Wuschel

Alle Geschichte allerdings ist eine Geschichte von Landnahmen.
Alle Geschichte allerdings ist eine Geschichte von Landnahmen.EPA (Feng Zi)
  • Drucken

Draußen bleiben. Hereinkom- men. Dableiben. Weggehen. Identisch sein wollen! Doch ach, Identitäten werden überschätzt. Wer bin ich schon, bloß weil ich hier auf Erden anwesend bin.

- Eins wollte ich nur noch sagen, sagte er. Irland hat, sagt man, die Ehre, das einzige Land zu sein, das niemals die Juden verfolgt hat. Wussten Sie das? Nein. Und wissen Sie, warum?
Die klare Luft brachte ein strenges Runzeln auf seine Stirn.
- Warum, Sir? fragte Stephen und begann zu lächeln.
- Weil es sie nie hereingelassen hat, sagte Mr. Deasy feierlich.
James Joyce/Hans Wollschläger: "Ulysses"

1   Draußen bleiben
sIdentitäten werden überschätzt. Wer bin ich schon, bloß weil ich hier auf Erden anwesend bin. Einer, der wie jeder von woher kommt und - verdammt - irgendwohin geht. Ein Etwas, das einen durch alle Veränderungen hindurch als Gleichbleibendes zu begleiten scheint, gehört einem womöglich gar nicht oder gehört einem so, wie der Nasenring dem Tanzbären gehört. Vermutlich ist Identität lediglich Zuschreibung. Nun kommt's aber auf die Autoren an, die da zuschreiben, damit man spürt, wie stark einem im Selbigskeitsnachen zum Kentern zumute ist oder aber doch zum Dahingleiten von den Sonnenspiegeln zu den Schattengefilden. Die Autoren der Zuschreibung sind zumeist Mächtigkeiten, gestützt auf Mehrheiten, auf massenhafte Gleichrichter.

Ich betrete die erste Klasse Volksschule, bin immerhin bereits sechs Jahre alt und kann Nasenbohren. Komme in die Klasse. Es schauen mich viele an. Was will der schwarze Wuschel mit der Riesennase, in die er aufgeregt hineinbohrt?

"Du bist falsch", sagt Viktor Fuchs, der Größte, der Stärkste, und heißt auch Viktor. Die Klasse unisono: "Er ist falsch. Draußen bleiben."
"Wie heißt du", fragt Frau Lißt, meine an Jahren alte künftige Lehrerin. - "Und du", antworte ich ihr. - "Raus!" Rausgehen. Draußen bleiben. Gar nicht erst hereinkommen.
"Das war bloß zur Strafe, weil er frech war", sagt Frau Lißt. Meine Mutter, mit erfahrenem Blick auf Nazissen: "Ach so? Fünf Jahre nach dem Tausendjährigen Reich sind wir bereits wieder zu frech?"
"Aha", macht die Lehrerin. "So ist das also. Entschuldigen Sie, Frau Schindel." Hereinkommen. Drinnen bleiben.
Vier Jahre lang hat Frau Lißt alle in der Klasse immer wieder strafweis mit dem Lineal auf die Finger geschlagen. Nur Monika nicht. Mich nicht. Zwei wuschelige Dunkle. Frau Lißt musste nämlich in ihrem Alter noch umlernen: Da sind die wieder. Die Dreißigerjahre sind wieder da. Man muss achtgeben. Das sind die Sieger. Die sinds nicht umzubringen. Die leben ewig.
Wir leben ewig. Gewissermaßen sterben wir alle jüdischen Tode bei lebendigem Leib. Ich meine: wir, die Überlebenden.
Als wir weg konnten aus Ägypten, waren wir zwar die Sklaverei los, aber wir waren ziemlich draußen auch. Im Sand. Am Sand. Wie kann man auf so einem vergleichsweise kleinen Stück Land, dem Sinai, 40 Jahre rumlatschen? Hatte sich hier bereits der Treibsand derer bemächtigt, die auf ihm stapften? Dauert es bloß 40 Jahre, um den Habitus eines Volkes grundzuzeichnen? Nun hieß es, Mazzen zu fressen. Nun hieß es herumzulungern, jetzt zerstreute man sich durch das Herumgetanze um ein Rind, jetzt zog man sich den Zorn zu von Moische. Schließlich gingen wir raus von dort und kamen rein mit Feuer und Schwert in unser eigenes Land, das auch damals nicht so ganz unbewohnt war. Einem alten Gemurmel zufolge sind wir Juden damals alle dabeigestanden, als Moses die Gesetzestafeln herunterschleppte und präsentierte. Wir alle standen dort, die Verstorbenen und die noch lang nicht Geborenen. Das Judentum stand da im Wüstensand, aber anstatt Maulaffen feilzuhalten wie üblich, musste es die Ohren aufsperren und Gestotter, Rede, Singsang hineinlassen. In welcher Form auch immer, das Gesetz drang ein in uns, und wir standen da, blöd wie jede Masse. Doch um zu überleben und den verdammten Sand loszuwerden und einst in Milchhonig verheißende Gefilde zu gelangen, mussten wir das Abstrakte, das Unsichtbare und seinen Buchstaben durchlassen durch unser aller Ohrenschmalz, das salzig-sandige, durch und hinein ins primitive Seelengeflecht und rauf in die Ganglien.
Niemand wollte das. Aber zur Knechtschaft mochte auch keiner zurück. Sos schluckten wir mit den Mazzen das Gesetz und spülten nach mit schwarzer Milch. Denns die weiße mussten wir uns erst verdienen, die honigsüße. Gesegnet sei du, du unsichtbares Etwas, das uns in allen Veränderungen als Immergleiches begleitet. Du, gesegnet sei du, du Humms, du Qrm, du Wrt. Gesetztes Gewort: Herr!

2.  Hereinkommen
Damals. Durchs Rote Meer ins verflucht-gelobte Land. Die Wellen teilten sich. Wir sahen es in der Bibelverfilmung des großens Cecil B. DeMille. Der alte Hahn, wie wir von Torberg wissen, seinerzeit in Prag sah es, wie wir später im Kino. Als das Judenvolk hernach - links Wellen, rechts Wellen - mittig trockenen Fußes hindurchschritt, schaute das Publikum und erschauerte. Doch der alte Hahn, kein Goj, rief laut aus: "Also aso war das nicht!"
Ich bin aber nicht so sicher, ob wir beim Gang durchs Rote Meer auch alle dabei waren. Marschierten die Mitglieder des Solidaritätskomitees für das gerechte Anliegen der Philister auch durch das Gotteswunder?
Alle Geschichte allerdings ist eine Geschichte von Landnahmen. Jenes Eindringens damals möchte ich nicht zur Leidensgeschichte jüdischer Identität rechnen, sintemalen wir womöglich erst damals und dorten begannen, mit uns identisch zu werden. Das Volk begriff sich vielleicht als Hebräer, als das israelitische Volk mit einem unsichtbaren und züchtenden Gott im Nacken. Dieses Unsichtbare in der Sandale, im Tempel, dann in den Wanderstiefeln, in der Lade, im Regal, letztlich in der Einblasdüse zur Seele, wir hatten es stets dabei. Zur Leidensgeschichte jüdischer Identität gehört es seit damals, dass man diese uns andauernd wegnehmens wollte durch Vertreibung, Zwangstaufe und Ermordung und dadurch stärkte. Aber auch, dass wir sie zu verlieren drohten, wenn wir sie haben durften, leben durften, bleiben durften. Wo eingedrungen, weil von woanders vertrieben, wollten wir uns schon gerne dem Neuen anverwandeln, aus dem Judenvolke in die Judenreligion hinüberwandern.
Die Zeiten des Hereingekommenseins in der Diaspora in die verschiedenen Zentren ließ uns ja mächtig, na ja ein bisschen aufblühen, ob in Persien, in Spanien, ob in Polen und Litauen, ob in Mitteleuropa. Die Taufe als Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft, bespöttelt von Heine, aber genommen auch von ihm, brachte das Identischseinwollen gewaltig ins Flirren.
Da gehen zwei Juden auf der Straße. Einer bleibt stehen: "Warte heraußen. Ich geh rein und lass mich abissl taufen."
Als er wieder herauskam, fragte ihn sein Freund neugierig: "Na, hat's weh getan?"
"Schnauze, Saujud!"

3.  Dableiben
Wir haben uns festgekrallt im 19. sund 20. Jahrhundert. Aus Polen sind wir gekommen, um zu bleiben, aus Russland. Vorher schon sind wir gekommen worden aus Iberien nach den Niederlanden, das Land der Griechen mit der Seele suchend, zu den Türken und sogar wieder dorthin, von wo wir einstens vertrieben wurden, nach Palästina. Immer wieder hiebei die wundersamen Anverwandlungen: ans Berlinerische, Wienerische, Hanseatische, Französische, Britische, Niederländische. Zur Leidensgeschichte jüdischer Identität gehört es sich, dass wir buchstäblich überall sind, auch in Japan, und nirgends bleiben können, wenn's darauf ankommt. Elias Canetti konstatiert diese Wanderschaft mit dem Wüstensand zwischen den Zehen just in jener Zeit, als wir eine Zeit lang gut und gerne geblieben waren, um hernach umso gründlicher ins Jenseits befördert zu werden.
Wir sind geblieben, um zu sterben: Egon Friedell, der die Juden ohnedies nicht besonders ins Herz geschlossen hatte, brachte sich eher um, als ins Exil zu gehen. Denn das Kaffeehaus konnte man nicht mitnehmen, und die Sprache würde ihm verdorren in der Fremde. Aber die, welche weggehen s8;0konnten und es taten, also denen es gelungen ist, sich nachhaltig verjagen zu lassen, ohne danach wieder eingefangen und gemetzelt zu werden, waren erfüllt von einer rätseligen und unausrottbaren Liebe zu den Hinausschmeißern. Daher wurde ihnen sämtlichess Exilbrot wieder zu Mazzoth, sie waren auf etwas geworfen, was sie vielleicht gar nicht mehr sein wollten: Juden. Und es war ihnen das Gefühl, in der Welt zu sein, abgeschnitten. Es kam nicht wieder, es war verdorrt wie die Muttersprache.
Gerti Schindel war ihrem Verständnis zufolge keine Jüdin mehr. Sie entlief dem Judentum und kam an im Kommunismus als alt-neuer Eschatologie. Sie wollte bleiben ims Wienerischen und im Weltrevolutionären. Wohl ging sie neunzehnsiebenunddreißig nach Paris, aber nur, um im Spanienkomitee die Republikaner zu unterstützen, die eben gegen Franco die große Schlacht verlieren. Sie kehrte heim neunzehnhundertdreiundvierzig unter falschem Namen. Verhaftet wurde sie als Kommunistin. Nach Auschwitz-Birkenau kam sie als Kommunistin. Sie war Schutzhäftling der Gestapo, roter Winkel, dann doch und unterhalb der gelbe, beides Farben halb. Sie nannte sich eine Hitlerjüdin, denn der Herr Hitler hat sie wieder zur Jüdin gemacht. In Hodensacks und Eierstock ihrer Eltern war sie aus Galizien gekommen nach Wien, um zu bleiben. Die sandige Sandale, sie war bloß eine Phantasmagorie, welche allerdings sich an der Rampe von Birkenau mächtig materialisierte, um zu zerfallen. Paul Celan fasste den Sachverhalt zusammen: Der Sand aus den Urnen.

4.   Weggehen
Wir sind geblieben, um zu gehen.
Wir sind Juden, weil religiös. Wir sind Juden, weil es Antisemiten gibt. Wir gehören zum jüdischen Volk. Es gibt gar kein jüdisches Volk mehr, na schön, es gibt Israelis.
Zur Leidensgeschichte gehört dieses Perhorreszieren, dieses Hin und Her.
Demgemäß muss ich herausschälen dürfen aus dem großen Leidensbegriff, welcher aus der Blutspur, aus dem Blutstrom, aus dem Blutmeer gewachsen und gediehens war, den kleinen Leidensbegriff, nämlich den Witz der Sache. Zur jüdischen Identität außerhalb des Glaubens gehört, dass alle Welt weiß, was ein Jud ist, eine Jüdin, bloß die Juden wissen es nicht. Und wussten es doch. Denn zwar ist etwa meine Mutter aus dem Judentum ausgetreten, aber das Judentum ist nebbich nicht ausgetreten aus ihr. Jetzt sitzt sie mit 95 im Maimonideszentrum zu Wien, und als man sie einmal zum Passahfest herunterholen wollte aus ihrem Zimmer oben, sagte sie: "Lasst's mich aus. Ich bin keine Jüdin."
Später, als ich davon erfuhr, sagte ich zu ihr: "Spinnst du? Was heißt, du bist keine Jüdin? Fürn Hitler warst du Jüdin genug!" - "No-ja", sagte sie. "Ich sitze da. Wo ist er? Außerdem, wenn ich runtergeh', muss ich mit den anderen beten." - "Du musst gar nicht beten. Und Wein kriegst du auch." - "Ach, wenn ich das gewusst hätt'?"
Wir sind immer noch und immer wieder in dieser auch von Canetti festgestellten Vielfalt. Wir sind in diesem Individualismus drin, der das Massenhafte von Identität schwer begreiflich macht. Vielleicht kann man das im Verändern gleich bleibend Begleitende auch ICH nennen.
Wenn wir dann also sagten, mit Auschwitz greift sich die Identität das Individuelle und mahlt es zur Masse, zur eindeutigen Judenmasse, dann erstünde uns hieraus ein schauderhaftes Erbe. Doch kaum der Shoah entkommen oder nachgeboren, faltet sich jüdische Identität wiederum in ihre zahllosen Entitäten und exploriert sich mit unzähligen Zungen. Aus Birkenau ist uns Israel erwachsen, ob's uns passt oder nicht, und - um es auf einmal herauszusagen - dort sind wir hingegangen, um zu bleiben. Die bloße Existenz Israels sichert den Juden in der Diaspora ihr Leben und macht das Leiden somit etwas luxuriös. Hier kommt die Leidensgeschichte jüdischer Identität zur Witzgeschichte jüdischen Lebens, und dorthin gehört sie auch. Aus dem großen Weggehen ist ein gültiges Bleiben geworden im Land Israel.

5.   Ach so
An Israel streitet es sich munter und trübe weiter. Am Existenzrecht des Judenstaates wurde und wird gerüttelt, Recht und Unrecht werden verteilt, Rechtshabereien und Linkshabereien führten und führen zu unentwegten Debatten, umstößlich sei das Unumstößliche, unumstößlich das Umstößliche. Die Juden untereinander - warum soll es auf einmal anders sein als seit je - fallen mit großer Schneidigkeit und nicht selten mit heftiger Schäbigkeit übereinander her, können sich feind sein wie irgendwer sonst zu wem. Zur Leidensgeschichte jüdischer Identität im Kleinen gehört dieser Sachverhalt.
Doch eines spross besonders herauf aus den letzten zweieinhalb Jahrhunderten. Schnitzler nannte es das Problem der Asoi-Juden. Dazu natürlich so eine Geschichte:
Zwischen den großen Kriegen; in der polnischen Eisenbahn sitzt ein armer und ziemlich mieser kleiner Jude, ein Nebbich, durch dass Wohlwollen des Schaffners in der ersten Klasse und allein. Da lässts sich's knotzen! In Kattowitz tut sich die Tür auf, und ein Gentleman tritt ein. Im Tweedanzug, die "Times" eingerollt unter der Achsel, setzt sich der Sir nieder, sitzt gegenüber, tippt höflich oder ironisch sich mit dem Zeigefinger auf den Schirm seiner karierten Kappe und beginnt, in der "Times" zu lesen. Da ist es aber sehr still im Abteil. Der Jude versteckt seine schwarzen Fingernägel in den Fäusten, biegt sich die Beine nach hinten, so dass die dreckigen Schuhe unter der Sitzbank verborgen bleiben. Er hält, sooft er kann, den Atem an, damit der Ruch seiner Mundströmung den feinen Pinkel gegenüber nicht molestiere. So zusammengeknickt und eingekrampft, fährt er gegen Krakau. Nach einer Ewigkeit, nach zehn Minuten rollt der Gentleman die "Times" wieder zusammen, legt sie neben sich, beugt sich zum Juden vor, sodass sein herrliches After Shave den Nebbich noch stärker zusammenschrumpfen lässt, und fragt mit sorgfältig modulierter Stimme: "Sagen Sie, mein Herr, auf was fällt eigentlich heuer Jom Kippa?"
Nach einer Pause, die keine Ewigkeit swährte, antwortete der arme Jude: "A soi." Und er zeigte her seine Fingernägel, und er tat hervor seine Schuhe, und er blies seinem Gegenüber erleichtert, aber ungeniert seinen Muli ins Gesicht.
Diese Asoi-Juden, Ergebnis jahrhundertelanger Demütigung, ranken sich am Ehrfurchtsbaum für das Nichtjüdische, das Deutsche, das Christliche, das Gojische empor.
Als ich mich im Sommer neunzehnhundertsiebenundsechzig in Berlin aufhielt, war mein Messianismus erfüllt von starker Liebe zu schönem Sozialismus, war mein Gerechtigkeitsbegriff durchdrungen von leidenschaftlicher Parteinahme für die unterdrückten Völker der Dritten Welt. Es war schön, einigen Arabern in Berlin gleichzeitig zu bekennen, dass ich Jude sei und ganz auf ihrer Seite. sIsrael sei wie Südafrika, Zionismus sei Rassismus, und das Übrige im Repertoire. Die Araber klopften mir auf die Schultern. Respekt. Als Säugling hat dieser Genosse den Holocaust überlebt, jetzt kritisiert er die Zufluchtsstätte Israel bis in die Grundfesten. Ein toller Kerl.
War das schön. Da stand ich in meiner revolutionären Menschlichkeit, ah... Es ist ein so nobles Gefühl, das so einen Juden durchherrscht, wenn er vor den Nichtjuden ein schärferer Kritiker ist als jene. Womöglich verwendet so einer noch Kategorien des Judentums zur Untermauerung. Gerechtigkeit etwa: Im Namen der Gerechtigkeit haben wir jedem das Unrecht wiedergutzumachen, das er uns angetan hat - und naturgemäß als Zuwaage, was wir den anderen antun.
Für mein Empfinden habe ich etwas lange gebraucht, um auf das Eitle und Selbstgerechte einer solchen Position draufzukommen. Meine Sympathie zum Projekt Israel als jüdische Heimstätte hat spät begonnen.
Und es sind natürlich Juden, die einem dann vorwerfen, man hätte die linken Positionen verraten und das Schicksal der palästinensischen Kinder, die unter der israelischen Besatzung besonders leiden, sei einem egal. Ein politischer Asoi-Jude, der sich alsdann nicht den Deutschen und Christen, sondern dem antiimperialistischen Kampf andient, sich selbst als gerechter und sozial empfindender Mensch fühlt und es ausstellt, mag so eine Selbstgerechtigkeit entwickeln, die dem Gegner gleicht, den er bekämpft. Der Antischaron schaut in den Spiegel, Scharon schaut aus dem Spiegel heraus. Doch das sind bereits die Schmankerln in der kleinen Leidensgeschichte jüdischer Identität.
Dabei sollte ich gar nicht ungeübt sein, ein Land zu lieben und zu verteidigen, in dem ich nicht lebe. Als Jungkommunist sog ich die Liebe zur Sowjetunion mit der Muttermilch ein, eine herrliche, eine rote Milch. In der Studentenbewegung tätig, brach ich sehr bald mit der Sowjetunion, um mich unverzüglich China zuzuwenden. Israel ist also die dritte Liebe, doch wer weiß:
Der stolze Vater von drei Söhnen wurde ss11;0nach diesen befragt. "Avi, der ist in der Deutschen Demokratischen Republik." - "Was tut er dort?" - "Baut auf den Sozialismus." - "Und Isi, dein Zweiter?" - "Der ist in der Sowjetunion." - "Wie das?" - "Na baut auf. Den Sozialismus." - "Und Kuba, dein Jüngster?" - "Israel." - "Verstehe. Baut auf, baut auf den Sozialismus." - "Seid ihr meschugge? Im eigenen Land?"
Die dritte Liebe, wer weiß: Ich hätte nichts gegen einen Sozialismus in Israel. Einen spezifischen. Einen, welcher der Region Frieden bringt.
Der Schriftsteller Amos Oz sagt: "Kompromiss, das ist Leben." So etwas schlägt wahrlich merkwürdig an, wer mits dem Spottlied von Tucholsky auf die Sozialdemokratie aufgewachsen ist. Das war das Lied vom Kompromiss. "Einerseits und Andrerseits. So ein Ding hat seinen Reiz."
Doch wenn wir Rechts- und Linkshabereien hinter uns lassen wollen, sollten wir diesen Satz von Chawer Oz womöglich aufs innere Stirnband drucken. Dann fängt die kleine Leidensgeschichte jüdischer Identität erst richtig an. Die große aber ist vielleicht vorbei. 

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.01.2008)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.