich tatsächlich gekämpft, nämlich gegen die Tbc und ums Überleben; während des Krieges sind 81 Mitglieder meiner Familie umgebracht worden. Und da fragt einer ganz locker ins Blaue, ob ich nicht an Plünderungen und Vergewaltigungen, an Morden und Vertreibungen teilgenommen ha- be - nur weil ich es wage, mit dem Finger auf Negatives zu zeigen.

Ich habe genauso wie die mich angreifenden anonymen Briefschreiber das Recht, Österreich zu lieben! Wenn diese mir das absprechen, dann ist ihre Sprache keine europäische Sprache. Das ist eine Sprache von gestern, eine Sprache, die Europa entstellt. Wenn diese aus dem Hinterhalt agierenden Schreibtischtäter obsiegen, dann wird Europa niemals Europa werden, dann bleibt auch meine österreichische Heimat provinziell.

Man glaubt mir nicht? Im ORF-Teletext war am 9. November auf Seite 118 zu lesen: "Jeder zweite Österreicher ist fremdenfeindlich. 22 Prozent zeigen eine hohe, 26 Prozent sogar eine sehr hohe Fremdenfeindlichkeit. Das ergab eine Studie der Universität Innsbruck. 2000 Österreicher im Alter zwischen 15 und 75 Jahren wurden befragt. Damit einher geht auch ein starker Hang zum Rechtsextremismus: Zehn Prozent der Befragten seien als Rechtsextreme einzustufen, so der Studienleiter Günther Rathner."

Es gibt aber auch eine andere Form der Auseinandersetzung als anonyme Attacken. Hubert Feichtlbauer, einer der Großen des österreichischen Journalismus, erkannte in seiner Antwort auf meinen Beitrag ("Spectrum" vom 3. November), daß ich meinen Arti-kel aus Sorge um und Liebe zu Österreich geschrieben hatte. Nur eines, lieber Hubert Feichtlbauer: Sie fordern mich auf, Geduld zu zeigen - Geduld, nach einem halben Jahrhundert? Geduld ist ein dehnbarer Begriff, aber irgendwann hat man ein Recht darauf, auf die Vernunft nicht nur zu hoffen, sondern auch zu verlangen, daß etwas dafür getan wird. Daher trete ich so vehement gegen jedweden Provinzialismus auf, wozu ich Fremdenhaß, Größenwahn und ewiggestriges Denken zähle. [*]

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