Die EU-Verfassung und die Todesstrafe

Der vorliegende EU-Verfassungsentwurf, die Kleinigkeit von 482 Seiten stark, wird die Franzosen ebenso begeistern wie die anderen Europäer – nämlich gar nicht.

Die deutsche Ratspräsidentschaft, so lesen wir seit Wochen, bemüht sich, die festgefahrenen Verhandlungen über einen europäischen Verfassungsvertrag wieder flott zu machen. Nach der Wahl von Sarkozy in Frankreich hofft Frau Merkel auf eine neue Dynamik. Na wunderbar! Der vorliegende Entwurf, die Kleinigkeit von 482 Seiten stark, wird die Franzosen sicher ebenso begeistern wie die anderen Europäer – nämlich gar nicht.

Wer sich mit diesem Verfassungsvertrag nur ironisch auseinander setzt, geht das Risiko ein, als Euro-Skeptiker angesehen zu werden. Deshalb ein Bekenntnis vorweg: ich habe mich seit fast 40 Jahren für Europa engagiert, werde dies auch weiterhin tun, auch wenn der Wasserkopf in Brüssel alles andere ist, was wir Jungen uns damals vorgestellt haben.

Denn der seit zwei Jahren vorliegende Verfassungsentwurf ist ein bürokratischer Moloch, unlesbar und sich oft genug widersprechend, so dass er eigentlich nicht ernst zu nehmen ist. Oder aber – was noch schlimmer ist – von jedem so ausgelegt werden kann, wie es ihm gerade passt. Wohlgemerkt, ich meine den offiziellen Verfassungstext, überschrieben mit den Worten „Vertrag über eine Verfassung für Europa“, der am 29. Oktober 2004 in Rom von 25 Staats- und Regierungschefs, also auch von Österreich, unterzeichnet worden ist.

Widersinn des Entwurfes

Ein Beispiel für den Widersinn dieses Entwurfes mag genügen: die Aussage zur Todesstrafe. Sehen wir uns in der „Schlussakte“ die „Erklärungen zu Bestimmungen der Verfassung“ an, so finden wir unter „Titel 1“, der die „Würde des Menschen“ beschreibt, den Artikel 2/2, der da lautet: „Niemand darf zur Todesstrafe verurteilt oder hingerichtet werden.“ Was dieser so scheinbar klare Wortlaut bedeutet, sagt uns jedoch die beigefügte Erläuterung zu Artikel 2: „Ein Staat kann in seinem Recht die Todesstrafe vorsehen“. Eingeschränkt wird dieser Persilschein für die Todesstrafe mit dem Hinweis auf Kriegszeiten oder einer unmittelbaren Kriegsgefahr und dem, wiederum jegliche Auslegung ermöglichenden Hinweis auf „einen Aufruhr oder Aufstand rechtmäßig niederzuschlagen“.

Erinnern wir uns: vor wenigen Wochen erst wurde anlässlich einer Gedenkrede die Verstrickung des ehemaligen Ministerpräsidenten Filbinger am Ende des Dritten Reiches breit diskutiert, wurden die von ihm unterzeichneten Todesurteile als unmenschlich gebrandmarkt. Wie aber wären diese Todesurteile zu sehen, wenn man den Verfassungstext der EU zugrunde legt?

Die Ablehnung der Todesstrafe als inhuman gilt als europäischer Konsens, entspricht dem, was im Artikel 1-2 des in Artikel 1 als „Verfassung“ bezeichneten Entwurfes festgehalten ist: Menschenwürde, Wahrung der Menschrechte usw. Man darf davon ausgehen, dass die Staats- und Regierungschef, die den Verfassungsentwurf unterzeichnet haben, die sich aber alle zweifelsfrei gegen die Todesstrafe aussprechen, den Vertrag nicht gelesen haben.

Zu faul für ein dickes Buch

Mich erinnert das ganze Procedere daran, dass Tito 1974 den Jugoslawen eine neue Verfassung oktroyiert hat, wohl wissend, dass einiges darin keineswegs die Zustimmung aller Abgeordneten finden würde. Weshalb er das ganze als ein dickes Buch vorgelegt hat, ausgehend davon, dass die Genossen viel zu faul sein würden, das alles zu lesen. Haben wir in der Europäischen Union jetzt schon balkanische Verhältnisse?

Detlev Kleinert war von 1991 bis

1996 Südosteuropa-Korrespondent

der ARD in Wien.


meinung@diepresse.com("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.05.2007)

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