Vielleicht wäre eine große Staatsreform entlang der angedeuteten Linien als wirklich großes Projekt zielführender, ganz gleich, ob das als „3.Republik“ etikettiert wird oder nicht.
Fritz Molden, mutiger Widerstandskämpfer und engagierter Wegbereiter der 2.Republik seit 1945, hat kürzlich in einem Vortrag eine „3.Republik“ gefordert. Gemeint war angesichts der offensichtlichen Freudlosigkeit von SP und VP mit und in der durch die Mandatsverhältnisse im Nationalrat alternativlosen großen Koalition und der laufenden Querelen insbesondere die Forderung nach einem mehrheitsbildenden Wahlrecht.
Schon vor über 20 Jahren initiierten Josef Krainer, Bernd Schilcher und Co. unter dem Eindruck des damals weit verbreiteten Unbehagens über die kleine VP/FP-(Sinowatz-Steger)-Koalition (kaum wer erinnert sich noch an diese Episode) eine grundlegende Staatsreformdiskussion unter der Chiffre „3. Republik“. Als sich Jörg Haider dieses Begriffs bemächtigte, wurde sie (fatalerweise?) als politisch inkorrekt tabuisiert und ad acta gelegt.
Dass aber drängender Reformbedarf besteht, unterstrich nicht zuletzt die Einberufung des Österreich-Konvents 2003, der dann aus Partei- und Partikularinteressen blockiert wurde. Im Arbeitsübereinkommen der großen Koalition wurde nun vereinbart, dass bis 30.Juni eine Verfassungsreform ausverhandelt werden soll. Und es sieht so aus, als ob durch die Vorarbeiten vor allem von Andreas Khol und Franz Fiedler tatsächlich ein konstruktives Ergebnis erzielt und formal die größte Verfassungsreform seit Jahrzehnten auf die Wege gebracht werden könnte. Allein: Es wird zu wenig sein, es zeichnet sich weder bei der Aufgabenverteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden und ihrem Zusammenwirken in der Gesetzgebung und Vollziehung noch beim Wahlrecht ein großer Wurf ab.
Baustellen österreichischer Politik
Dabei haben nahezu alle Baustellen der österreichischen Politik mit diesem Kompetenzwirrwarr zu tun: Neun unterschiedliche Jugendschutzgesetze, geteilte und partiell auch doppelgleisige Zuständigkeiten bei Schulen, Kindergärten, Pflege, Sozialhilfe, Gesundheitswesen usw. Diese Zersplitterung mit der Schnittstellenproblematik macht unseren Föderalismus teuer und ineffizient. Der Theorie nach aber sollte es ganz anders sein. Denn – wie der heutige Vorsitzende des Staatsschuldenausschusses, IHS-Chef Bernhard Felderer, schon vor Jahren festgestellt hat – wenn ein „effizientes Optimum“ bei der Aufgabenverteilung erreicht wird, „müsste das föderale System effizienter sein, weil es bürgernäher ist“.
Dezentralisierung ist daher ein internationaler Trend. Dass Österreich nicht zu klein für neun Bundesländer, sondern dass der Föderalismus hierzulande „nur“ falsch organisiert ist, zeigt das Beispiel Schweiz: Dieser wohl unbestritten wohlhabende Bundesstaat hat 26 Kantone mit sauberer Aufgabenteilung, weshalb auch die Abgaben- und Bürokratiequote wesentlich geringer ausfällt.
Schrebergartenmentalität
Aufgaben- und Ausgabenverantwortung gehören in eine Hand. Es geht nicht an, dass die eine Gebietskörperschaft anschafft und die andere zahlen muss. Schrebergartenmentalität und ängstliches Besitzstanddenken müssen überwunden, ein Masterplan zur Demokratie-, Kompetenz- und Institutionenreform sollte entwickelt werden. Dazu zählen u. a.:
•Die Festlegung des Kompetenzkatalogs. In diesem Zusammenhang ist auch die ernste Frage zu stellen, ob die ohnehin sehr reduzierte Gesetzgebungskompetenz der Landtage nicht spätestens seit dem EU-Beitritt anachronistisch und obsolet geworden ist. Sollten nicht auf Bundesebene die Mindeststandards in allen Bereichen beschlossen werden und die bürgernahen Länder und Gemeinden konkret mit einem gewissen Gestaltungsspielraum vollziehen können. Das sollte nicht als ein Plädoyer zur Abschaffung der Landtage und zur noch stärkeren Zentralisierung – Österreich ist nach allen Studien ohnehin der meist zentralisierte Bundesstaat der Welt – missverstanden werden. Im Gegenteil: Landtage sollten wichtige Foren des politischen Diskurses und Meinungsbildung und regionalpolitische Lobbys sein sowie die Landesregierungen und ihre Vollzugsakten streng kontrollieren.
Statt auf eigene Gesetzgebungskompetenzen zu beharren, sollten die Länder im Verein mit den Gemeinden danach streben, an der oft praxisfernen Bundesgesetzgebung, die oft nur neue Bürokratien und Kostenüberwälzungen bringt, wirksam mitzugestalten. Die verfassungsrechtliche Stellung und vor allem die politische Praxis des Bundesrates, wonach in dieser so genannten Länderkammer nicht nach den Vorstellungen der einzelnen Länder, sondern nach Anordnungen der Bundesparteien abgestimmt wird, ist eine Karikatur der Ländermitwirkung an der Bundesgesetzgebung. Auch hier könnte den Landtagen ein neues Betätigungsfeld zuwachsen: In der Artikulierung und Umsetzung der Länderwünsche – etwa durch eine Neuzusammensetzung des Bundesrates eventuell unter Einbeziehung der LH-Konferenz oder durch Auftragserteilungen an den Bundesräte.
Die Mitgliederzahlen in National- und Bundesrat sowie in Landesregierungen und Landtagen wäre ebenfalls zu evaluieren.
•Ein durchschaubares Steuer- und Finanzausgleichssystem. Letzteres ist gegenwärtig eine Geheimwissenschaft, wobei bewusst sein muss, dass der Bund jetzt über rund 70 Prozent der öffentlichen Finanzmasse verfügt und sich der Rest auf Länder und Gemeinden aufteilt. Wenn Länder und Gemeinden also neue Aufgaben übernehmen sollen, brauchen sie auch Geld, wobei sie sich nicht scheuen sollten, auch Steuerverantwortung zu übernehmen. Für einen Teil der in Österreich eingehobenen Steuern und deren Höhe sollten Länder und Gemeinden gemeinsam die Verantwortung übernehmen, und es könnte darüber hinaus auch unterschiedliche Zuschläge geben. Ein Finanzausgleich wäre nach transparenten Kriterien wie etwa Einwohnerzahl, Fläche, Topografie (in manchen Ländern braucht man schlicht mehr „Zwergschulen“, Mini-Kinderbetreuungseinrichtungen oder Wege) und überregionale Aufgaben (z. B. Uni-Kliniken, Kultureinrichtungen) zu gestalten.
Weltfremde Brüsseler Bürokraten?
•Mitbestimmung in der EU. Ein nicht unbeträchtlicher Teil des diffusen Unbehagens an Politik rührt von der als völlig unzureichend wahrgenommenen Informations- und Partizipationsmöglichkeit an der EU-Politik. Viele wichtige Entscheidungen werden in EU-Ministerräten unter Mitbestimmung österreichischer Regierungsmitglieder getroffen, manche auch im Europäischen Parlament. Aber es besteht de facto keine europäische Öffentlichkeit in Österreich, einzig das Schimpfen auf die weltfremden Brüsseler Bürokraten, die angeblich schon wieder irgendeine Wahnsinnsentscheidung getroffen haben (an der österreichische Politiker selbst mitwirkten), funktioniert gut. Europatage im Nationalrat, an denen weder die österreichischen Europaparlamentarier noch Kommissare aktiv teilnehmen dürfen, sind nicht einmal ein Feigenblatt, sondern kontraproduktiv. Nationalrat, Bundesrat (in welcher Form auch immer er besteht) und Landtage hätten aufgrund der Tatsache, dass die EU 70 Prozent unserer Rechtssetzung vornimmt (so der frühere deutsche Bundes- und Verfassungsgerichtshofpräsident Roman Herzog), im Zusammenwirken mit der heimischen Exekutive, den Europarlamentariern und den EU-Institutionen eine eminent bedeutsame Aufgabe in der Willensbildung und Transmission wahrzunehmen.
Neues Wahlrecht beschließen
•Ein persönlichkeitsförderndes und mehrheitsbildendes Wahlrecht (mit – der gewachsenen politischen Kultur Österreichs entsprechend – „Minderheitenschutz“) etwa nach einer der vom Grazer Verfassungsrechtler Klaus Poier ausgearbeiteten Varianten ist dringlich, wie die letzte Regierungsbildung dramatisch vor Augen führte. Ernst zu nehmende Kommentatoren schlugen vor, die große Koalition sollte ein solches Wahlrecht beschließen und dann sofort den Weg zu einer neuen Konstellation freigeben. Vielleicht wäre eine große Staatsreform entlang der angedeuteten Linien als wirklich großes Projekt zielführender, ganz gleich, ob das als „3.Republik“ etikettiert wird oder nicht.
Prof. Herwig Hösele war Präsident des Bundesrates (ÖVP) und ist Beamter im Land Steiermark. Er war außerdem Mitglied des Österreich-Konvents.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.05.2007)