Psychologie: Wenn Kinder nicht mehr reden

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Phänomen Mutismus. In fremder Umgebung verstummen oft auch Kinder, die sonst sehr lebhaft sind. Wird das Problem nicht erkannt, drohen lebenslange Folgen.

Mit den Eltern reden die Kinder meist ganz normal, aber in fremder Umgebung verstummen sie. Viele Erzieher und Lehrer kennen das Phänomen Mutismus, aber manche Kinderärzte und Psychologen können damit nichts anfangen. Dabei kann eine frühzeitige Therapie den Kindern zuverlässig helfen. Wird das Problem nicht erkannt, drohen lebenslange Folgen. Ausgeprägtes "Fremdeln"

Dass seine beiden Töchter zurückhaltend waren, bemerkte Marcus Seelig schon im Kleinkindalter: "Wenn jemand kam, der nicht zur Familie gehörte, hielten sie sich den Arm vors Gesicht." Seelig interpretierte das damals als ausgeprägtes Fremdeln. Aber als die eineiigen Zwillinge Anna und Lisa in den Kindergarten kamen, nahm die Erzieherin die Eltern beiseite. Denn dort sprachen die Mädchen weder mit den Erzieherinnen, noch mit anderen Kindern. "Mutismus beginnt meist beim Übergang vom Elternhaus zu Kindergarten oder Schule", sagt Professorin Nitza Katz-Bernstein von der Universität Dortmund. Gerade Kinder, die stark an den Eltern hängen, verschließen sich in der fremden Umgebung völlig. Selektiven Mutismus, bei dem die Betroffenen mit einigen Personen sprechen, entwickelt etwa eines von 1.000 Kindern, Mädchen häufiger als Buben. Der Expertin zufolge steigt die Zahl der Patienten. In ganz normalen Familien

Die Ursache von Mutismus liege äußerst selten in einem traumatischen Erlebnis, betont Katz-Bernstein. Die meisten Kinder kämen aus ganz normalen Familien. Hintergrund sei meist das Unvermögen, Fremdheit zu überwinden. Dies könne verstärkt werden durch mangelnde Sprachkenntnisse oder Sprachstörungen. Bei Anna und Lisa verlief diese Entwicklung normal. "Zu Hause redeten sie wie ein Wasserfall", erzählt Seelig. Doch wenn die Kinder im Beisein anderer Menschen etwas wollen, zupften sie die Eltern am Ärmel und flüsterten ihnen ihr Anliegen ins Ohr. "Wir haben dann das Sprechen für sie übernommen", erzählt Seelig. Frühe Therapie wichtig

Professor Rolf Bindel von der Universität Hannover hält eine solche, eigentlich gut gemeinte Reaktion für fatal. "Die Eltern spielen dann mit", so der Pädagoge. "Sie unterstützen das Verhalten. Das ständige Vermeiden festigt die Gewohnheit und das Kind entwickelt die Vorstellung Ich kann das nicht'." Im Lauf der Jahre, Anna und Lisa waren schon in der Volksschule, konsultierten die Seeligs drei Kinderärzte. Die Mediziner rieten zum Abwarten. Sogar ein Kinderpsychologe vertrat diese Ansicht. Erst der zweite Psychologe stellte die Diagnose Mutismus. Aber auch er behandelte die Kinder ein Jahr lang, ohne ihnen auch nur ein einziges Wort zu entlocken. "Das war vertane Zeit", meint Seelig. Dabei ist frühe Hilfe wichtig. "Je jünger das Kind, desto höher die Erfolgschance", sagt Katz-Bernstein. Bei einer Behandlung bis zum Schulalter sei eine Therapie bei neun von zehn Kindern erfolgreich. "Mit dem Alter wird das schwieriger, nach der Pubertät ist es sehr problematisch." Menschen mit etablierter Sprechangst laufen Gefahr, sozial isoliert zu werden. Durch das Internet erfuhr Seelig schließlich von einem Mutismus-Verband. Der hinzu gezogene Sprachtherapeut brachte die zehnjährigen Kinder schon in der ersten Sitzung zum Sprechen. Nachdem er Anna ihre Situation und Zukunftsaussichten geschildert hatte, fragte er: "Möchtest du so bleiben?" Erst nach wiederholtem Einfordern einer Antwort kam dem Mädchen ein zaghaftes "Nein" über die Lippen. "Möchtest du, dass ich dir helfe?" "Ja", so die Antwort. "Wir waren fassungslos", sagt Seelig. "Mir stellen sich heute noch die Nackenhaare auf, wenn ich daran denke." Nonverbale Kommunikation

Die Wahl der Therapie hängt laut Katz-Bernstein vom Alter ab. Bei jüngeren Kindern laufe viel über nonverbale Kommunikation. Therapeut und Patient verständigen sich mit Geräuschen wie etwa Tierlauten. Mit älteren Kindern schließt die Therapeutin einen Vertrag. Das Kind will sprechen lernen, im Gegenzug hilft die Therapeutin. "Das wichtigste ist Geduld", sagt sie. "Man muss in kleinen Schritten vorgehen." Im Fall von Anna und Lisa schickte der Therapeut die Kinder zum Einkaufen oder ließ sie auf der Straße Passanten nach dem Weg fragen. Aber auch die Eltern mussten umdenken: Sie waren gewohnt, potenziell peinliche Situationen zu meiden. "Ich lief wie ein Pflug vor den Kindern her und räumte alles aus dem Weg", sagt Seelig. Keine Härte

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