Henry Kissinger, der große alte Mann der Weltpolitik, über den „Massenauflauf“ beim G8-Gipfel, den Aufstieg Chinas, die Gefahren eines Truppenabzugs aus dem Irak und die außenpolitische Forschheit der USA.
Die Presse: Am Mittwoch steigt der G8-Gipfel in Heiligendamm. Spiegelt dieser Klub noch die Realität des 21. Jahrhunderts wider?
Kissinger: Früher oder später sollten China und auch Indien aufgenommen werden.
Was bleibt bei solchen Mega-Events übrig außer Show?
Kissinger: Ich habe das zweite Treffen dieser Art organisiert, 1976 in Puerto Rico. Damals saß jedes teilnehmende Land mit jeweils drei Personen am Tisch: Regierungschef, Finanzminister und Außenminister. Und vielleicht saßen noch zwei Leute hinter ihnen. Heute ist das ja zu einem Massenauflauf geworden. In den ersten Treffen präsentierten die Regierungschefs noch selbst Papiere. Jetzt ist die meiste Arbeit schon vor dem Gipfeltreffen getan.
Sind diese Art von Gipfeltreffen überhaupt noch zielführend?
Kissinger: In einem anderen Sinn als früher. Ursprünglich waren die Treffen darauf ausgerichtet, dass Regierungschefs Strategien für die wirtschaftliche Krise der 70er-Jahre entwickeln. Jetzt sind die Meetings dazu da, wichtige Themen zu identifizieren und Diskussionen darüber anzustoßen.
Sie sprachen von Indien und China. Die Geschichte zeigt, dass aufstrebende Staaten zumeist für Unruhe sorgen, weil sie ihre Macht auch militärisch projizieren.
Kissinger: Es gibt zwei Probleme, wenn Großmächte aufsteigen: Erstens ist es unvermeidlich, dass sie ihre Macht projizieren. Und zweitens müssen sich bestehende Großmächte, die an ihre Dominanz gewöhnt sind, an die neuen Bedingungen anpassen. Beide Tendenzen werden zu beobachten sein, wenn sich der Schwerpunkt vom Atlantik zum Pazifik verschiebt.
Bis jetzt hat sich China ja außenpolitisch sehr vorsichtig bewegt. Das könnte sich ändern, wenn das Regime ins Wanken gerät und verstärkt auf einen aggressiven Nationalismus setzt, um so Legitimität zu gewinnen.
Kissinger: Es ist erstaunlich, mit welcher Klugheit China bis jetzt vorangeschritten ist. Niemand kann voraussagen, was passiert. Aber wenn China sich auf einen strikt nationalistischen Kurs begibt wie Europa im 19. und frühen 20. Jahrhundert, wäre das derart riskant und ein derartiger Bruch dessen, was sie jetzt machen, dass es nicht ihre erste, ja nicht einmal ihre zweite Wahl sein wird. Ich habe große Hoffnung, dass Chinas Aufstieg kooperativ abgehandelt werden kann. Ein Konflikt wäre für die gesamte Region äußerst gefährlich.
Sie haben als einer von wenigen nach dem Zerfall der Sowjetunion den Wiederaufstieg Russlands vorhergesagt. Doch kann dieser Trend anhalten angesichts der strukturellen Schwächen Russlands?
Kissinger: Russland wird schon allein wegen seiner Größe, seiner Geografie und seiner Geschichte eine bedeutende Rolle sowohl in Europa als auch in Asien spielen. Doch es stimmt: Innerhalb Russlands sind auch verschiedene widrige Trends zu beobachten: Rückgang der Geburtenrate, Modernisierungsbedarf in Infrastrutur und im Regierungssystem. Zudem wird Russland unter Druck kommen seitens seiner islamischen Minderheiten, so wie fast jedes Land mit islamischen Minderheiten. Im Fall Russlands, wo Moslems fast 25 Prozent der Bevölkerung ausmachen, ist die Gefahr kompakter als anderswo.
Können Sie verstehen, warum Russland derart über das Raketenabwehrsystem schäumt?
Kissinger: Es wiederholen sich zum Teil die Argumente von 1982 (Streit um Nato-Doppelbeschluss; Nachrüstung mit Cruise Missiles und Pershings). Wieder versucht Russland, Europa zu spalten, es agiert allerdings schon ein bisschen widersprüchlich: Einerseits sagt Russland, es habe keine Absicht, jemals Europa zu attackieren, und auch keine Raketen auf Europa ausgerichtet. Anderseits sagt Russland, es fühle sich schrecklich bedroht von einem Raketenabwehrsystem, das es schwieriger mache, auf Europa zu zielen. Wenn die Russen ohnehin nicht Europa angreifen wollen, wird sie das Raketenabwehrsystem dabei nicht stören. Ich hoffe, dass Russland seinen drohenden Ton zurückschraubt, den es zuletzt angeschlagen hat.
Sie haben 1971/72 gemeinsam mit Nixon die Tür nach China geöffnet. Treten Sie auch für Gespräche ohne Vorbedingungen mit dem Iran ein?
Kissinger: Mein Trip nach China wird oft so dargestellt, als ob ich die chinesische Führung in Peking überzeugt hätte, die Beziehungen zu den USA zu verbessern. Das stimmt nicht so ganz. Ich flog nach China, weil die Chinesen schon überzeugt waren, dass sie bessere Beziehungen wollen.
Aber zu 100 Prozent sicher konnten Sie auch nicht sein.
Kissinger: Nein, das war das Risiko (, das wir genommen haben). Ich rate zu Gesprächen mit dem Iran. Und mir sind auch Vorbedingungen nicht so wichtig. Mir ist das Resultat wichtig. Mit dem Iran haben wir zumindest zwei Probleme: den Atomstreit und Irans Rolle im Nahen Osten. In der Atomfrage ist es sehr schwer, Kompromisse zu finden.
Wie kann man die Iraner daran hindern, eine Atombombe zu bauen?
Kissinger: Zum Beispiel, indem man den Iran dazu bringt, alle Anreicherungsanlagen außerhalb des Landes zu haben. Aber das ist Gegenstand von Verhandlungen. In der Irak-Frage aber sind von jeder Seite Kompromisse nötig.
Sie haben 2005 in der "Washington Post" geschrieben, dass es keine andere Exit Strategy aus dem Irak gebe außer einem Sieg über die Aufständischen.
Kissinger: Nein, Sie haben gelesen, was Bob Woodward (in "State of Denial"; Anm.) über meinen Text geschrieben hat. Sie haben nicht den Text selbst gelesen.
Ich habe beides gelesen, aber Sie können ja jetzt Klarheit schaffen.
Kissinger: Ich habe wiederholt gesagt, dass ein militärischer Sieg in dem Sinn, dass jeder Quadratmeter im Irak kontrolliert wird, unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht möglich ist.
War es denn überhaupt eine gute Idee, im Irak einzumarschieren?
Kissinger: Ich habe zu jenen gehört, die sich für die Invasion ausgesprochen haben. Ich werde jetzt nicht im Nachhinein eine Entscheidung kritisieren, an der ich beteiligt - äh - nicht beteiligt, die ich in Kommentaren unterstützt habe. Doch es gab sicher unerwartete Konsequenzen im Irak.
Warum waren Sie für den Irakkrieg?
Kissinger: Ich war dafür, weil ich wie andere glaubte, dass der Irak Massenvernichtungswaffen hat. Zweitens dachte ich, dass dieses Land, das den USA gegenüber nachweislich feindlich eingestellt war und über die zweitgrößten Ölvorkommen im Nahen Osten verfügte, Potenzial hat, den jihadistischen Trend in der Region zu unterstützen.
Welche Lehren können aus dem Irakkrieg gezogen werden?
Kissinger: Militärische und politische Ziele müssen aufeinander abgestimmt sein. Und sie müssen in Beziehung gesetzt werden zur Kapazität der US-Öffentlichkeit, diese Ziele zu unterstützen.
US-Verteidigungsminister Gates sagte zuletzt, dass ihm ein südkoreanisches Modell für den Irak vorschwebt. Soll heißen: Eine große Anzahl amerikanischer Soldaten wird langfristig im Irak präsent bleiben.
Kissinger: Ich arbeite gerade an einem Artikel, der in den nächsten zwei oder drei Wochen erscheinen soll. Wir brauchen ein internationales Abkommen über einen internationalen Status des Irak. Und da könnte ein gewisses Maß an amerikanischer Militärpräsenz tatsächlich hilfreich sein.
Die demokratische Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton erklärte, dass sie in ihrer ersten Amtshandlung die Truppen aus dem Irak zurückholen würde. Was wäre die Folge?
Kissinger: Chaos, und das weiß sie auch.
Glauben Sie, dass der Irak ungeteilt bleibt?
Kissinger: Die gegenwärtige irakische Verfassung sieht drei autonome Regionen vor. Ich glaube nicht, dass ein größerer Grad von Zentralisierung möglich ist, ohne den Krieg noch mehr auszuweiten. Ob der Irak auseinander fällt, hängt davon ab, ob es im nächsten Jahr gelingt, eine funktionierende Regierung in Bagdad zu schaffen.
In Ihrem Buch "Diplomacy" sprachen Sie sich 1994 für eine neue Politik des Gleichgewichts der Kräfte aus und gegen amerikanische Alleingänge. Glauben Sie, dass der von den Neokonservativen beschworene unipolare Moment der USA nun vorbei ist.
Kissinger: Keine Nation sollte ankündigen, dass sie in der Lage ist, die ganze Welt zu lenken. Denn selbst wenn sie die Macht dafür hätte, keine Nation hätte die Intelligenz oder die Kraft für solch ein Unterfangen. Die USA müssen wissen, dass sie eine Supermacht sind, aber sich so aufführen, als wären sie keine Supermacht und als hätten die anderen Länder die gleichen Rechte, gehört und beteiligt zu werden. Es gibt natürlich Situationen, die sind so gefährlich, dass man allein handeln muss. Aber diese Situationen sind selten.
Was hat die Welt mehr verändert? Die Terroranschläge vom 11. September 2001 oder die möglicherweise fehlgeleitete Reaktion darauf?
Kissinger: Das kann man nicht auseinander dividieren. Auf dem eigenen Territorium angegriffen zu werden, war den Vereinigten Staaten seit 1812 (Krieg gegen Großbritannien; Anm.) nicht passiert, und damals hatten wir den Krieg begonnen. Aber an einem Montagmorgen aus dem Blauen heraus angegriffen zu werden von Menschen, von denen Amerika nicht annahm, dass es Streit mit ihnen habe, war noch nie da. Das hat die Haltung der Amerikaner seither geprägt.
Wird die Terrorgefahr nicht manchmal aufgeblasen? Man kann doch eine Haufen islamistischer Extremisten mit Teppichmessern und Rucksackbomben nicht mit einem aggressiven Nuklearimperium vergleichen, wie es die Sowjetunion war.
Kissinger: Die Sowjetunion konnte uns zerstören, die Jihadisten können uns nicht zerstören. Auf der anderen Seite hatte die Sowjetunion nicht die gleichen Möglichkeiten, das öffentliche Vertrauen in Regierungen zu unterminieren. nach 9/11, Madrid und London haben sich manche Leute Sorgen gemacht, ob ihre Regierung sie wirklich beschützen kann.
Auf der anderen Seite weiß doch jeder, dass al-Qaida mit ihren radikalen, absurd rückwärtsgewandten Ideen auf der falschen Seite der Geschichte steht.
Kissinger: Ich weiß nicht, ob das jeder weiß. Die Jihadisten wissen es nicht und ihre Bewunderer auch nicht. Das genau ist der Punkt: Wenn wir sie auf das Hinterteil der Geschichte kriegen, dann haben wir gewonnen.
Glauben Sie, dass Demokratie die Lösung für den Nahen Osten ist?
Kissinger: Die USA sollten für Demokratie eintreten. Aber ich stimme nicht jenen zu, die glaubten, dass wir Demokratie binnen kürzester Zeit in traditionellen islamischen Ländern etablieren könnten.
Diese Vorstellung war also etwas naiv.
Kissinger: Sie war etwas optimistisch.
Sie haben einmal geschrieben, dass die USA die Tendenz haben, Außenpolitik als einen Kampf zwischen Gut und Böse darzustellen. Eine solche manichäische Haltung vernebelt doch permanent die analytische Sicht.
Kissinger: Wenn Sie in Wien sitzen, muss Ihnen niemand erklären, dass Imperien zerfallen können. Wenn Sie in Amerika sitzen, dann regieren Sie ein Volk, das keine direkte Erfahrung mit Außenpolitik und kein detailliertes Wissen von Außenpolitik hat. Ich garantiere Ihnen: Wenn Sie den 435 Mitgliedern des US-Repräsentantenhauses eine Landkarte mit eingezeichneten Grenzen zeigen und sie bitten, die 15 führenden Länder einzutragen, dann wären nicht einmal zehn Abgeordnete in der Lage, das zu tun.
Absurd für die führende Weltmacht.
Kissinger: Vielleicht absurd für Europäer. Wenn ein Amerikaner ein Problem sieht, denkt er, dafür gibt es eine Lösung, und zwar binnen kurzer Zeit. Dieses Verlangen, Probleme zu lösen, ist eine der großen Hoffnungen der Welt. Aber es macht die Amerikaner auch sehr ungeduldig, wie jetzt im Irak. Deswegen sagen die Leute jetzt, dass der Krieg im Irak aufhören muss. Aber der Krieg würde nicht aufhören, wenn wir den Irak verlassen.
Was kann man von Bush im letzten Jahr seiner Präsidentschaft erwarten?
Kissinger: Bush wird versuchen, so verantwortungsbewusst wie möglich zu handeln. Er tritt bei keiner Vorwahl an. Er tritt für die Geschichtsbücher an.
Haben die Europäer eine falsche Vorstellung von Bush?
Kissinger: Ja, und ich habe Bush im Jahr 2000 nicht unterstützt. Ich habe McCain unterstützt.
Aber Sie waren oft zu Gast bei Bush im Weißen Haus.
Kissinger: Die Europäer machen sich ein falsches Bild von Bush. Sie sehen ihn als Cowboy, der nicht weiß, was er tut. Und das ist falsch.
Wie nehmen Sie Bush wahr?
Kissinger: Er ist intelligent und bei vielen Themen sehr bedächtig. Aber er musste viel Erfahrung sammeln.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.06.2007)