Dunkler Mann, heller Mann

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Zum hundertsten Geburtstag Herbert von Karajans: acht Stimmen zu einem Phänomen.

Elfriede Jelinek, Schriftstellerin

Grösste Annehmbare Ungenauigkeit.–Ich habe zwar lange Musik studiert, verstehe aber trotzdem nur wenig von Interpretation. Ich neige dazu, mich immer sofort an die Stelle des Interpreten, der Interpretin, zu setzen, die ich gerade höre, und daher bleibe ich immer im Ungenauen. Bei Karajan ist das aber nicht möglich, weil er selbst, als ein Einziger, zur Summe des Interpretentums gemacht worden ist, zum größten gemeinsamen Nenner, zur Summe der Summen, an deren Stelle sich keiner mehr setzen kann; er lässt mir keinen Platz. Er lässt, im Namen seiner legendären Genauigkeit, niemandem einen Platz. Er ist gleichzeitig zum Zähler geworden, den jeder benennt, zum ersten Interpreten, der allein schon alles zählt, indem er alles allein macht – in der Oper sogar die Inszenierung noch – und daher auch: alles ist. Sogar in die NSDAP ist er zweimal eingetreten, als hätte es ihn ohnedies mehr als einmal geben müssen und als hätte er sich auch als mehr als einer gefühlt.

Das führt aber, finde ich, gerade auf dem Feld der Interpretation paradoxerweise zur größten annehmbaren Ungenauigkeit (anstatt Genauigkeit). Durch die interpretatorische Vergötzung Karajans (es sind immer große Dirigenten und Virtuosen vergötzt worden, aber Karajans Vergötzung ist von andrer Art, es ist, als ob sich zum ersten Mal bei einem Künstler eine unkritische Masse zusammengeballt hätte. Auch Thomas Bernhard hat zu ihr gehört, obwohl der doch nirgends dazugehören wollte) ist in der Musik so etwas wie eine Verschwommenheit entstanden (auch wenn Karajan selbst auf größte Genauigkeit Wert gelegt hat, oder vielleicht gerade deswegen, indem er offenbar die einzige Genauigkeit bietet, die überhaupt möglich ist?), denn die Musik ergibt für jeden, der sie kennt oder womöglich selber angefertigt hat, ein bestimmtes Bild, das mit der Entfernung, auch der zeitlichen – und Musik ist ja das Vergehen der Zeit, das man hören kann –, immer schemenhafter wird. Indem der Interpret, ein Dirigent wie Karajan, der sich selbst an die Stelle der Musik gesetzt hat, gerade indem er ihr scheinbar immer nur gedient hat, dieses Bild soexakt vorzuzeichnen versucht, entschärfter bloß diese Unschärfe, statt das Bewusstsein dafür zu schärfen.

Jürgen Flimm, Regisseur, Intendant der
Salzburger Festspiele

Bemüht um zeitgenössische Musik. – Wenn man die Geschichte der Salzburger Festspiele studiert, dann zieht man den Hut vor dieser Lebendigkeit, vor dieser großen ästhetischen Diskussion und vor allem vor den Bemühungen um die zeitgenössische Musik, die allesamt mit dem Namen Herbert von Karajan verbunden sind.

Ich höre immer noch Karajan-Aufnahmen, diese behalten immer noch ihre Gültigkeit. Interpretationen anderer Dirigenten sind eben anders, das war zu seiner Zeit genauso. Vielleicht wird heute nicht mehr so ausgeklügelt musiziert, nicht so kontrolliert und perfekt – eben ein wenig mehr aus demAugenblick? Was von ihm bleiben wird? Größe.

Christa Ludwig, Sängerin

Ich liess ihn in der Bredouille. – Karajan? Er war ganz einfach! Man konnte mit ihm immer reden. Es ist falsch, wenn die Sänger sagen, er sei leicht beleidigt gewesen. Er hat mich sogar wieder engagiert, nachdem ich in Salzburg, 1975, nach der „Don-Carlos“-Premiere abgereist bin, weil mir da ein Ton weggeblieben war. 1977, nach einem Jahr tiefster Depressionen, hat er mich schon wieder für die Azucena geholt, als er mit dem „Troubadour“ nach Wien zurückkam. Obwohl ich ihn in Salzburg ja wirklich in der Bredouille gelassen hatte. Wenn man mit ihm geredet hat, dann hat er alles akzeptiert. Es hätte ihm sicher zum Beispiel auch Katia Ricciarelli da-
mals sagen können: Ich bin keine Turandot! Wenn Ihnen jemand sechs Flaschen Whisky hinstellt und sagt, Sie sollen die jetzt austrinken, machen Sie das doch auch nicht.

Die letzte Partie, die ich unter Karajans Leitung gesungen habe, war die Quickly in Verdis „Falstaff“. Er wollte dann zwar noch, dass ich in einer „Figaro“-Produktion, die er plante, die dann aber nicht mehr zustande kam, die Marzelline singe. Aber da hatte ich einen Traum: Ich kriegte eine Garderobe auf dem Klo, weil ich ja nur für eine so kleine Rolle engagiert war! Das habe ich Karajan erzählt, und er hat sehr gelacht.

Oliver Rathkolb, Historiker

Der Mythen-Zauberer. – Über keinen Dirigenten des E-Musik-Bereichs sind derart viele Biografien geschrieben worden, die nach wie vor die Handschrift des „Meisters“ tragen. Aus der Sicht des Zeithistorikers ist es Karajan wesentlich effizienter als den großen Vorgängern wie Wilhelm Furtwängler, Erich Kleiber, Arturo Toscanini, Bruno Walter und Otto Klemperer gelungen, zentrale biografische Elemente der aktuellen Berichterstattung langfristig und tief greifend zu prägen. Karajan wollte bekanntlich auch nicht über Musik und Musikinterpretation diskutieren und löste geschickt das „Genie“ Karajan vollends von den politischen und soziokulturellen Rahmenbedingungen, die wesentlich zu seiner Geniekonstruktion beigetragen haben. Nicht zufällig gibt es auch keinen großen authentischen schriftlichen Nachlass wie im Falle Furtwänglers oder Karajans Zeitgenossen Leonard Bernstein.

Karajans Strategie, Politik als Karriere-hebel in der NS-Zeit zu gebrauchen, wird weiter verwischt und marginalisiert. Verdrängt wird, dass Karajan seine NSDAP- undSS-Seilschaften durchaus geschickt zum Karriereaufbau und in seinem Konkurrenzkampf mit Furtwängler einsetzte. Lange Zeit wurde er als „der“ junge und moderne „deutsche“ Star vom NS-Regime eingesetzt – bei Propagandakonzerten von Athen bis Paris. Dass er durchaus ideologisch bis Anfang 1942 dem NS-Regime nahestand, dokumentieren nicht nur seine drei NSDAP-Parteibeitrittsgesuche in Salzburg (1933!), Ulm und Aachen – die letztlich in einer Mitgliedschaft mündeten –, sondern auch seine Selbsteinschätzung als „Deutsch-Arisch“ 1926 oder die antisemitische Polemik gegen die „verjudete“ Volksoper in Wien vor 1938 in einem der wenigen authentischen Briefe, die zugänglich sind.

Im Vorgriff auf die Bedeutung der Massenmedien auch für die E-Musik-Industrie setzte er bereits 1939 seinen Agenten, den SS-Mann Rudolf Vedder ein, um die bis heute immer rein dem Musikgenie Karajan gutgeschriebene Kritik „Das Wunder Karajan“ in der „B.Z.“ vom 22. Oktober 1938 nach einer „Tristan-und-Isolde“-Premiere zu platzieren.

Karajan nützte auch seine Ehen im Sinne von moderner Mythosbildung aus. So brachte ihm die zweite Ehe mit Anita Gütermann im Jahr 1942 den Eintritt in die höchsten Berliner Industrie- und Gesellschaftskreise – entgegen der traditionellen Lesart spielte die Tatsache eines jüdischen Großelternanteils keine besondere Rolle in der Bedeutung der Gütermanndynastie aus dem Schwarzwald für die deutsche Nähseidenindustrie im Zweiten Weltkrieg. Wohl nützte sie Karajan in den Entnazifizierungsverhören aus, um sich als NS-Opfer zupräsentieren. Das französische Starmodel Eliette Mouret brachte ihm die gewünschten Society-News ab 1958; Boulevardpresse und Fernsehen jubelten, Karajan wurde noch moderner. Eliette von Karajan demonstrierte überdies zu Recht auch ihre Bedeutung für den Mythos Karajan, indem sie das Wiener „Karajan Zentrum“ nach Salzburg verlegte und in „Eliette und Herbert von Karajan Institut“ umbenennen ließ. Hier zumindest wurde ein erster – vielleicht auch nur unbewusster – Schritt zur Mythendekonstruktion Herbert von Karajans gesetzt.

Aber es ist noch ein weiter Weg, um – gegen Karajans eigene Intention – einen großartigen und letztlich genialen Dirigenten endlich biografisch in jener Präzision und Schärfe erfassen zu können, die seiner musikalischer Bedeutung für mehrere Generationen von Spitzenmusikern und -musikerinnen und zahlreiche Musikliebhaber entspricht. Auch Karajan war schließlich ein Produkt des „dunklen“ und „hellen“ 20. Jahrhunderts in Europa.

Olga Neuwirth, Komponistin

Zu Glatt Poliert. – Karajan war eigentlich nie besonders wichtig für mich. Einerseits habe ich seinen Perfektionismus bewundert (wir wollen doch alle in unseren Berufen eine Art von Perfektion erreichen); aber andererseits hatte genau diese Perfektion für mich auch etwas Unangenehmes, weil zu glatt poliert. Gerade die Musik lebt auch vom Scheitern, denn genau daraus wiederum lernt man Bescheidenheit und Menschlichkeit – und all dies kam bei ihm meiner Meinung nach nicht wirklich vor oder wurde zumindest verdrängt.

Franz Welser-Möst, Dirigent, designierter
Generalmusikdirektor der Wiener Staatsoper

Erfahren, dass er mich gemocht hat. –Herbert von Karajan habe ich 1979 kennengelernt, als ich am Karajan-Wettbewerb teilnahm. Ich gelangte damals ins Finale, aber Albert Moser, Musikvereins-Generalsekretär und Karajans Vertrauter, kam zu mir undmeinte: „Sie san z'jung, wir können Ihnenkan Preis geben.“

Karajan selbst war zwar knapp angebunden, meinte aber: Sie können in meine Proben kommen. Das habe ich dann getan, habe die Vorbereitungen für den Osterfestspiel-„Parsifal“ in Berlin erlebt und unendlich viel gelernt. Vor allem war bewundernswert, wie viel er mit wenigen Worten erreicht hat. Manchmal genügte ein Satz, und das Ergebnis hat gestimmt. Immer stand bei ihm das Werk im Vordergrund, immer hat er es verstanden, aus den Musikern das Optimum herauszuholen, ohne ihnen etwas zu oktroyieren.

Später habe ich dann erfahren, dass er mich wirklich gemocht hat. Beate Burchhard, seine Sekretärin, hat mir gesagt, dass die erste Einladung an mich, bei den Salzburger Festspielen zu dirigieren, auf Karajans Wunsch geschah.

Heinz Karl Gruber, Komponist, Dirigent, Chansonnier

Klangsinn, das war seine Stärke. – Herbert von Karajan steht für einen Dirigententypus, der bis heute nicht einmal ein schlechtes Gewissen hat, in den Konzertsälen dieser Welt die Romantik und Klassik rauf und runter zu dirigieren, wohingegen eine Initiative im Hinblick auf die Pflege zeitgenössischer Musik weitgehend ausbleibt. Als einzige Ausnahmen unter diesen Pultstars sind Simon Rattle und Claudio Abbado zu nennen, die auch bezüglich der Gegenwartsmusik aufmerksam sind. Das hat natürlich Konsequenzen, denn es färbt auf das Publikum ab; das wird misstrauisch und sagt: Wenn diese großen Dirigenten die Gegenwart nur zögerlich betreten, dann hat das womöglich tatsächlich damit zu tun, dass die großen Meister längst tot sind und heute nur noch Mist komponiert wird.

Das ist ein Problem der Hygiene unseres Konzertlebens, dass man es einfach hinnimmt und trotzdem in diese Konzerte geht, obwohl man fast täglich ein und dasselbe Angebot bekommt, aber halt gelegentlich in Grün statt in Blau. Ich würde mir wünschen, dass diese gefeierten großen Pultstars mehr in sich gehen und erkennen, dass sie auch Verantwortung haben gegenüber der Gegenwart.

Interessanterweise hat sich Karajan nicht grundsätzlich gegen Gegenwartsmusik gesperrt; in seiner Eigenschaft als Intendant der Salzburger Festspiele hat er wenigstens delegiert: In seine Zeit fallen Opernuraufführungen wie die von Friedrich Cerhas „Baal“ oder Luciano Berios „Un re in ascolto“. Das ist immerhin verdienstvoll. Bedauerlich ist nur, dass er selbst in dieser Zeit so enthaltsam war, wenn es um das Dirigat von Gegenwartsmusik ging.

Das war nicht von allem Anfang an so. In seinen frühen Jahren ist Karajan recht mutig für Gegenwartskomponisten eingetreten, auch auf die Gefahr hin, selbst Schaden zu erleiden. Um ein Beispiel zu nennen: Er hat das Concerto für Orchester von Gottfried von Einem uraufgeführt, 1944, und das war zu dieser Zeit sehr riskant. In dieser Musik gibt es Jazz-Anspielungen, zumindest Anspielungen auf das, was man damals unter Jazz verstanden hat, also Synkopen, die einigermaßen Jazz-verdächtig waren; das ist Goebbels zu Ohren gekommen, und der hat damals verfügt, dass diese Musik auf Schallplatte aufgenommen wird. Goebbels wollte das nämlich hören, was da ein junger Frechling namens Einem komponiert hatte; gleichzeitig hat er allerdings präventiv weitere Aufführungen des Stücks untersagt. Und immerhin war Karajan derjenige, der die Uraufführung dirigiert hat.

Die Einspielung ist auch erfolgt, undwährend der Aufnahme fielen Bomben genau auf das Funkhaus in der Berliner Masurenallee, und man dachte, die Aufnahme sei den Bomben zum Opfer gefallen. Im Jahr 1955 war Gottfried von Einem in Berlin und hat den Aufnahmeleiter von damals getroffen, und der wusste zu erzählen: Alle Aufnahmen, die damals gemacht wurden, sind wirklich kaputt gegangen, nur das Concerto hat in einem Container überlebt.

Gemessen an solchen jugendlichen Frechheiten, ist Karajans späteres Leben ziemlich brav verlaufen. Er hätte bei Weitem mehr für Gegenwartsmusik tun können.

Sein unbestreitbares Verdienst freilichist, dass er eine Klangkultur eingeführt hat, die heute noch für viele Dirigenten Vorbild ist. Auch ich, wenn ich in größerer Streicherbesetzung ein eher kammermusikalisch konzipiertes Stück erarbeite, erinnere daran, dass selbst eine große Streicherbesetzung so zart und klangschön spielen können muss, als wäre es ein Streichquartett. Und mit diesem Argument hat Karajan die ganz großen Besetzungen, auch wenn's kammermusikalisch gedacht war, realisiert. Das hat bis heute Auswirkungen.

Klangsinn – das war Karajans ganz große Stärke.

Julian Schutting, Schriftsteller

An den Grenzen zum Kitsch.– Herbert von Karajan, ein Herr. vor Orchesterproben in Wien fragt er kurz, bis wie viel Uhr zu proben ihm gewerkschaftsseits konzediert sei. hebt sich aber souverän über solche Beschränkungen hinweg, indem er die Probe Minuten früher enden lässt. und als ein Operndirigent ist er auch ein Kavalier: vor seinen Sängern und -innen breitet er Orchesterteppiche aus, nimmt also voll der Rücksicht Fortissimi zurück, während ein Karl Böhm ihre Stimmen erbarmungslos zudeckt. wäre seinen Wagner-Inszenierungen, seinen breitspurigen à la Cinemascopefilm, tatsächlich, wie ich damals dachte, ein Nachwirken faschistischer Ästhetik abzulesen gewesen?

Ein Meister des Schönens ist er gewesen: der schöne Schein hatte auch über brüchige Schönheit einen Strahlenglanz zu legen. sein Bruckner, das war ein Farbenrausch, zugedeckt davon die Brucknerschen Klüfte: von kunstvoll geschichteten Klangwolken war umhüllt die Struktur. oder Tschaikowskys „Pathétique“, beispielsweise: von der Zerrissenheit war wenig vorhanden, vielmehr hat das Karajansche Schwelgen in dessen zu einem Herzbranden aufgeputschter Passioniertheit das Ganze an die Grenzen zum schönen Kitsch getrieben.

Sein Bayreuther „Tristan“ mit MarthaMödl, seine Wiener und Mailänder „Bohème“ mit Mirella Freni!!!

Unlängst in ein Gesellschaftsspiel von Musikkennern hineinzugeraten. bekommen die IX.Beethovens in mehreren Aufnahmen zu hören, in zwei gleichbleibenden Ausschnitten, da ja ansonsten nicht zu vergleichen. nach der ersten „Kostprobe“ notiere ich auf meinen Zettel „Otto Klemperer?“, und die Antwort stimmt (wie aus Granit gebaut hat sich das angehört). aber danach ergeht es mir schlecht – was dann folgt, sind lauter Karajan-Einspielungen, aus unterschiedlichen Lebensaltern. erkenne ihn nicht an der jugendlichen Rasanz, die schon den Flieger-Freak erahnen lassen müsste, und auch nicht, zum Mich-Verwetten, am Plüsch-Sound seines Altersstils! ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.03.2008)

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