März 1938: An den nächsten Tagen fiel die Schule aus ...

Wir Buben bewunderten das schwere Kriegsgerät, das täglich vor uns paradiert wurde. Bahnte sich hier nicht unterschwellig schon eine stille Umorientierung unserer Sympathien an?

"Grabe, wo du stehst" ist eine Maxime, die sich in der Lokalgeschichtsforschung bestens bewährt hat. Die regen Bemühungen aller Medien der siebzigjährigen Wiederkehr der historischen Märztage des Jahres 1938 zu gedenken, zeigen schon jetzt, dass man bisher versäumt hat, die Zeitzeugen dieser Ereignisse, die nicht der politischen Prominenz angehörten, zu befragen. Besonders schwer wiegt dieses Versäumnis für jene Maturanten/Abiturienten, die in den Zwanzigerjahren geboren, in den Jahren unmittelbar vor oder nach 1938 ihre "Reife" bestätigt erhielten. "Die Presse" hat einen aus dieser Alterskohorte bereits zu Wort kommen lassen (Spectrum 1. März 2008).

Die Erfahrungen seines Jahrgangs, 1927, (eine Sammlung der Erinnerung gleichaltriger Deutscher rezensiere ich im Feuilleton der "Presse") gewinnen aber zusätzliche Bedeutung, wenn sie mit denen der etwas früher Geborenen verglichen werden. Besonders aufschlussreich in dieser Hinsicht ist der Jahrgang 1919/20, der als letzter eine österreichische Matura ablegen konnte. Nachdem 1935 die allgemeine Wehrpflicht eingeführt worden war, empfahl sich für Maturanten, die ein Studium anstrebten, den Wehrdienst verkürzt als "Einjährig Freiwillige" beim Bundesheer anzutreten. Dieses Freiwilligenjahr wurde für sie zu einem mehrjährigen unfreiwilligen Dienst in der Deutschen Wehrmacht, der, wenn man den Krieg überlebte, sieben, bei Kriegsgefangenschaft noch mehr Jahre dauerte.

So könnte für jeden Jahrgang der zwischen 1919 und 1927 Geborenen ein jeweils spezifisches Erfahrungsprofil für die Jahre vor und nach 1938 aufgestellt werden. Wäre den Generationen mit der "Gnade der späten Geburt" mehr über diese unterschiedlichen Lebensläufe bekannt geworden, hätte sich die unselige Fixierung der öffentlichen Erinnerung auf das Heldenplatz-Spektakel nicht ergeben. Es waren viele, zu viele, die dort "Sieg Heil" grölten, aber es war nicht Österreich! Wäre ich damals in Wien gewesen, ich kann heute nicht mehr sagen, ob ich nicht auch dabei gewesen wäre, wenn auch nur aus Neugier.

Katholisch-klerikale Erziehung

Geboren 1923, besuchte ich 1938 die fünfte Klasse des Realgymnasiums in Steyr. Da meine Eltern in Leonstein/Molln im Steyrtal wohnten, war der Besuch einer höheren Schule nur durch Unterbringung im Konvikt der Franziskaner in Steyr, Schloss Vogelsang, möglich. Die Alternative wäre das Stiftsgymnasium Kremsmünster gewesen. Steyr hatte aber einen etwas liberaleren Ruf, außerdem war das Realgymnasium dort eine öffentliche Schule.

Die Erziehung im KaVau (Konvikt Vogelsang) war jedoch nicht weniger katholisch-klerikal als bei den Benediktinern von Kremsmünster. Politisch wurden wir wohl mehr subkutan als äußerlich auf Loyalität zum Ständestaat unter Schuschnigg getrimmt, was von meinen Eltern – mein Vater hatte als kleinbürgerlicher Staatsdiener zwei Habsburgern, dann der jungen Republik gedient – voll gebilligt wurde.

Politisch ergab sich daraus ganz natürlich eine Orientierung hin zum Ständestaat unter Dollfuß und Schuschnigg. Die beiden Revolten vom Februar und Juli 1934 wurden daher auch von mir unterschiedslos als Putschversuche, die legale Regierung zu stürzen, erlebt. In Steyr im Februar 1934 erlebten wird den Schutzbundaufstand hautnah, da wir von dem auf einem Hügel in der Stadtmitte gelegenen Schloss Vogelsang die Einschläge der Bundesheer-Artillerie bei der Arbeitersiedlung auf der Ennsleite beobachten konnten. Außerdem hörten wir öfter andauerndes Maschinengewehrfeuer aus dem Wehrgraben.

1938 gab es im Konvikt noch kein Radio, Zeitungen lagen auch keine auf. Man war also auf die mündlich von Schulkollegen übermittelten Informationen angewiesen. In der Schule wurden, soweit ich mich erinnere, von den Lehrern keine offenen Kommentare zum politischen Tagesgeschehen abgegeben. Wohl achtete mancher Lehrer, etwa bei Prüfungen an der Tafel, darauf, ob man das Schülerabzeichen der Vaterländischen Front, ein rotweißrotes Dreieck mit der Aufschrift "Seid einig", trug. Ich wurde 1937 von älteren Kollegen für eine Schülervereinigung, die sich nach ihrem Versammlungslokal, einem alten turmähnlichen Bau nächst der Stadtpfarrkirche "Der Turm" nannte, angeworben. Der väterliche Mentor dieser Vereinigung war der von mir ebenso gefürchtete wie verehrte Lateinlehrer, der die Schülerzahl meiner Klasse mittels negativer Lateinnote im Übergang von der Unterstufe zur Oberstufe von über sechzig auf etwa vierzig reduzierte. Er war auch Bezirksleiter der Vaterländischen Front und verschwand daher nach dem "Anschluss" im März 1938 von der Bildfläche.

Schuschniggs Unterredung mit Hitler auf dem Berghof in Berchtesgaden am 12.Februar 1938 trat eine politische Lawine los. Die Lage verschärfte sich von Tag zu Tag. Schuschniggs verzweifelter Versuch eines Befreiungsschlags, die Ankündigung einer Volksabstimmung über Österreich für den 10. März, setzte auf beiden Seiten hektische Aktionen in Gang. Wir Schüler als Mitglieder des "Turm" wurden in Uniformen der "Ostmärkischen Sturmscharen" – violette Hemden und schwarze Krawatten mit dem PAX-Zeichen – eingekleidet. Mit dieser Markierung als Gefolgsleute Schuschniggs wurden wir wenige Tage vor der angekündigten Abstimmung zu einer abendlichen Großdemonstration für Schuschnigg und Österreich in Steyr befohlen. Bei dieser Großdemonstration marschierten wir kleines Häuflein uniformierter Schüler, wohl um den Zug etwas länger erschienen zu lassen, in Zweierreihen hinter den erwachsenen Sturmschärlern. Dabei skandierten wir im Chor Parolen wie "Bis in den Tod Rotweißrot. Österreich" und Ähnliches.

Als wir dann durch die Bahnhofstraße Richtung Engegasse und Hauptplatz zogen, fiel mir auf, wie uns immer mehr Menschen am Straßenrand und in den Hauseingängen mit dem zum "Deutschen Gruß" erhobenen Arm und gelegentlichen "Sieg Heil!"-Rufen begrüßten. Als wir dann über den Hauptplatz marschierten, wurde der Lärm und das "Sieg Heil"-Geschrei hinter uns immer lauter. Als ich mich einmal umdrehte, sah ich eine breite Front von Hitler-Sympathisanten wie eine drohende Woge auf unsere kleine Marschkollonne zurollen. Am Gründmarkt, dem Ausläufer des Hauptplatzes, angekommen, löste sich unsere Kolonne auf, und unser Anführer schickte uns nach Hause, nicht ohne den besorgten Rat, unsere ÖSS-Uniformen auf dem Weg auszuziehen.

Am nächsten Abend schwärmten wir Konviktler, denen sonst nur tagsüber Ausgang zum Schulbesuch gestattet war, wiederum aus, um VF-Werbematerial für die Schuschnigg-Wahl an den Türen der Häuser zu deponieren. In dieser Nacht regnete es sehr stark, sodass ein Großteil unseres Werbematerials wohl ungelesen im Rinnsal landete. Auch wenn der VF-Demonstration in Steyr, einer traditionell "roten" Stadt, auf der Straße kein Erfolg beschieden war, da die Anhänger Schuschniggs es offensichtlich vorgezogen hatten, zu Hause zu bleiben und sich nicht mit den Nationalen auf der Straße auseinanderzusetzen, gab es dennoch die stille Hoffnung, dass die Volksabstimmung eine, wenn auch schwache Mehrheit für Österreich erbracht hätte, wäre sie durchgeführt worden. So dachte offensichtlich auch Hitler und gab daher am 11. März 1938 den Befehl für den Einmarsch von motorisierten Einheiten der Deutschen Wehrmacht in Österreich. Es folgte die staatliche Annexion Österreichs, die mit der propagandistisch meisterhaft inszenierten Heldenplatzszene weltweit bekannt gemacht und demzufolge auch international toleriert wurde. Nur Mexiko hat dagegen protestiert.

Viel Militär statt Schule

In den nächsten Tagen fiel die Schule aus, dafür gab sehr viel deutsches Militär zu sehen. Wir Buben bewunderten verständlicherweise das schwere Kriegsgerät, das täglich vor uns paradiert wurde. Im Besonderen erinnere ich mich noch, wie wir einen deutschen Schupo mit dem eigenartig geformten, fast komisch aussehenden Tschako auf dem Kopf bestaunten, der souverän, wie uns schien, den Verkehrsknäuel in Zwischenbrücken, der Engstelle zwischen Enns- und Steyrbrücke, entwirrte. Bahnte sich hier nicht unterschwellig schon eine stille Umorientierung unserer Sympathien an, die in wenigen Monaten zu einer fast unbeschränkten Bewunderung für alles, was aus dem "Altreich" kam, anwuchs. Die Schattenseiten des Umbruchs waren uns ja verborgen geblieben.

Keiner unserer Väter wurde in der Nacht aus dem Haus geholt und verschwand. Nur gerüchteweise erfuhr man, dass der Direktor des Gymnasiums und mehrere Lehrer entlassen oder frühpensioniert worden seien. Aber unser Mitgefühl mit dem Schicksal von Lehrern hatte Grenzen. Etwas anders verhielt es sich mit unserem beliebten Englischlehrer, dem angeblich eine jüdische Grossmutter als Defizit seiner pädagogischen Eignung zur Last gelegt wurde und der deshalb entlassen wurde. Er verdingte sich nun als Hilfsarbeiter am Bau eines Jachthauses für den von ihm gegründeten oder geförderten Paddelverein. Sein Stoizismus beeindruckte uns, ohne dass wir die menschlichen Konsequenzen eines solchen Karrierebruchs bedachten.

Leicht formbares Menschenmaterial

Dann kam wenige Tage nach dem Einmarsch am 12. März ein Erlebnis, das, wäre ich weniger autoritär und den politischen Verhältnissen gegenüber kritischer erzogen worden, mich zumindest hätte hellhöriger machen müssen. Eines Nachts wurde ich zusammen mit vier oder fünf anderen Schulkollegen vom Präfekten des Konvikts aus dem Bett geholt und zu einem Verhör in der Kanzlei des Pater Direktors geleitet. Dort saß am Schreibtisch ein Mann in schwarzem Ledermantel, der uns einzeln verhörte. Einige der Mitschüler, die sich jetzt als "Illegale" ausgaben, hätten sich von uns Jung-Sturmschärlern bedroht gefühlt. Das war reine Wichtigtuerei, die offensichtlich auch von dem SS-Mann nicht ganz ernst genommen wurde. Vermutlich war das Ganze eher als eine Drohgebärde gegenüber den Franziskanern gedacht.

In der Tat folgte bald darauf die Ankündigung, dass die Wehrmacht das Schloß Vogelsang requirieren werde.Was mich der Schwarzmantelträger gefragt hat, weiß ich heute nicht mehr. Ich kann mich aber noch genau an eine Geste erinnern, die er setzte, während ich vor ihm stand: Plötzlich ergriff er das Dollfuß-Bild, das auf dem Schreibtisch des Direktors stand, drehte es um und legte es mit der Bildseite nach unten auf den Schreibtisch. Dazu bemerkte er – und seine Worte habe ich noch gut in Erinnerung: "Den brauchen wir jetzt nicht mehr!" Das nächtliche Verhör blieb für uns folgenlos, ja, wir Verhörten fühlten uns sogar ein wenig ausgezeichnet durch die Aufmerksamkeit, die die neuen Machthaber uns entgegenbrachten. Eine psychologisch höchst bemerkenswerte Reaktion auf eine, wenn zunächst auch noch harmlos scheinende Einschüchterung.

Überall begann jetzt eine große Umorientierung, die mit der "Reeducation", wie sie von den Alliierten nach dem Krieg an den Angehörigen des Dritten Reichs versucht wurde, nichts oder nur wenig gemein hatte, zumindest was uns Jugendliche betraf. Wir hatten buchstäblich nichts zu verantworten und kaum etwas zu befürchten. Aufgrund unserer bis dahin durchgehend autoritären Erziehung und Bildung waren wir leicht formbares "Menschenmaterial" geworden, ein schrecklicher Terminus, an den wir uns bald gewöhnten.

Am schwersten fällt mir heute, meine Unbekümmertheit und Passivität vor mir selbst zu rechtfertigen, mit der ich, wie auch alle anderen in der Klasse, geschehen ließ, was einige Rowdies unserem einzigen jüdischen Mitschüler, Sohn des Inhabers des Konfektionshauses Garde in der Engegasse, antaten. Eines Tages nach Wiederaufnahme des Unterrichts, ich merkte die Aktion erst, als der erste Lehrer die Klasse betrat und etwas verdutzt seinen Blick auf die erste Bank richtete, wo man unseren Mitschüler Garde, der eigentlich recht beliebt, von den Rowdies wegen seiner guten Jausenbrote sogar stets umworben oder besser belagert war, gesetzt hatte.

Vor der Bank war ein Plakat angebracht, auf dem wohl stand: "Hier sitzt ein Jud" oder vielleicht noch Schlimmeres. Das brachte die Professoren beim Betreten der Klasse in eine sehr prekäre Lage. Unvergessen bis heute sind für mich ihre unterschiedlichen Reaktionen. Der Erste täuschte nach einer kurzen Schrecksekunde vor, als ginge ihn das überhaupt nichts an. Ein anderer quittierte den "Pranger" mit einem hämischen Grinsen und begann kommentarlos mit seinem Unterricht. Erst der Dritte oder Vierte, es war der Klassenvorstand, sagte ganz ruhig. "Tut's das Ding da weg", und das Ding ward weggetan. Unser Mitschüler Garde kam noch einige Tage oder Wochen, dann blieb er weg. Es hieß, die Familie habe Steyr verlassen. Ihr Geschäft war ja schon seit Tagen mit Parolen wie "Kauft nicht beim Juden" beschmiert worden.

Ich wäre erleichtert, könnte ich erzählen, dass dieser Vorfall von uns in der Klasse diskutiert wurde, es gab aber kein Pro und Contra, auch der Abgang des Mitschülers blieb in meiner Umgebung unkommentiert. Die Sache schien einfach abgetan. Es gab ja so viele Neuigkeiten und Veränderungen jeden Tag, die unsere ganze Aufmerksamkeit beanspruchten.

Schloss Vogelsang wurde im Sommer 1938 dem Franziskanerorden enteignet und in ein Wehrbezirkskommando umgewandelt. Die Wehrmacht hatte gleich nach dem Einmarsch auf dieses Gebäude in seiner imposanten Lage und mit seiner auffälligen Fassade ein Auge geworfen. Aus einem Brief der Konviktleitung vom 2. April an meinen Vater entnehme ich, dass die schon für März angedrohte Einquartierung noch einmal aufgeschoben wurde, wodurch der Schulbesuch für Konviktler während des Sommersemesters noch einmal gesichert war.

Es muss sich an zuständiger Stelle doch jemand darüber Gedanken gemacht haben, wie die zirka neunzig Zöglinge außerhalb des Konvikts unterzubringen wären, um ihnen weiterhin den Schulbesuch in Steyr zu ermöglichen. Im Herbst wurde dann ein Haus in Garsten bei Steyr (bis dahin beherbergte es einen Kindergarten) notdürftig als NS-Schülerheim adaptiert. Die schlechtere Unterbringung, der lange Schulweg von fast einer Dreiviertelstunde, alles das waren wir bereit in Kauf zu nehmen, angesichts des erlebnismäßigen Zugewinns an persönlicher Freiheit: Ausgang bis neun Uhr abends, im Konvikt war nur einmal in der Woche Stadtgang genehmigt, und zwar zur Beichte in der Dominikanerkirche. Der Samstagnachmittag war zuerst der körperlichen Reinigung in einem gemeinsamen Duschbad, dann der seelischen Hygiene gewidmet, der Beichte. Es fehlte uns nicht an Einfällen, wöchentlich ein halbwegs plausibles Sündenregister zu basteln, aus ein paar lässlichen und einigen schwereren Sünden – Unkeuschheit innerhalb eines Knabenpensionates klang in Beichtvaterohren immer recht überzeugend.

Mit der Übersiedlung nach Garsten waren wir dieser Sorge – eigentlich war es ein heimliches Vergnügen – enthoben. Nun gab es veritable Gelegenheit zu sündigen. Die Hitler-Jugend organisierte Volkstanzkurse, dabei boten sich erste Gelegenheitei für Kontakte mit dem anderen Geschlecht. Das faszinierte viel mehr als die ziemlich öden wöchentlichen Heimabende. So erfuhren wir Fünzehnjährige eine totale Revision unserer Weltsicht und Werte. Hinzu kamen dann noch die vielen höchst willkommenen Gelegenheiten zu sportlichen Aktivitäten, Wettkämpfen, Wanderungen mit Zelt- und Lagerfeuerromantik. Für all das erhielt die NS-Partei ehrlich gemeinte Pluspunkte von uns.

Bei der Sichtung der schriftliche Zeugnisse aus dieser Zeit stieß ich auf Dokumente, die für mich Schwarz auf Weiß belegen, was ich ohne ihre Evidenz in meiner späteren Erinnerung nie für möglich gehalten hätte. So liegt mir meine Eintrittsbestätigung in die Hitler-Jugend mit dem Datum 13. März 1938 vor. Das wäre ein Tag noch vor dem bereits erwähnten Verhör durch den SS-Mann. Das Eintrittsdatum auf diesem Schein, der von mir nicht selbst ausgefüllt, aber unterschrieben wurde , ist offensichtlich manipuliert, d. h. vordatiert – eine Praxis, die damals weit verbreitet war, da man sich damit gewisse Vorteile bei den Parteiveranstaltungen sichern konnte.

Wenn man schon nicht Illegaler war, so wollte man doch als HJ-Mann der ersten Stunde gelten. Vielleicht hat jemand diese Vordatierung, wohl mit meiner Zustimmung vorgenommen, um mir die Teilnahme als HJ-Mitglied am NS-Reichsparteitag in Nürnberg im Sommer 1938 zu ermöglichen, zu dem aus Österreich vor allem die Illegalen geladen waren. Auch sollte aus jedem Ort wenigstens ein Vertreter dabeisein. In der kleinen Landgemeinde St. Pankraz, Oberdonau, wie es damals hieß, wo meine Eltern damals wohnten, hatte der NS-Ortsgruppenleiter Schwierigkeiten, einen Buben aufzutreiben, denn die echten Illegalen waren als Bauernsöhne zur Erntezeit nicht abkömmlich, also fiel seine Wahl auf mich.

Ideologische Berührungspunkte

Herausgegangen war aber ein anderes, aus heutiger Sicht wirklich denkwürdiges Ereignis. Irgendwann während des Sommersemesters versammelte uns unser ehemaliger Kapo bei der VF-Schülervereinigung, die kurzzeitig sogar den Ostmärkischen Sturmscharen zugeordnet worden war, und führte uns auf einen Sportplatz, wo ein HJ-Bannführer uns mit Handschlag in die HJ aufnahm.

Dieser rasche Gesinnungswandel wäre selbst unter Berücksichtigung unserer jugendlichen Verführbarkeit heute kaum zu verstehen, wüsste man nicht, dass es im Programm der Vaterländischen Front und dem Nationalsozialismus ideologische Berührungspunkte gegeben hat, die heute weithin vergessen sind oder verdrängt werden. So lese ich in dem mir damals übergebenen Programm der Ostmärkischen Sturmscharen, angefertigt vom "Reichsführer" Dr. Kurt Schuschnigg, nach einer katalogartigen Selbstdefinition des Sturmschärlers als Katholik, Deutscher und Österreicher (in dieser Reihenfolge!) Folgendes:
Österreich habe "Hab und Gut, Blut und Wesen in die Schanze geschlagen, um deutsches Wesen und christlich-abendländische Kultur vor den Instinkten Asiens und des Balkans zu schützen. [...] Daher kämpfen wir gegen Verwüstung und Entchristlichung unseres Volkes und Kulturlebens; gegen den jüdisch-liberal-sozialistischen Geist des Materialismus", usw. usw.

Wenn das ernsthaft unser Programm war, konnten wir das dann mit Hilfe der so viel mächtigeren Deutschen und ihrem großen Führer nicht besser verwirklichen denn als kleines, auf sich selbst gestelltes Österreich? Sollte das einem Fünfzehnjährigen, der obendrein in seinem kurzen halbwüchsigen Alter nie erfahren hatte, was demokratische Selbstbestimmung für ein Leben in Freiheit bedeutet, nicht einleuchten?

Franz Karl Stanzel ist Anglist und Literaturwissenschaftler. Er war Professor in Göttingen und Erlangen, heute ist er emeritierter Professor an der Universität Graz.


meinung@diepresse.com

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