Brief an den toten Vater

In dem novellistischen Essay „Roppongi“ lässt der Kärntner Josef Winkler seinem „furor mortuus“ freien Lauf. Als er in Japan vom Tod seines Vaters in der Heimat erfährt, brechen die Wunden der Vergangenheit erneut auf.

Wieder einmal hat Josef Winkler, der Nekromane aus Kärnten mit teils kleistischer Syntax, uns mit einem bedrückenden Text beschwert. Wenige Autoren leben so ausschließlich vom Sterben wie dieser Autor, dessen Prosa Leichname bevölkern, tote Natur ziert und das Grauen vor dem Dasein wachsen lässt. Begriffe wie Pessimismus, Nihilismus, Krankheit zum Tode bezeichnen diesen nun schon seit Jahrzehnten in Winkler wütenden „furor mortuus“ nur unzureichend. Soll man vermuten, dass Todesverfallenheit ihn zum Schreiben drängt nach dem Motto: Nur wer vom Sterben und von den Toten erzählt, lebt weiter.

Das Besondere an Winklers Texten ist jedoch, dass sie auf den Leser – oft ohne es zu wollen – eine Art Sogwirkung ausüben. Man glaubt, ihrer längst überdrüssig zu sein, nur um bei der Lektüre eines „neuen Winkler“, der scheinbar altbewährten Nekrologen-Erzählmustern folgt, festzustellen, dass man – widerstrebend gebannt – weiter und weiter liest, manche Seiten wiederholt, andere überschlägt, weil sie Bekanntes wiederholen, und dieses und jenes Prosa-Bild des Grauens, der Verwesung oder des das Aas skelettierenden Geiers sich mit geschlossenen Augen noch einmal vergegenwärtigt. Auch der Erzähler bekennt: „Ohne Notizbücher und Füllfeder hätte ich mir die vielen Einäscherungen und das Treiben auf dem Totenplatz nicht anschauen können, es hätte mich erdrückt, und ich hätte vor allem nachts in meinen Träumen keine Ruhe vor dieser Bilderflut des Todes gehabt, aber sie wurden in meinen roten, indischen Notizbüchern festgehalten, und sie wurden zwischen leere Seiten verbannt.“ Vielleicht empfiehlt sich für die Leser dieser nekromanischen Prosa ein Notizbuch, um von ihrer Lektüre nicht erdrückt zu werden und reflektierend Abstand zu ihr zu gewinnen.

Wenn es das gibt, die Lüsternheit auf das Ekelhafte, die Gier nach Verfall, dann ist Josef Winkler ihr schwarzer Zeremonienmeister, dessen Leitspruch er gleich auf der ersten Seite seines neuen Textes „Roppongi“ preisgibt: „Vor den Dichtern sterben die Geier.“ Ich sage „Text“; denn die Gattung dieser Prosa bleibt unklar: der Autor nennt sie zwar „Requiem für einen Vater“, aber sie wirkt wie ein halb autobiografischer Bericht, halb Essay (über indische Musik, die Ursachen des Geiersterbens, das Leben am „großen Einäscherungsplatz“ und Rourkela, Indiens „Steel City“ am Brahmanifluss), so- dass man zunächst meint, hier sollen die Fakten die Fiktion ersetzen. Nur eins ist dieser Text nicht, eine Novelle in oder über den Tokioter Stadtteil Roppongi, wo sich Österreichs Botschaft befindet und der Erzähler, als er vom Tod seines Vaters „daheim“ im verhassten Kärnten erfährt – eines Vaters, der sich die Anwesenheit des alles in den „Schmutz“ ziehenden, die Heimat und ihre Bewohner angeblich verleumdenden Sohnes beim Begräbnis verbeten hatte. Der Erzähler heißt Josef Winkler, ist Josef Winkler und ist es natürlich auch wiederum nicht. Er erinnert sich permanent, ob er sich in Indien aufhält oder in Japan, an seine todesschwangere Kindheit, an die Lebenslügen des Vaters über die braunen Jahre, an das drohende Ersticken in der Provinz.

Und der Vater? Rilke sprach einmal von der gewaltsamen Liebe seines Vaters. Und etwas davon spürt man auch in diesem Text. Er versucht, ein Requiem für den, nein, für einen Vater zu sein, eine Totenmesse in elf schauerlichen Prosa-Gesängen. Nichts ist irreführender als dieser unbestimmte Artikel; denn es geht ja um einen sehr konkreten, ganz und gar unverwechselbaren Vater, einen Vater, mit dem der Sohn nur auf diese Weise reden kann; ins Gespräch konnte er offenbar mit ihm nie wirklich kommen. Dieses Phänomen ließ sich exemplarisch an Kafkas „Brief an den Vater“ studieren; und das ist eigentlich auch Winklers „Roppongi“: ein Brief an den (freilich toten) Vater.

Wie viele Reisen muss man unternehmen, fragt man sich, um dem Fluch der Provinz zu entkommen? Wie lange soll man sich an der Provinz, über die große Welt erzählend, rächen? Oder dreht sich das Ganze irgendwann gegen einen selbst? Rächt sich die Provinz zuletzt dadurch, dass man selbst wieder als provinziell erscheint, weil man zu viel über sie geschrieben hat?

Doch ist mit alledem nichts über die staunenswerte Sprachkunst des Josef Winkler gesagt, der es ja eigentlich zu verdanken ist, dass man seiner Texte und Themen nicht müde wird. Zu dieser Kunst gehören unverhoffte Wendungen, wie jene vom großelterlichen Schlafzimmer, „aus dem die Großeltern längst herausgestorben waren“, oder einprägsame Szenen wie jene am Ufer der Ganga, als sich eine Trauergemeinde mit Wasser beträufelt „und ein paar für ihre Häupter verlorene Wassertropfen auf mein aufgeschlagenes rotes indisches Notizbuch“ fallen, in das ein Junge zuvor etwas Sarnather Blattgold buddhistischer Pilger geklebt hatte. Solches „Schöne“ jedoch ist bei Winkler nur des Schrecklichen Beweis.

Bei der Lektüre dieser zumeist schaurig-todestrunkenen, nach Verwesung riechenden Seiten fragt man sich: Wie würde Winkler wohl schreiben, brächte er einige Zeit in einer Entbindungsstation zu? ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.09.2007)


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