Hätte ich am 12. März 1938 geschossen?

Wo ich dabei gewesen wäre, kann ich nicht beantworten. Auf jeden Fall bin ich heute stolz, dass es einige gegeben hat, die zum Widerstand bereit waren.

Uns Nachgeborenen wird oft – nicht ganz zu Unrecht – der Vorwurf gemacht, wir würden die Geschichte der 30er- und 40er-Jahre zu sehr aus der Optik der Jetztzeit betrachten, ganz nach dem Motto Werner Bergengruens: „Immer am lautesten hat sich der Unversuchte entrüstet.“ Daher versuche ich mich – so gut es geht – 70 Jahre zurückzuversetzen. Also: Hätte ich am 12. März 1938 auf die Soldaten der einrückenden Deutschen Wehrmacht geschossen? Immerhin war ich im Bundesheer Oberleutnant, war also im selben Rang und Alter wie 1938 viele meiner Chefs, z.B. der erste Generaltruppeninspektor des Bundesheeres Erwin Fussenegger.

Zum Schießen hätte es eines Befehls bedurft. Und der kam nicht – wie wir wissen. Hätte ich aber einen solchen Befehl akzeptiert? Oder ihn verweigert? Wäre ich unter den Visionären gewesen, die das mörderische Ende vorausgeahnt haben? Oder wäre ich, wie viele Österreicher, von der Begeisterung weggespült worden, die den einrückenden deutschen Soldaten entgegenschlug?

Das kam, wie wir inzwischen aus vielen Beispielen wissen, sehr auf die persönliche Prägung durch die engste Umgebung an. Mein Großvater sah sehr früh, wohin uns das Abenteuer Hitler führen würde. Unter seinem Einfluss wäre ich vielleicht unter den Skeptikern gelandet. Wäre ich anderen gefolgt, Kameraden oder Vorgesetzten, die noch unter der Schmach der Niederlage von 1918 litten, wäre ich wohl im großen Lager der Verführten gelandet, jener, die sich Hoffnung auf die Dynamik machten, die seit 1933 für Soldaten im Rumpfösterreich spürbar wurde. Befehlstreu wäre ich wohl gewesen, denn den Soldatenberuf trat man nach den blutigen Erfahrungen des 1. Weltkrieges nicht an, um den neuen Autoritäten bei erstbester Gelegenheit die Gefolgschaft aufzukündigen. Einfacher wäre die Entscheidung wohl gewesen, wenn die Politik eine breite Mehrheit geboten hätte.

Ist das Was-wäre-wenn-Spiel seriös?

Lässt sich dieses Was-wäre-wenn-Spiel seriös weiterführen? Hätte ein (Abwehr-)Kampf des Bundesheeres überhaupt die geringste Chance eines Erfolges gehabt? Um etwa den Westmächten Zeit zu geben, Schritte gegen Hitler zu setzen? Daran glaubt kaum jemand. Hätte Hitler bei einem klar demonstrierten Abwehrwillen dennoch die Wehrmacht in einen Bruderkrieg geschickt? Der Einmarsch entsprang ja nicht einer langen Planung, sondern der Zuspitzung der Märztage, und die Pannen waren selbst bei diesem „Blumenfeldzug“ nicht zu leugnen.

Zum „Bruderkrieg“ wäre es so oder so gekommen. Die Nazis fühlten sich in den Märztagen bereit so stark, dass sie den Boden für eine Machtübernahme durch eine „Volkserhebung“, wie sie in der Steiermark, besonders in Graz, ja bereits seit Ende Februar '38 im Gange war, bereitet sahen. Mussten also nicht Schuschnigg als nomineller Verteidigungsminister und sein Staatssekretär für Heerwesen, General der Infanterie Zehner, Angst vor Befehlsverweigerung eines Großteils seiner Soldaten haben? Die Polizei war ja schon beim Juli-Putsch '34, der seinen Vorgänger Engelbert Dollfuß das Leben kostete, von Nazis breit unterwandert.

Nein, stellt der prominente Zeitzeuge Emil Spannocchi fest, ausgemustert zum Leutnant noch im Februar 1938, er und seine Kameraden seien entschlossen gewesen zu kämpfen. Aber wären dem Befehl auch die einfachen Soldaten gefolgt? Andere Zeitzeugen sehen das anders. Der NSR, der Nationalsozialistische Soldatenring, hat etwa, so der bekannte Militärhistoriker Erwin A. Schmidl, schon am 11. März in Kärnten das Kommando „übernommen“.

Der letzte Generalstabschef des gesamten Bundesheeres, Feldmarschallleutnant Alfred Jansa, wollte bekanntlich das Bundesheer auf einen Abwehrkampf, wenn auch nur einen kurzen, einstellen. Er wurde auf Druck Hitlers Anfang 1938 pensioniert. Sein Nachfolger, General Beyer, war bereits ein betont Nationaler. Wer repräsentierte das Denken der Heeresspitze: Jansa oder Beyer? General Zehner soll nach Aussagen Jansas wenig von einem Schießbefehl gehalten haben: „Nach zwei Tagen haben wird die Munition verschossen, und dann müssen wir nach Hause gehen.“ Belohnt wurde ihm diese Haltung durch die Nazis nicht. Er starb unter bisher nicht völlig geklärten Umständen bei einem „Besuch“ der Gestapo. Eine Fernsehdokumentation will jetzt Licht in sein Ende bringen. Er wurde von den Okkupanten wie viele seiner regimetreuen Kameraden abserviert, sodass der deutsche Militärattaché Generalleutnant Muff Ende '38 stolz nach Berlin melden konnte: „Die gegnerische Führungsschicht ist beseitigt.“

Blumen und Gewehrkugeln

Der Rest ist bekannt. Die Bilder jubelnder Österreicher wurden inzwischen zigtausendmal gezeigt. Sie passen zum Rat des Chefs der Abteilung Landesverteidigung im deutschen Generalstab, des damaligen Oberst Alfred Jodl, der seinen Kameraden riet: „Lassen Sie alle Kraftfahrer unbedingt Brillen aufsetzen, sonst werden ihnen durch die Blumen die Augen ausgeschossen.“ Bereits 15 Monate später, im Polen-Feldzug, wurden die Blumen durch Gewehrkugeln ersetzt. Bis zum schrecklichen Ende des Krieges im Mai 1945 fielen 230.000 österreichische Soldaten, fast 60.000 gerieten in Gefangenschaft, mehr als 24.000 Zivilisten starben bei alliierten Luftangriffen. Angesichts dieser Zahlen ist die Bewertung wohl eindeutig.

Wo ich dabei gewesen wäre, kann ich mit Sicherheit nicht beantworten. Ob ich Widerstand geleistet hätte, ein zweiter Bernardis oder Szokoll geworden wäre, auch nicht. Auf jeden Fall bin ich heute stolz, dass es einige gegeben hat, die zum Widerstand bereit waren. Aber auf die war man, und das wundert mich seit Jahren, in Österreich lange nicht besonders stolz. Und das wäre die Botschaft, die man zum 70. Jahrestag des Einmarsches an unsere Jugend weitergeben müsste.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.03.2008)

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