Kommentar: "Anschluss": Annexion, Okkupation, oder was sonst?

(c) (Fabry Clemens)
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Der Politologe Anton Pelinka über die unterschiedlichen Lesarten der Vorgänge im März 1938.

Jede einfache Erklärung dessen, was in den Tagen des März 1938 in Österreich geschehen ist, ist unzureichend. Der "Anschluss" war vieles - und viele richtige Deutungen stehen zueinander in einem scheinbar unauflöslichen Widerspruch.

Der „Anschluss" war zweifellos eine militärische Okkupation. Die Telefonprotokolle des 11.März - vorgelegt beim Nürnberger Prozess - machen deutlich, dass Kurt Schuschniggs Rücktritt an diesem Tag das Ergebnis einer militärischen Erpressung war. Die deutsche Regierung - allen voran Hermann Göring - drohte mit Bombardement und Einmarsch. Dieser Einmarsch hat dann auch - wohlwollend geduldet von der Regierung Seyss-Inquart, deren Bestellung das Resultat der Erpressung war - tatsächlich am 12.März stattgefunden.

Der „Anschluss" war allerdings ebenso das Resultat einer innenpolitischen Putschsituation. Ein erheblicher Teil der Sicherheitskräfte - in Militär und Polizei - waren schon in der NSDAP organisiert und handelten bereits in der Nacht auf den 12.März so, als wäre der „Anschluss" bereits vollzogen. Die Opfer der ersten Stunden des - österreichischen - NS-Terrors: Juden und politische Gegner der NSDAP. Die „Machtergreifung" war vollzogen, als deutsche Truppen das Land besetzten.

Zwischen diesen beiden Polen der historischen Interpretation schwankt das Geschichtsbild. Und davon hängt auch ab, wie die von den Alliierten am 1.November 1943 formulierte „Opfertheorie" bewertet wird - jene These, die ab 1945 von allen österreichischen Regierungen durch die Vernachlässigung der in der Moskauer Deklaration ebenfalls enthaltene Klausel von Österreichs Mitverantwortung grob vereinfacht wurde.

Unterschiedliche Deutungen

Man wird den Ereignissen nur gerecht, wenn man beide Deutungsebenen berücksichtigt: die der internationalen Politik - und die der Innenpolitik. Dass die Regierung eines von der Staatengemeinschaft anerkannten Staates, Mitglied des Völkerbundes, von einer benachbarten Großmacht durch die Drohung militärischer Gewalt zum Rücktritt gezwungen wird; und dass als Folge dieser Erpressung das Territorium dieses Staates militärisch besetzt wird - das ist das eine Narrative, das ist die eine Wahrheit, die dadurch nicht wegzuwischen ist, dass es auch eine andere Wahrheit, ein anderes Narrativ gibt.

Diese andere Wahrheit ist die der österreichischen Politik. Der Regierung, deren Rückhalt im Lande durch die doppelte Frontstellung gegen die in die Illegalität gedrängte Linke und gegen die NSDAP extrem geschwächt war, fehlte letztlich der Mut zur Konfrontation. Schuschnniggs verräterischer Satz in seiner Abschiedsrede, er wolle kein „deutsches Blut" vergießen, zeigt ihn als Produkt und letztlich Opfer des herrschenden Deutschnationalismus. Wie auch in der Erklärung der österreichischen Bischöfe und in Renners Interview - beides erfolgt nach dem bereits vollzogenen „Anschluss", und zwar ohne direkten Druck - wird hier deutlich, dass die mehr oder weniger begeisterte, mehr oder weniger resignierende Zustimmung zu den auch militärisch geschaffenen Fakten weit über den Kreis der Anhänger der NSDAP hinausging.

Propagandamonopol der Regierung

Dieses Faktum muss auch in die Bewertung der „Volksabstimmung" vom 10.April 1938 hineinspielen. Dieses inszenierte, zentral orchestrierte Plebiszit genügte in keiner Weise den Kriterien eines demokratischen Aktes: Jede Form der Opposition war ausgeschaltet, das Propagandamonopol war uneingeschränkt, und eine relevante Minderheit hatte bereits jedes politische Grundrecht verloren. Das Ergebnis war daher - wie jedes 99-Prozent-Ergebnis - demokratisch irrelevant.

Dennoch ist festzuhalten, dass eine demokratischen Kriterien entsprechende Volksabstimmung nach den bereits vollzogenen Fakten mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Mehrheit für den „Anschluss" gebracht hätte: Die Erklärung der Bischöfe und das Interview Renners - freiwillige, wenn auch mit taktischen Hintergedanken gegebene Äußerungen - zeigen, dass die Ereignisse des März 1938 einen breiten Mitläufereffekt ausgelöst hatten. Dass das NS-Regime seinem Wesen nach nicht in der Lage war, diese generelle Stimmung in einen demokratisch legitimen Akt - also in eine freie und faire Volksabstimmung - umzuwandeln, machte den totalitären Charakter des Regimes auch schon in diesen Tagen deutlich: Widerspruch zuzulassen, um demokratische Legitimität herzustellen, war der NSDAP vollkommen unmöglich.

Was aus heutiger Sicht auffällt, das ist die offenkundige Gelassenheit, mit der diejenigen, die - ohne überzeugte Nationalsozialisten zu sein - vom Mitläufereffekt mitgerissen wurden, die ganz offenen Verstöße gegen die Grundrechte zu ignorieren bereit waren. Nichts ist davon bekannt, dass etwa Kardinal Theodor Innitzer sich zum Fürsprecher der von Anfang an die Hauptlast des Terrors tragenden jüdischen Österreicherinnen und Österreicher gemacht hätte. Hitlers berühmtes Wort, mit er Innitzer bei seinem Gespräch in Wien gewinnen konnte - vom „religiösen Frühling", der Österreich nun als Teil des Deutschen Reiches bevorstünde, wurde allzu begierig als Beruhigungs- und Rechtfertigungsdroge akzeptiert. Wie ein solcher „Frühling" mit der für alle erkennbaren Entrechtung und Drangsalierung der Juden zusammenpassen könnte - solche Überlegungen waren den Bischöfen offenbar fremd.

Vereinzelter Widerstand

Es waren isolierte und kleine Gruppen, die sich dem „Anschluss" widersetzten:

Einzelgänger wie Franz Jägerstätter, der - viel klarer als dies die Bischöfe vermochten - die jeder christlichen Ethik widersprechenden Charakter des NS-Regimes erkannt hatte. Doch die Bischöfe - wohl auch beeinflusst von dem NS-freundlichen Denken, das der österreichische Kurienbischof Alois Hudal schon vor 1938 innerkirchlich zu verbreiten vermocht hatte - folgten den Weg des „appeasements" gegenüber einer totalitären Diktatur. Dass die Kirche den sich konsequent auf die Grundlagen der katholischen Lehre - etwa auf die vom „gerechten Krieg" - berufenden Jägerstätter nach 1945 Jahrzehnte hindurch mehr oder weniger ignorierte, muss ebenso betont werden wie die „Wiedergutmachung" nach Jahrzehnten in Form von Jägerstetters Seligsprechung.

Monarchisten und Kommunisten - letztere zumindest bis zum August 1939, bis zum Hitler-Stalin-Pakt - entzogen sich dem Mitläufereffekt. Aus diesen beiden Gruppen kam organisierter Widerstand, der aber mangels Größe als heroische Handlungen ohne unmittelbare politische Folgen gewertet werden muss. Aus den beiden großen Lagern - dem sozialistischen und dem katholisch-konservativen - kam, zunächst jedenfalls, kein organisierter Widerstand. Es verdient, festgehalten zu werden, dass Kommunisten
und Monarchisten - die am ehesten als Zeugen der „Opfertheorie" gelten konnten - in
der Politik der Zweiten Republik nur geringe (Kommunisten) oder keine
(Monarchisten) politische Bedeutung erlangen konnten.

Die Komplexität der Ereignisse des März 1938 ist bekannt. Bekannt ist auch, wie sie instrumentiert wurden: Von den Alliierten, die in Moskau, 1943, Österreich einen Anreiz zu (mehr) Widerstand gegen die deutsche Militärmaschine geben wollten; von den österreichischen Regierungen, die sich mit dem Hinweis auf den Unrechtscharakter des „Anschlusses" jede Mitverantwortung des Landes leugneten und so außenpolitisch an Status gewinnen, innenpolitisch aber Konflikte vermeiden wollten; aber auch von einer neuen Generation von Historikerinnen und Historiker, die der einseitigen Interpretation des „Anschlusses" in Form der „Opfertheorie" eine andere Einseitigkeit entgegenstellten - als wäre der März 1938 reduzierbar auf eine interne Machtergreifung, erklärbar (oder gar entschuldbar) auch durch den „austrofaschistischen" Charakter des autoritären Dollfuß-Schuschnigg-Regimes.

Gegen solche - oft verständliche - Vereinfachungen hilft eines: der Hinweis auf die offenkundige Komplexität der Ereignisse, die eine simple „Theorie" ganz einfach nicht zulassen.

Zur Person

Anton Pelinka wurde am 14. Oktober 1941 in Wien geboren. Seit September 2006 ist er Professor für Politikwissenschaft und Nationalismusstudien an der englischsprachigen Central European University in Budapest.

Davor war er seit 1975 Professor für Politikwissenschaft an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, davon mehrere Jahre auch als Dekan (zuletzt 2004 bis 2006 Dekan der Fakultät für Politikwissenschaft und Soziologie).


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