Genetik: Unsere Evolution ist nicht vorbei

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Die menschlichen Gene haben sich in den letzten 40.000 Jahren schneller verändert als davor. Das lesen US-Forscher aus DNA-Vergleichen. Und sie behaupten: Das habe auch die (Kultur-)Geschichte geprägt.

Wir Menschen unterliegen nicht mehr der biologischen Evolution, spätestens Medizin und Empfängnisverhütung haben die unter Kontrolle gebracht, sie wurde abgelöst von der schnelleren - und humaneren - kulturellen Evolution: Gegen diese weit verbreitete (und plausible) Ansicht wendet sich eine Arbeit von Genetikern um Henry Harpending (University of Utah) in den Proceedings of the National Academy of Sciences (online 11. 12.). Sie behauptet das exakte Gegenteil: Die Evolution von Homo sapiens verlief in den letzten 40.000 Jahren viel schneller als davor.

Besonders schnell war sie in den letzten 10.000 Jahren, also in bereits historischer Zeit, sagt Harpending. Und formuliert provokant: „Wir müssen den genetischen Wandel verstehen, um Geschichte zu verstehen. Wir sind nicht die gleichen Menschen wie vor 2000 Jahren." Das könne z. B. den Unterschied zwischen den Wikingern und ihren friedlichen schwedischen Nachfahren erklären: „Laut herrschendem Dogma beruht er auf kulturellen Fluktuationen, aber bei fast jeder Charaktereigenschaft findet man starke genetische Einflüsse."

Umstrittene Thesen über Aschkenasim

Das steht so nicht in der Publikation, das sagt Harpending nur im Interview - und wagt sich damit sehr weit ins Terrain der Spekulation. Es ist nicht das erste Mal, dass er mit Thesen zur Evolution in historischer Zeit für Aufsehen sorgt. 2005 erklärte er, dass die aschkenasischen Juden ihre überdurchschnittliche Intelligenz ihrer sozialen Lage im Mittelalter verdanken: Sie seien in Berufe gedrängt worden, in denen höhere Intelligenz von Vorteil war und auch die Zahl der Nachkommen positiv beeinflusste. Die dafür verantwortlichen Gen-Varianten hätten aber auch die Erbkrankheiten mit sich gebracht, unter denen Aschkenasim bis heute häufiger leiden, z. B. die Tay-Sachs-Krankheit.

Ist die neue Arbeit methodisch ernst zu nehmen? Verglichen wurde immerhin die DNA von 270 Menschen (90 Europäer, 90 Afrikaner, 45 Han-Chinesen, 45 Japaner) - und zwar auf 3,9 Millionen SNPs. Das sind „single-nucleotide polymorphisms", Unterschiede in genau einer Base, die wichtig sein können - weil sie die Funktion eines Gens ändern -, aber durchaus nicht sein müssen. Oft liegen sie in DNA-Abschnitten, die keine Information tragen, oder sie sind für die Funktion eines Gens schlicht egal.

Wie sich eine Variante durchsetzt

Wenn ein SNP aber die Funktion eines Gens ändert, dann kann es sein, dass diese Variation einer Selektion unterliegt: positiv, wenn die Veränderung von Vorteil ist, negativ, wenn sie von Nachteil ist. Eine Gen-Variante, die einer positiven Selektion unterliegt, wird in der Population immer häufiger, bis sie die „normale" Variante geworden ist, dann sagt man: Sie ist fixiert worden.

Aus der Analyse der Umgebung einer Variation können Genetiker ableiten, wann und wie schnell sich eine solche Selektion abgespielt hat, denn: Im Zuge der sexuellen Fortpflanzung werden immer wieder ganze DNA-Stücke zwischen Chromosomen ausgetauscht. Wenn nun die weitere Umgebung einer bestimmten SNP bei allen Individuen einer Population auffällig gleich ist, dann spricht das dafür, dass 1) nicht viel Zeit für solchen Austausch war und 2) wenn ein Austausch passiert ist, das Produkt so benachteiligt war, dass es sich in der Population nicht halten konnte.

Selektion durch Seuchen und Ackerbau

Das lässt sich auch quantitativ ausdrücken und auswerten. Das Ergebnis der US-Genetiker ist jedenfalls erstaunlich: In sieben Prozent der menschlichen Gene habe in jüngster Zeit eine solche Selektion stattgefunden oder sie finde noch statt.

Welche Gene könnten betroffen sein? Harpending nennt drei Gruppen:

  1. Gene, die mit der Abwehr von Krankheiten zu tun haben: Seuchen wie Malaria, Gelbfieber, Typhus und Cholera haben den menschlichen Gen-Pool zweifellos wesentlich beeinflusst. Ein Gen, das seine Träger etwa gegen Malaria auch nur ein bisschen weniger anfällig macht, verbreitet sich schnell. Heute dürfte sich - zumindest in Afrika - eine solche Selektion in Bezug auf ein Gen abspielen, das resistent gegen Aids macht: CCR5. Dass die gegen Aids resistente Variante schon in einem Teil der Population vorlag, liegt vermutlich an ihrer Wirkung gegen eine andere Seuche, die Pocken.
  2. Gene, die mit der Ernährung zu tun haben. Hier hat - in verschiedenen Weltgegenden zu verschiedenen Zeiten - eine radikale Veränderung stattgefunden: die agrikulturelle Revolution, damit die Umstellung von Jäger-und-Sammler-Kost auf Ackerbauer-Kost, sprich: viel mehr Kohlenhydrate. Das heißt, dass Gen-Varianten, die die Verwertung von Kohlenhydraten verbessern, im Vorteil waren. Das gängige Beispiel ist hier aber das für die Verdauung von Milchzucker zuständige Gen: Eine Variante, die auch noch bei Erwachsenen aktiv ist, hat sich z. B. in Europa mit der Rinderzucht durchgesetzt. In China ist sie in der Minderheit, die meisten Chinesen vertragen Milch nicht gut.
  3. Gene, die mit der Empfindlichkeit für Sonnenlicht oder Kälte zu tun haben. Hier hat die Migration aus Afrika nach Eurasien klarerweise die Bedingungen verändert.

So weit, so gut. Doch solche regionalen Unterschiede in der Evolution bringen Harpending zu einer weiteren provokanten These: „Wir werden einander nicht ähnlicher." Im Gegenteil: Die „Rassen" würden sich auseinanderentwickeln. Hier vermischt Harpending offenbar die Frühgeschichte (in der tatsächlich kaum Austausch zwischen den Kontinenten herrschte) mit der Neuzeit.

Es brauchte kein Darwinismus-Gen . . .

Dass Harpendings These von der genetischen Prägung der Kulturgeschichte zumindest eine krasse Übertreibung ist, zeigt ein Gedankenspiel: Wenn Gen-Fundamentalisten dieser Sorte in, sagen wir, 50.000 Jahren auf die rapide Entwicklung der Naturwissenschaften im 18. und 19. Jahrhundert zurückblicken, werden sie gewiss eine Gen-Mutation diagnostizieren, die diesen Wandel hervorgebracht hat. Wir heute wissen: Es waren nicht die Gene, es war die Kultur. Nicht einmal der Darwinismus hat sich via Darwinismus-Gen durchgesetzt.

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