Scharia und Demokratie

Der Islam als Teil Europas hat die Aufgabe, zur Bewahrung der demokratischen Werte beizutragen und sich von spaltenden Denktraditionen zu distanzieren.

Die Präsenz der Muslime in Europa ist eine besondere Herausforderung für die hiesige Politik und Gesellschaft. Die steigende Zahl von Muslimen und Moscheen in Europa und nicht zuletzt die muslimischen Schüler an den öffentlichen Schulen stellen eine unvorhergesehene Herausforderung für Politik, Wirtschaft und Gesetzgebung dar.

Für die Muslime ihrerseits besteht die neuartige Erfahrung vor allem darin, als Minderheit in einer pluralistischen Gesellschaft zu leben, sich als Teil dieser Gesellschaft zu verstehen und an ihr zu partizipieren. Das Leben in Europa fordert sie also heraus, ihre Religion in ihrer neuen Gesellschaft neu zu definieren. Diese Herausforderung impliziert eine intensive Wertediskussion, da es in diesem Zusammenhang vor allem darum gehen muss, wie die Muslime sich mit demokratischen Werten identifizieren können.

Im innerislamischen Diskurs toben heftige Auseinandersetzungen darüber, ob Muslime als loyale Bürger eines europäischen Staates im Widerspruch zur Lehre des Korans stehen. Gibt es eine Grenze oder Ausnahme für die Achtung der demokratischen Werte und der Verfassung des Landes?


Neues Bürgerverständnis der Muslime

Die jüngste Entwicklung zeigt, dass die Muslime in den europäischen Staaten ein neues Bürgerverständnis entwickeln, das ihrer islamischen Identität nicht widerspricht. Scheich Faysal Mawlawi als Vize-Chairman des European Council for Fatwa and Research warnt die Muslime vor dem klassisch-theologischen Bürgerverständnis, das die Welt in islamisch und unislamisch spaltet. Der türkische Islamwissenschaftler Hayrettin Karaman betont die Möglichkeit muslimischer Identität in einer säkularen Gesellschaft.

Die jungen Muslime haben verstanden, dass man mit dem Traum von einem anderen Rechtssystem in Europa nicht partizipieren bzw. nicht die vollen Bürgerrechte genießen kann. Sie fühlen sich hier zunehmend heimisch und verstehen sich immer mehr als europäische Muslime. Das setzt voraus, dass sie sich noch stärker in die gesellschaftlichen Belange einbringen und engagieren.

Die jüngste Äußerung des Erzbischofs von Canterbury, Rowan Williams, dass die Einführung „gewisser Teile der Scharia“ in Großbritannien unvermeidlich sei, ist eigentlich als Schlag gegen diese Entwicklung zu verstehen. Eine solche Segregation stärkt die fundamentalistische Haltung und zementiert eine Grundannahme der klassischen Theologie, nämlich dass sich Bürgerschaft nur über die Religiosität definiert. Darüber hinaus wird gerade dadurch den Muslimen die Fähigkeit abgesprochen, eine religiöse Identität auf der Basis demokratischer Werte zu entwickeln.

Warum brauchen die Muslime Europas die Scharia? Etymologisch bedeutet Scharia „breiter Weg, der zur Quelle der Erkenntnis (Gott) führt“. In der Wissenschaft werden darunter die Gebote und Verbote des Islam verstanden. Diese Verwendung des Begriffs findet sich nicht im Koran, sondern ist auf eine spätere Entwicklung zurückzuführen. Durch das islamische Recht werden diese Gebote und Verbote klassifiziert und kodifiziert. Das islamische Recht ist der Weg zur Scharia, und die Scharia ist der Weg zu Gott.


Der Koran und die Fragen der Gegenwart

Durch die theologische Geschichte des Islam wurde aus dem Weg eine eigenständige Religion, die nicht selten als Hindernis zwischen den Menschen und Gott steht. Damit meine ich, dass das Gesetz zu Gott geworden ist und die Muslime den Sinn des Korans und die Sunna des Propheten durch die kodifizierten Gesetze aus den Augen verloren haben. Zurzeit machen sich die Muslime Gedanken darüber, wie sie den Sinn der Offenbarung und die Aussagen des Propheten von dieser historischen Last befreien und in der Gegenwart verstehen können. Einzelne Teile des Korans, die aus dem Zusammenhang gerissen werden, reichen nicht aus, um die Fragen zu beantworten, die für die Zukunft der Muslime in Europa von großer Bedeutung sind. In weiten Kreisen wurde verstanden, dass der alte Weg die Muslime nicht zu Gott, sondern zum Chaos führt.

In der Zukunft wird es notwendig sein, dass die Muslime ihren Weg zu Gott auf der Grundlage demokratischer Werte finden, damit in einer pluralen Gesellschaft – zu der es keine Alternative gibt – keine neuen Gräben zwischen den Religionen aufgerissen werden. Es wird nicht darum gehen, die Unterschiede hervorzuheben, sondern sich für die Werte einzusetzen, die allen, unabhängig von ihrer Herkunft, Hautfarbe oder Religion Grundrechte, Bürgerrechte garantieren.


Bürger Europas

Die Betonung der Unterschiede hat nicht immer einen theologischen Hintergrund, sondern ist politisch motiviert. Die Rede von Ministerpräsident Reçep Erdogan nach dem tragischen Vorfall in Ludwigshafen, in der er unterstrich, dass die Türken eine andere Religion, eine andere Sprache haben und einer anderen Nation angehören, folgte einer politischen Argumentation, die die Unterschiede hervorhebt und vor den Gefahren warnt, die es angeblich mit sich bringt, inmitten der Gesellschaft zu leben. Mit dieser Politik der Spaltung ist den Muslimen in Europa nicht gedient. Sie sind nicht das Instrument der Außenpolitik eines bestimmten Landes. Sie sind Bürger Europas. Die Muslime sollten sich auf ihre Bürgerrechte und -pflichten besinnen und sich als Bürger Europas positionieren. Kein europäisches Land kann sie als seine Bürger schützen, wenn sie sich nicht loyal verhalten.

Andererseits besteht eine wichtige Voraussetzung für Integration darin, dass die europäischen Staaten den Muslimen volle Bürgerrechte gewähren und aufhören, sie – sozusagen unter Generalverdacht – als Teil ihrer Herkunftsländer zu betrachten. Es ist bedauerlich, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht in der Lage war, den Familienangehörigen der Opfer in Ludwigshafen ohne den Umweg über die Türkei als Bürgern der BRD beizustehen.

Die Muslime haben die Aufgabe, ihre Zukunft in Europa mit einem neuen Selbstbewusstsein in die Hand zu nehmen. Das kann nur gelingen, wenn sie sich zu den Werten in Europa bekennen, die ihnen Religionsfreiheit und andere Bürgerrechte garantieren, und einen Islam in Europa etablieren, der die Gesellschaft bereichert und den Frieden fördert.


Besinnung auf Kultur des Pluralismus

In ihrer Geschichte trugen die Muslime zu den geistigen Grundlagen Europas nicht nur durch die Rettung des griechischen Denkens bei, sondern auch durch eigene Beiträge zur europäischen Wissenschaft und Kultur. Aus dieser Tradition heraus ist es möglich, sich auf eine Kultur des Pluralismus zu besinnen und sich von einem kolonisierten Denken zu befreien, demzufolge Demokratie und Modernität im Widerspruch zum Islam stehen. Der Islam als Teil Europas hat die Aufgabe, zur Bewahrung der demokratischen Werte beizutragen und sich von spaltenden Denktraditionen zu distanzieren.

V.-Prof. Dr. Ednan Aslan lehrt Islamische Religionspädagogik am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien.


meinung@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.02.2008)


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