Chasaren-Reich: Das jüdische Atlantis

Längst versunken, fasziniert das asiatische Chasaren-Reich heute mehr denn je: Wissenschaftler, Schriftsteller – vor allem aber Neonazis und Gegner Israels.

Es sei einer der bizarrsten Aspekte eines wiedererstarkenden rassistischen Antisemitismus, schrieb der israelische Historiker Stephen Plaut in einem Artikel „The Khazar Myth and the New Anti-Semitism“ (Jewish Press, 9. 5.). Auf fast 30.000 Internetseiten würde die „Chasaren-Theorie“ als Waffe benutzt, um das Existenzrecht Israels zu bestreiten; und in letzter Zeit würde dieser Mythos auch unter linken Antizionisten immer beliebter.

Er wurde in den Siebzigerjahren populär, heute hat er Hochkonjunktur, gerade bei Israels Nachbarn. Demnach seien die meisten ashkenasischen Juden aus Mittel- und Osteuropa keine Nachfahren der biblischen Israeliten und keine Semiten. Sie stammten von den Chasaren ab, einem zentralasiatischen Turkvolk, das im 8. oder 9. Jahrhundert zum jüdischen Glauben konvertierte. Damit hätten die Juden, gerade die aus Europa stammenden Vorkämpfer des Zionismus, keinerlei Anspruch auf das „Gelobte Land“, folgern die Anhänger dieser Theorie.

Ausgerechnet ein überzeugter Zionist hat die „Chasaren-Theorie“ groß gemacht (freilich ohne die Folgen abzusehen): der politische Intellektuelle und Schriftsteller Arthur Koestler (1905–1983). Berühmt wurde dieser ideologisch irrlichternde Brite ungarischer Herkunft durch seinen mit dem Stalinismus abrechnenden Roman „Darkness At Noon“ (Sonnenfinsternis“, 1940) über die Moskauer Schauprozesse. 1946 erschien sein Kibbutz-Roman „Thiefes In The Night“ („Diebe in der Nacht“) über den Kampf der Juden um einen eigenen Staat. Genau 30 Jahre später erregte er nochmals die Weltaufmerksamkeit: mit seinem populärwissenschaftlichen Buch „The Thirteenth Tribe“ („Der dreizehnte Stamm“).

Koestler erzählte darin die Geschichte des Chasaren-Staats. Über ihn gibt es viele Legenden, wenige Gewissheiten. Sicher ist, dass dieses zunächst nomadische Volk im 7.  Jh. im nördlichen Kaukasus ein Reich bildeten, das im 8. Jh. seine Blütezeit hatte und Ende des 10. Jh. von der Rus (einem Herrschaftsverband mit Zentrum in Kiew) entmachtet wurde. Sie hinderten die Araber an der Eroberung Osteuropas, der Hl. Cyrill verwendete einige ihre Buchstaben für sein kyrillisches Alphabet. Aus ihrer Sprache ist kein einziger vollständiger Satz erhalten.

Chasaren als Vorläufer der Ostjuden?

Koestler interessierte aber mehr, was nach Ende des Reichs geschah. Die Überlebenden seien nach Westen geflohen, behauptete er, und hätten später die großen ostjüdischen Gemeinden gegründet. Die Idee hatten vor ihm schon Historiker vertreten (wie der Österreicher Hugo von Kutschera, 1849–1909); Koestler machte sie weltweit populär. Bis heute beruft man sich auf ihn.

Wissenschaftler kritisierten seine (u. a. linguistischen) Argumente schon damals als unseriös, mittlerweile ist seine Theorie auch durch die Genetik widerlegt. Die hat gezeigt, dass in der männlichen Linie der Ashkenasim nahöstliche Elemente dominieren. Neue Erkenntnisse zur weiblichen Linie präsentierte 2006 ein Team um den israelischen Genetiker Doron Behar (American Journal of Genetics, 78, S. 487): Demnach stammen 40 Prozent der heutigen Ashkenasim von nur vier „Urmüttern“ ab. Und zumindest eine dieser vier habe genetische Verbindungen zu heutigen Ägyptern, Arabern und Bewohnern des östlichen Mittelmeerraumes.

So viele europäische Juden könnten nicht von den wenigen dort lebenden Juden des Frühmittelalters abstammen, hatte auch Koestler argumentiert. Die Forschung zeigt: Die Ashkenasim sind genetisch so homogen Gruppe, dass sie von einer sehr kleinen Ursprungspopulation abstammen müssen.

Verschollene Hauptstadt

Die „Chasaren-Theorie“ ist also längst in den Bereich der Legende verwiesen, die Wissenschaft beschäftigen heute andere andere Fragen, zum Beispiel: Nahm nur die Oberschicht der Chasaren den jüdischen Glauben an, wie man früher glaubte, oder ein Großteil der Bevölkerung? Ausgrabungen der letzten Jahre belegen eine allgemeine Abkehr vom Schamanismus hin zum Judentum. Wie entwickelt war ihre Kultur? Die gefundenen Tongefäße und Kunstgegenstände  deuten darauf hin, dass die Chasaren nicht nur Mittelsmänner im Handelsverkehr waren, sondern selbst Güter dafür produzierten. Und wo genau lag ihre letzte Hauptstadt, Itil (heute nahe der russischen Großstadt Astrachan)? Seit Jahrzehnte suchen Archäologen nach Überresten (ein russischer Archäologe glaubt, sie in der Region des Wolga-Deltas gefunden zu haben). Eine andere Vermutung: Itil sei durch den ansteigenden Meeresspiegel schlicht versunken. Das würde auch gut passen für die Hauptstadt eines Reichs, das vielen als „jüdisches Atlantis“ gilt.

LEXIKON: Einige Bücher

Über die Konvertierung der Chasaren berichtet im Mittelalter der spanische Dichter und Philosoph Judah Ha-Levi.

Das heutige Standardwerk zur Geschichte der Chasaren, „The Jews of Khazaria“ v. Kevin Alan Brook (1999) erschien 2006 in aktualisierter Neuauflage. Siehe auch www.khazaria.com.

Pulitzer-Preisträger Michael Chabon veröffentlichte in der New York Times (Jänner bis Mai 2007) eine 15-teilige Abenteuergeschichte „The Jews of Khazaria“, die im Herbst als Buch erscheint. Und Milorad Pavic spielt mit den Legenden in seinem postmodernen Lexikon-Roman „Das Chasarische Wörterbuch“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.05.2007)

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