Yoram Kaniuk scheut in seinen Romanen keine Provokationen und Auseinandersetzungen. In dem Band „Die Vermisste“ erzählt er die Geschichte einer Israelin, die abtaucht und „sich selbst in die Wüste schickt“.
Welch eine haarsträubende und überkonstruierte Geschichte! Eine junge israelische Frau inszeniert den eigenen Tod in der Wüste, indem sie ihre blutigen Kleidungsstücke verstreut. In England nimmt sie eine neue Identität an, auch ein Schönheitschirurg leistet seinen Beitrag dazu. Mit falschem Namen und neuem Gesicht reist die Ich-Erzählerin wieder nach Israel ein, um die Vorgänge um ihren Tod, die Trauer der Eltern und das eigene Begräbnis zu beobachten und sogar zu beeinflussen. Als wäre das noch nicht genug, taucht tatsächlich auch noch eine Leiche auf, und schließlich trifft sie auf einen Mann, der jene geliebt hat, die sie einmal war...Der israelische Schriftsteller Yoram Kaniuk kleistert mit seinem Roman „Die Vermisste“ (2005 unter dem Titel „Missing“ in Tel Aviv erschienen) eine Geschichte zusammen, deren Stärke nicht die Wahrscheinlichkeit ist, sondern die Provokation – und die politische Brisanz.
Kaniuks Roman verstört. Schon die Wahl der Erzählperspektive ist gewagt. Der 1930 in Tel Aviv geborene Autor leiht seine Stimme nämlich einer Frau aus der nächsten Generation. „Wir jungen Mädchen sind fast immer hübsch. Doch dann werden wir alt, können keine Kinder mehr kriegen, und die Natur lässt uns im Stich. ...Daher sind wir sofort bereit, Junge zu werfen, solange noch alles knackig und glatt ist. Wie gemeißelt. Straffe Haut. Frisches Gesicht. Fix und fertig zum Kalben.“ Diese Frau will nicht, dass Kinder aus ihr „herausflutschen“, und kann mit den meisten männlichen Bettgenossen nicht viel mehr anfangen, als diese mit dem Stöhnen ihrer Vorgänger auf Tonband zu erschrecken. Wohl fühlt sie sich in der Wüste, bei den Raubvögeln und bei ihrem „Panther“, einem Wüstenmenschen.
Die unglaubliche Geschichte ihres inszenierten Todes ermöglicht es dem Autor, quasi im Vorbeigehen, Korruption und Freunderlwirtschaft zu entlarven und satirisch den Medienwahnsinn aufs Korn zu nehmen, der im Gefolge eines Unglücks nicht lange auf sich warten lässt, etwa in Gestalt all der vorgeblichen Freunde, die sich vor Kameras und Mikrofonen zu Wort melden. Vor allem aber formt er die politische Verzweckung des vermeintlichen Verbrechens zur schreienden Anklage. Die zu erwartenden und bekannten Mechanismen funktionieren wie geschmiert, besonders das nationale Bedürfnis nach Schuldzuweisung. Schnell ist ein Beduine gefunden. Es kann ja nur ein Araber gewesen sein, der das „Mädchen vom Nachal Zin“ massakriert hat. „Der Ausschuss kam zu dem Ergebnis, dass die Vernehmungsbeamten im Rahmen des Erlaubten gemäßigten physischen Druck auf den Beduinen ausgeübt hatten. Man hatte ihn bei den Verhören nicht auf die Augen geschlagen, sondern sie nur ein wenig eingedrückt, sodass sie ziemlich schnell wieder hervortraten.“
Kaniuk greift mit der Story heiße Eisen an. „Eine Installation von mir selbst als Tote.“ Was als ungeheuerliche Idee einer Frau daherkommt, erzählt zugleich Israels Geschichte. Der Tod prägt den Staat seit seiner Gründung: Er ist präsent in den Erinnerungen der immigrierten Holocaustüberlebenden. Präsent in den Erinnerungen der Kämpfer in den vielen Kriegen. Er ist präsent in den nicht enden wollenden Terroranschlägen der Gegenwart. Er ist präsent in der Bibel, auf die ständig verwiesen wird. So liest etwa die Ich-Erzählerin das erste und zweite Buch Samuel zu Hermann Brochs „Der Tod des Vergil“. Sie wird als Vertreterin einer von Geburt an durch Tod und Vergangenheit stark belasteten Generation zum Spiegel der Gesellschaft: „Ich habe die Gnade ihrer Angst um mich nicht verdient.“
Wie verkehrt doch alles ist, erzählen auch die „realistischen“ Biografien der Eltern: hier der Täter, da das Opfer. Die Mutter umarmt ihr Kind nie, weil sie fürchtet, dass es ihr wie einst die beiden Söhne unter den Händen verschwinden wird; der Vater umarmt es nie, um nicht als Weichling zu gelten. Denn er ist ein Held der ersten Stunde. Er, der einst eine Araberin erschossen hat, will nun seine Tochter offiziell als Terroristenopfer begraben sehen. Die Mutter überlebte als Kind Ghetto und Lager, fand Zuflucht in einem Kloster, immigrierte nach Israel, heiratete einen Araber, der im Unabhängigkeitskrieg starb, hatte zwei Söhne – und nun sind beide tot. Auch das ist verkehrt: In diesem Land sterben Kinder vor ihren Eltern. „Sie sagte, sie hätte mich nicht geboren, damit ich gegen sie sterbe.“
Yoram Kaniuk, dessen Roman „Adam Hundesohn“ zurzeit von Paul Schrader verfilmt wird, hat Auseinandersetzungen und Provokationen noch nie gescheut, weder in Romanen noch in Essays, weder mit den Deutschen – so stritt er 1991 öffentlich sehr emotional mit Günter Grass – noch mit seinem Geburtsland – vor zehn Jahren schlug er etwa den „Religiösen“ eine Teilung des Staates Israel vor und wies damit auf einen nicht weniger unheilvollen ungelösten Konflikt in Israel hin. Sein Roman „Die Vermisste“ stellt nun zwar die Frage: „Wie bringt man es fertig, zu leben und doch nicht existent zu sein?“, kann darauf aber auch keine Antwort geben. Am Ende bekommt die Mutter, „was sie eigentlich wollte“: eine tote Tochter, die dennoch lebt. In der Wüste, wo es weder Freunde und Fragen gibt.
Nach der Lektüre bleiben ein sehr bitterer Nachgeschmack und die Erinnerung an Sätze wie diesen: „Hier sind doch alle nicht mehr zu retten, das ist kein Staat, sondern eine Krankheit, aber das Klima ist angenehm, und denk immer an das Lied ,Wie schön sind die Nächte in Kanaan‘.“ ■
("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.07.2007)