Wo Gehirn spritzt, kommen die Fliegen

(c) AP (Gallimard/HO)
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Jonathan Littells Roman „Die Wohlgesinnten“ erscheint auf Deutsch – die FAZ macht dafür Stimmung.

Dieses Werk stiftet Streit. Ihn wollen wir führen. Eben deshalb, weil uns das letzte Wort nicht einfällt.“ Man muss gar nicht immer das letzte Wort haben, für gewisse Zwecke reicht es, das erste zu haben. Das weiß wohl auch Frank Schirrmacher, Herausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und Verfasser der eingangs zitierten Zeilen. In bescheidenem Majestätsplural adressiert er seit diesem Wochenende im Internet seine Leser, um ihnen eine gewaltige Haupt- und Staatsaktion zu erklären: Audio- und Videodateien, ein Diskussionsforum für Experten und Leser – all das, einen riesigen elektronischen „Reading Room“, kurz gesagt, hat die Zeitung für einen Roman eingerichtet, der noch gar nicht erschienen ist. Darin werden nun auch in täglichen Portionen die ersten 120 Seiten besagten Buchs publiziert.

Was ist der Gegenstand derartig schriller Voraborchestrierung? Er heißt „Die Wohlgesinnten“, erschien im Sommer 2006 unter dem Titel „Les Bienveillantes“ im französischen Original und kommt Ende Februar in einer 1381 Seiten umfassenden deutschen Übersetzung heraus. Der heute 40-jährige Verfasser Jonathan Littell ist der Sohn des bekannten US-Thriller-Autors Robert Littell, er wuchs in Paris auf und lebt heute, sehr medienscheu, in Barcelona. Sein Roman wurde in Frankreich für seine literarische Kraft gerühmt, er war das bei weitem meistdiskutierte Buch des Jahres, erhielt den wichtigsten französischen Literaturpreis, den Prix Goncourt, und verkaufte sich bis heute in über 800.000 Exemplaren. Kollektive Räusche sind der individuellen Intelligenz nicht immer förderlich: Die Zeitung „Le Monde“ verglich den Roman sogar mit Tolstoi, Jorge Semprún pries „Les Bienveillantes“ mit prophetischem Selbstbewusstsein als den „Roman des Jahrhunderts“.


In der Seele eines SS-Monstrums

Die literarische Qualität war zwar eine Voraussetzung für das enorme Interesse, nicht aber der eigentliche Grund. Für Aufregung sorgte vor allem die monströse Behandlung eines monströsen Themas: Ein jüdischer Autor schreibt die fiktive Lebensbeichte eines in Frankreich untergetauchten reuelosen SS-Obersturmbannführers, der im Krieg an der Perfektionierung und Umsetzung des Holocaust beteiligt war.

Ein sonderbarer Brocken, könnte der kleinste gemeinsame Nenner für Befürworter und Gegner des Romans lauten. Die Geschichte von Littells schwulem Protagonisten Maximilian Aue führt durch die Ostfront, von Polen bis Stalingrad, beeindruckt durch unerhörte Präzision im historischen Detail, gleichzeitig schießt der Realismus über sich hinaus, mündet in quälend detaillierte Orgien von Perversionen und im Stil von Gewaltpornos präsentierte Bestialität. Blut und Sperma fließen, Gehirn spritzt, und der Held, der eigentlich die Banalität des Bösen demonstrieren sollte („Die normalen Menschen sind die wahre Gefahr. Und wenn Sie davon nicht überzeugt sind, brauchen Sie gar nicht weiterlesen“), wirkt zunehmend wie eine unglaubwürdige Figur aus US-Horrorthrillern, vor allem, wenn der mit seiner Schwester Inzest treibende Aue schließlich noch seine Mutter umbringt.


Die unbändige Nazi-Mode

„Eine Nazi-Gruselgeschichte für französische Leser“, schrieb „Die Presse“ 2006 über diesen Versuch, in einer historisch realistischen Szenerie die wahre Natur des (Nazi-)Bösen zum Vorschein zu bringen. Anders als Michel Tournier, der Autor des „Erlkönig“, ist Littell mit der deutschen Kultur unvertraut, Aue denkt und spricht, wie kein Nazi je gesprochen hätte. Die französische Originalversion belustigte deutsche Leser außerdem durch irrtümliche Verballhornung und falsche Verwendung deutscher Ausdrücke und viele stilistische Fehler des halbamerikanischen Autors. Der Hauptgrund des Unbehagens aber war ein anderer: Schon ein französischer Verleger hatte den Roman wegen des faszinierten Entsetzens, das er auslöse, abgelehnt, viele folgten seiner Kritik.

Littell fügt sich in Frankreich in eine altbekannte unbändige Mode: Alles, was mit SS oder Nazis zu tun hat, wird ungeheuer lustvoll rezipiert. Aber eineinhalb Jahre nach Erscheinen ist doch ein wenig Ernüchterung eingekehrt, viele Leser, stellte sich heraus, gaben bei der Lektüre irgendwo an der Ostfront auf. Dafür sollen nun die deutschen (und deutschsprachigen) Leser aufmarschieren. Über eine halbe Million Euro hat der Berlin Verlag angeblich für die Übersetzungsrechte gezahlt. Und, geht es nach dem Herausgeber der FAZ, soll aus der individuellen offenbar eine kollektive Lektüre werden, eine nationale Debatte, die x-te über NS-Zeit, Täter und Opfer, Vergangenheitsbewältigung et cetera et cetera.


„Die Henker reden überhaupt nicht“

Claude Lanzmann, ehemaliger Résistance-Kämpfer und Regisseur des berühmten, nur aus Zeitzeugen-Interviews bestehenden neunstündigen Dokumentarfilms „Shoah“ von 1985, gehörte in Frankreich zu den schärfsten Kritikern der „Henker“-Perspektive des Romans. Nach einer Begegnung mit dem Autor soll er sein Urteil revidiert haben, hieß es später in Medienmeldungen. Tatsächlich klingt ein Interview, das die FAZ vergangenen November publizierte, nicht nach Revision, sondern Resignation. „Es gibt eine andere Form des Vergessens: den Wahn des Erinnerns, wie er heute wütet“, sagt Lanzmann da. Und: „Littell hat die Sprache der Henker erfunden. Doch für mich sprechen die Henker nicht so wie bei Littell – die Henker reden überhaupt nicht.“ Hier spricht ein Mann, der nicht versteht, wie Nachgeborene mit jener „Vergangenheit“ umgehen, die er einmal als schreckliche Gegenwart erlebte.

Hat Littells Roman „Die Wohlgesinnten“ auch nur irgendeine Bedeutung für das Verständnis des Holocaust? Die drohende Antwort angesichts der für das Buch in Gang gesetzten inszenatorischen Riesenmaschinerie könnte lauten: Er wird sie bekommen. Vielleicht wird er sogar Symbol einer Zäsur. Die Zukunft, wenn die letzten Zeitzeugen gestorben sein werden: Tote Museen auf der einen Seite, auf der anderen in grenzenlose Freiheit entlassene Mythen, in denen sich kein Opfer mehr wiederfindet. Und Henker, die zu reden beginnen wie Hannibal Lecter, zum Gruselgaudium des Publikums, so beklemmend fast wie aus dem Iran herüberlachende Holocaust-Leugner.

Littells Roman kann die Freiheit der Literatur für sich reklamieren. Eine andere Qualität erhält seine Darstellung, wenn sie zum nationalen Debattenstoff stilisiert wird. FAZ-Herausgeber Schirrmacher hat Übung in dieser Rubrik. Das Pathos, mit dem er Littells neuen Roman umräuchert, erinnert an seinen offenen Brief zu Martin Walsers Roman „Tod eines Kritikers“. Damals brachte Schirrmacher medienwirksam den „Skandal“ in Gang, indem er Walser einen symbolischen antisemitischen Mord an Marcel Reich-Ranicki vorwarf (was ihn nicht daran hindert, heuer Walsers neuen Roman über Goethes letzte Liebe vorabzudrucken). Es ist derselbe Tonfall auch, in dem Schirrmacher 2006 die „Enthüllung“ über Günter Grass' Mitgliedschaft bei der Waffen-SS kommentierte. Mit welchen Lobhudeleien gegenüber dem ahnungslosen Autor jenes Interview erheuchelt wurde, das die FAZ dann als Günter Grass' „Geständnis“ verkaufte, darüber hat sich Grass vor einigen Monaten im Wiener Volkstheater geäußert.


Die vermeintlich „Wohlmeinenden“

„Dieses Buch hat einige große Passagen und Nebenstränge, ist aber auch über einige Strecken fast unlesbar, es ermüdet durch die Darstellung ewiger Behördenquerelen, und es gelingt ihm oft nicht, seine Hauptfigur plastisch werden zu lassen.“ Diese wenig begeisternde Meinung über Littells Roman stammt ausgerechnet aus der Internetbotschaft jenes Medienmachers, der aus dem Buch eine deutsche Debatte machen will. „Seid ihr überhaupt sicher, dass der Krieg vorbei ist?“, fragt der Titel seines Textes. Sicher ist: Es gibt viele, die Interesse daran haben, den Krieg nicht enden zu lassen. Von diesen nur vermeintlich „Wohlmeinenden“ erzählt auch Littell. Die in Wahrheit gar nicht wohlmeinenden Furien treten übrigens in einem Stück Jean-Paul Sartres als Fliegen auf. Fliegen sind es auch, die in den Massengräbern der Opfer von Maximilian Aue und Co. gierig um die Toten schwirren. Pathos und Majestätsplural zum Trotz hat man den Eindruck: Es sind wieder mehr geworden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.02.2008)


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