Was bei allen Intelligenztests draußen bleibt, ist ein entscheidender Rest: der Charakter.
Daniel Kehlmann hat einen famosen Bestseller über die Vermessung der Welt durch Entdecker und Naturforscher geschrieben. Mindestens ebenso dringend wie der Ehrgeiz der Kartografen, die Erdteile und ihre Länder präzise abzubilden, ist das Bedürfnis der Wissenschaft, den Menschen zu vermessen. Und zwar nicht nur sein physisches Wachstum, wie wir das von unseren Kindern und den Strichen plus Datum an den Türstöcken kennen, sondern seine psychische Dimension. Ein Gutteil der Psychologie war und ist solchen Vermessungsversuchen gewidmet. Wenn in zwei Monaten die nächste „Staffel“ der Pisa-Studie präsentiert wird, steht sie in einer langen Tradition. Ob sie das Menschenbild unserer Erziehung bereichert, weiß ich nicht. Ich bin skeptisch.
Schon einmal nämlich haben die Psychologen ein scheinbar „unfehlbares“ Vermessungskriterium für den Rang eines Menschen entwickelt: die Intelligenz. Als Alfred Binet vor rund hundert Jahren seine Untersuchung der Fähigkeiten von Schachspielern abgeschlossen hatte und die ersten Intelligenzskalen vorlegte, schien man endlich einen objektiven Maßstab für die Beurteilung der geistigen Fähigkeiten des Menschen zu haben. Weltweit wurden Intelligenzmessungen durchgeführt, millionenfach etwa beim amerikanischen Militär: Man wollte unter den Rekruten des Ersten Weltkriegs die richtigen für die Offizierslaufbahn aussieben. Der „IQ“ wurde zum populärsten psychologischen Fachbegriff. Für seinen Schöpfer, den deutschen Psychologen und späteren Emigranten William Stern (übrigens Vater der Schriftstellers Günter Anders) waren die Wiener Tiefenpsychologen unexakte „Seelenpfuscher“. Welch ungeeigneter Schlüssel der IQ aber zur Beurteilung von Menschen war, zeigte sich spätestens in einer Episode aus dem Jahre 1946. Damals versuchte der Gefängnispsychologe des Nürnberger Militärgerichtshofes, das Seelenleben der Hauptkriegsverbrecher mittels eines Intelligenztest zu erforschen. Irgend etwas musste doch bei den Urhebern dieses millionenfachen Mordens mit der Intelligenz nicht in Ordnung sein! Doch siehe da, die Testergebnisse von Seyss-Inquart, Göring und Speer waren keineswegs schlecht. Die Problematik ihrer Täter- und Mittäterschaft lag wohl auf einem anderen Gebiet als jenem der Intelligenz.
Dennoch wurden und werden bis heute millionenfach Menschen mit Intelligenztests traktiert, taxiert und normiert. Zu groß ist das Bedürfnis, den Wert eines Menschen in Form einer Skala festzulegen. Der Einwand, dass Intelligenztests (wie auch Pisa) wenig mehr messen als die Fähigkeit, Intelligenztests zu lösen, verschallte und verhallt ungehört. Was nämlich bei all diesen Testverfahren draußen bleibt, ist ein entscheidender Rest: der Charakter. Die Persönlichkeit. „Höchstes Glück der Erdenkinder/Sei nur die Persönlichkeit“ liest man bei Goethe. Er hatte leicht reden: Im „West-östlichen Diwan“ kannte man Bildung. Von Pisa und dem IQ wusste man noch nichts.
Kurt Scholz ist Restitutionsbeauftragter der Stadt Wien und war langjähriger Wr. Stadtschulratspräsident.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.10.2007)