Das Ende der „bevormunden-den Schule“? Die „Modulare Oberstufe“: ein Warenhaus der Halbbildung. Über die Epidemie der Module in unserem Bildungssystem.
Letztens traf mich – das Schicksal ist grausam – das verhasste M-Wort auf nüchternen Magen. Durch Zufall schnappte ich frühmorgens auf, im Oktober werde die „Modul University Vienna“ eröffnen. Und zwar hoch auf dem Kahlenberge, wie ich der (übrigens durchwegs englischsprachigen) Website der neuen Privatuniversität wenig später entnahm. Dass man daselbst mit „breathtaking views“ auf die Hauptstadt wirbt, zeigt gleich, womit sich die Universität beschäftigt: mit Tourismus.
Am selben denkwürdigen Tag stellte ich fest, dass mit den neuesten Studienplänen (die jüngsten waren erst ein paar Jahre alt) die Module endlich auch an meiner Heimatuniversität Einzug halten: Die Bachelors und Masters, die sie in wenigen Jahren verlassen werden, werden ihr Studium, pointiert gesprochen, als Baukastenspiel betrieben haben. Another Modul University is born.
Vielleicht bin ich gegen das Wort „Modul“ bloß deshalb so empfindlich, weil etwas, was so hieß, mir als 14-Jährigem meinen besten Schulfreund genommen hat, der aus unserem Gymnasium in eine Tourismusschule namens „Modul“ wechselte (die ältere Schwester der obigen). Dieser Name war mir damals durchaus rätselhaft, denn ich hatte das Wort bis dahin bloß mit Elektronikbau und Spielkonsolen in Verbindung gebracht und wunderte mich, warum eine Schule sich so nannte. Vielleicht aber wurde ich auch erst durch das Debakel sensibilisiert, das in der jüngsten Vergangenheit – lange nach meiner Matura glücklicherweise erst – in jenem Gymnasium selbst Platz griff: Man gab sich dort dem Schulversuch „Modulare Oberstufe“ hin. Über vielerlei Kanäle bekam ich mit, was sich dabei zutrug: Vom Geist der einstigen soliden und charaktervollen Allgemeinbildenden Höheren Schule ließ man nichts übrig.
Näheres über die Modul-Ideologie lässt sich anhand ebenjenes Gymnasiums (das hier namenlos bleiben soll) in Erfahrung bringen, weil dort, wie ich sagen darf, aufgrund der spezifischen Verfasstheit der Beteiligten alles in karikaturhafter Überzeichnung zutage tritt. Wenn ich mich nicht täusche, können die dem dortigen Projekt still zugrunde gelegten Glaubenssätze mit geringen Variationen am Modularisieren an anderen Orten jederzeit beobachtet werden.
Erstens: Der Umstieg auf ein Modulsystem, so nehmen die Modularisierer an, ist Ausdruck von Modernität, und Modernität ist heilig. Der erste Teil dieser Annahme bestätigt sich in der Wirklichkeit. Module sind der Triumph der Industrietechnologie: die Spitze einer von Standardisierung und Massenfertigung geprägten Warenwelt. Wer Bildung als Ware versteht, wird stringenterweise versucht sein, ihr eine modulare Prägung zu verpassen. Er, der Technikgläubige, huldigt damit seiner Göttin und bekennt sich dazu, indem er nicht nur ihr Arbeitsmuster, sondern auch das Vokabular kopiert. Interessant ist, dass diese Form der Technisierung von einer willkommenen Immunisierungsleistung begleitet ist: So wie der technische Fortschritt vor kritischen Hinterfragungen stets gefeit gewesen ist und jede technische Möglichkeit in unserer Welt den Zwang zu ihrer Umsetzung bereits mit sich führt, verhält es sich nun auch mit den Modulen in der Bildung: Wer das neue Verfahren in Frage zu stellen wagt, ist – gleich dem Maschinenstürmer – schon als rückständiger Konservativer gebrandmarkt.
Zweitens: Der Inhalt kann hinter der Form jederzeit zurückstehen. Diese Annahme wird von der Modularisierung in der Lehre zwingend vorausgesetzt, weil kein komplexes Wissensgebiet der Weltstrukturell einem Baukasten ähneln dürfte.Die völlige Geschlossenheit und Unabhängigkeit, in der die einzelnen Module in eingängigen Powerpoint-Darstellungen nebeneinander stehen, spricht der Komplexität traditioneller Lehrstoffe und der Aufbaulogik des Lernens Hohn. Sie reicht dennoch sogar so weit, dass im modularen Kurssystem des Gymnasiums etwa das Fortgeschrittenenmodul einer Programmiersprache besucht werden kann, ohne das Anfängermodul absolviert zu haben oder entsprechende Kenntnisse vorweisen zu müssen. Ebenso zweifelhaft scheint es mir freilich, 18- und 15-Jährige denselben Mathematikkurs besuchen zu lassen – das Modulsystem macht's möglich und beweist damit seinen Niveauanspruch.
Drittens: Alle Teile sind austausch- und beliebig kombinierbar. Hierin liegt die Stärke modularer Warensysteme: Module – etwa Teile einer Sitzmöbelserie – können nach individuellem Bedürfnis ausgewählt und miteinander verbunden werden. Dass, was bei Sofas oder Einbauküchen seine Rechtfertigung hat, zwangsläufig auch in der Bildung sinnvoll sein soll, ist jedoch nicht einzusehen. Tatsächlich scheint mir denn auch offen zu sein, was „individuelles Bedürfnis“ etwa in Bezug auf Allgemeinbildung zu bedeuten hat. Darüber hinaus aber ist offensichtlich unklar, was denn die Kombinierbarkeit gewährleisten soll. Jene der Sofateile liegt ja sowohl in deren äußerer Gestalt als auch in den Abmessungen begründet. Was davon beim schulischen Modul bleibt, ist augenscheinlich lediglich die Quantität, nämlich die der Arbeitsleistung: Ob ein Schüler nun „Lateinische Übungen“ oder ein Modul über „Musikvideos – das ultimative Schau-Fenster der Popmusik“ besucht, ist egal, solange er x Semesterstunden damit zubringt. Matura ist, wenn man das Stundensoll erfüllt hat. Studienabschluss ist, wenn man das ECTS-Punktesoll erfüllt hat. Da die ganze Syntheseleistung in der Addition von Quantitäten liegt, ist es nur folgerichtig, wenn die Module in den Grafiken in unverbundenem Nebeneinander dargestellt werden – wie sollte man Sofateil und Küchenschrank jemals zusammenführen?
In einem weiteren Punkt aber bestätigt sich die Begriffsanalogie: in der Entfremdung. Der Lernende, der sich mit Lerninhalten beschäftigt, um Stunden zu bewältigen, und der sie ohne Rücksicht auf ein Gesamtgefüge in rationierten Einheiten gleichsam konsumiert, wird zu ihnen kein tieferes Verhältnis aufbauen als ein moderner Konsument zu den Produkten eines schwedischen Einrichtungshauses.
Viertens: Die Ermöglichung des Blicks auf das Ganze und auf Zusammenhänge ist pädagogisch nicht relevant. Dürfte es ein Anspruch der herkömmlichen Bildung gewesen sein,Menschen quasi überden Umweg des umfassenden Wissenserwerbs zu autonomem, verstehendem Denken undReflexionsfähigkeit hinzuführen, so bleibt,wenn das Vorhaben der Allgemeinbildung erst einmal aufgegeben ist, nur das emphatische Hinstoßen der Schüler auf dürre Einzelzusammenhänge. Niemand wäre im bisherigen Schulsystem auf die Idee gekommen, sich ein Semester lang mit der „Physik der Haushaltsgeräte“ zu beschäftigen oder mit „Hintergründen und Ursachen von Terrorismus“. Erkennende Abstraktion wird in der Fixierung auf das Tagesaktuelle und Lebensnahe – die Produktwelt – in die verheerende Beliebigkeit des Konkreten rücküberführt. Modulangebote wie der Computerführerschein, der Europäische Wirtschaftsführerschein oder auch „Kommunikation und Sozialkompetenz“ deuten freilich darauf hin, dass es gar nicht mehr um Bildung, jedoch um eine sonderbare Art von Ausbildung geht. Die Jugend wird für die Wirtschaft zugerichtet, Soft Skills inklusive. Fast mutet es an, als wäre die Zielvorstellung dieses Programms der Unmündige – der Abstoßpunkt aller herkömmlichen Bildungskonzepte.
Fünftens: Das Modulsystem wirkt so anziehend wie der Baukasten auf das Kleinkind. In Wirklichkeit ist das Gegenteil der Fall: Von Schülerseite gab es immer nur Murren. Die Schulleitung aber hält eisern an dem Bausatz fest. Im Kampf um den Schulstandort hat sie es längst aufgegeben, etwa auf die Qualität der Lehre zu setzen (wie auch?). Man rührt unter Verweis auf die Modulare Oberstufe, auch „MOST“ genannt, die Werbetrommel. Vielleicht hat man dabei im Auge, dass Most ja gesund ist, vielleicht die lautliche Nähe zu „must“. „Mist“ liegt allerdings auch nicht ferner (die Sprache ist klüger als die Propagandisten).
Sechstens: Module garantieren Wahlfreiheit, und diese ist das höchste Gut. Das neue System bedingt und schafft merkantile Verhältnisse gleichermaßen. Lehrer treten in Konkurrenz zueinander und erniedrigen sich zu Marketingagenten ihrer eigenen Kurse, die schließlich auch besucht werden müssen, um stattfinden zu können. Die Schüler sind Kunden (als ein solcher habe ich übrigens auch mein Universitätsstudium beendet; begonnen hatte ich es als Staatsbürger), denen Bildung als Konsumgut verkauft wird – darauf verweisen ja auch die griffigen Modulnamen, die man übrigens gerne an die Werbe- und TV-Sprache anlehnt, und die unterhaltsamen Themenstellungen. Was man aber eigentlich verkauft, ist die Universitätsreife zum Sonderpreis. Freilich handelt es sich möglicherweise um eine Schwindelpackung, denn ob modularen Maturanten faktisch noch alle Bildungswege offenstehen, ist mehr als fraglich.
Ein Wechsel in ein Gymnasium nach altem Modell ist für den der Module überdrüssigen Schüler aber praktisch ausgeschlossen, weil eine Unzahl von notwendigen Übertrittsprüfungen im Weg stünde (die optimale Kundenbindung!). Innerhalb des Modulregimes dagegen wird die Wahlfreiheit hochgehalten. Im Bezugssystem der ausgelöschten Freiheit der Person – wie sie von der Aufklärung einst verheißen wurde – schillert sie als die wahnhafte Illusion geradezu totaler Freiheit. Während nur ja nicht hinterfragt werden darf, wozu eine Schule noch dient, in der jeder lernt (oder lehrt), was ihm Spaß macht, erhebt man die halbjährliche Auswahl der Module zum Event.
Kritik und Mitsprache aber waren Sache des Bürgers und stehen dem Gleichgeschalteten nicht zu: Im kapitalistischen Organismus werden Ansinnen mündiger Einflussnahme als Angriff verstanden. Mit Kritikern weiß man umzugehen. Was am Ende bleibt, ist die institutionalisierte Verspottung von Kritik: die Evaluation. Sie kann bis zum Exzess betrieben werden (wird sie auch), weil sie harmlos ist und suggeriert, die Protagonisten würden sich selbst hinterfragen. Das tut selbstverständlich niemand, man ist dazu ja auch zu sehr mit sich selbst beschäftigt: Im Semestertakt muss in aufwendigen Prozeduren durch eine Vorwahl die Modulnachfrage ausgekundschaftet (Marktforschung!), müssen neue Module erarbeitet, vorgestellt, beworben und gewählt (alles auf Kosten des Unterrichts!), müssen neue hochkomplexe Stundenpläne erstellt werden.
Das Aufspalten der Gegenstände in Kleinmodule führt überdies zu einer beeindruckenden Steigerung der Fächerzahl, was, da man außerdem nicht jahres-, sondern semesterweise abschließt, allein zu einer Vervielfachung des Verwaltungsaufwands führt. Wie soll auf einer solchen Dauerbaustelle noch ein klarer Gedanke zu fassen sein?
So nimmt es auch nicht weiter wunder, dass die wenigsten Pädagogen bemerkt haben, wie aus Lehre Leere ward. Wer bereit ist, Humanität durch Technizismus zu ersetzen, wer die Arbeit mit Heranwachsenden nur noch als Job begreift und sich zur Mitwirkung am Verdinglichen von Bildung mit Enthusiasmus zur Verfügung stellt, wird sich auch bei fortgeschrittener Tragödie für anderes als konformistische Gehorsamsbereitschaft gegenüber dem Zeitgeist blind zeigen. Vor allem die Jugendlichen sind es so, denen MOST Bauchschmerzen bereitet. Sie könnten von langer, ja durchaus lebenslanger Dauer sein. Prost! ■
("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.10.2007)