Kurse und Diskurse

Börsen sind ein unverzichtbares Instrument entwickelter Wirt-schaften. Sie erleichtern die Finanzierung von Unternehmen und von Staaten. Ermöglichen sie aber auch ethisch gute Zustände, oder verhindern sie diese? Das fragt der an der Frankfurter Börse tätige Sven Grzebeta in „Ethik und Ästhetik der Börse“.

Hat die Börse etwas mit Ethik zu tun? Genauer: Kann man sie aus ethischen Gründen ablehnen oder gutheißen? Das ist die Frage von Sven Grzebeta. Sicher gibt es ethische Vorstellungen, denen zufolge Börsen abgelehnt werden müssen, etwa, wenn man Gewinnstreben grundsätzlich als unethisch ansieht. Wer das so einschätzt, hat freilich die Verpflichtung zu zeigen, wie eine Gesellschaft Produktion und Verteilung ohne dieses Streben organisieren kann. Es geht eben nicht um die Frage, ob eine Form der Organisation der Wirtschaft unter ethischen Gesichtspunkten gut oder schlecht ist, sondern darum, ob sie unter diesen Aspekten besser oder schlechter als eine andere ist.

Wenn man aber Gewinnstreben akzeptiert, was ist denn das Besondere an der Börse, dass eine spezifische Untersuchung ethischer Fragen sinnvoll ist? Der Autor begründet die Notwendigkeit einer solchen Analyse mit der weit verbreiteten Kritik an Börsen, gestützt auf Wahrnehmungen der Börse durch die Bevölkerung. In der Tradition deutscher Philosophie wird diesen Wahrnehmungen einKapitel unter dem Titel „Populäre Ästhetik der Börse“ gewidmet, also subjektives Erleben. Es geht um Darstellungen in Kunst und Medien, um Selbstrepräsentation etwa in Gebäuden und durch Kleidung der dort Tätigen. In Tageszeitungen werden immer noch mehrere Seiten mit Börsenkursen gefüllt, so, als gäbe es kein Internet. Eigenartige Kodierungen werden verwendet, etwa man ist bull oderbear. Die Abläufe an den Börsen werden eher mystifiziert, als dass die Erscheinungen helfen, Börsen zu verstehen.

Spekulation statt Arbeit

Diese Wahrnehmungen sind eben subjektiv. Sie nähren die Kritik an Börsen. Etwa, dass sie die Ungleichheit der Vermögen vergrößern, die Arbeitslosigkeit erhöhen. Da die an Börsen erworbenen Vermögen nicht durch produktive Arbeit entstanden sind, vielmehr durch ein dem Glücksspiel vergleichbares System, steigt die Ungerechtigkeit. Anstelle redlicher Arbeit tritt Spekulation. Diese Bilder beeinflussen den politischen Diskurs über Börsen und damit über Marktwirtschaften.

Sven Grzebeta, an der Frankfurter Börse beschäftigt, tritt dem in zwei Kapiteln entgegen, die den Kern des Buches ausmachen. Im ersten der beiden wird die Funktion der Börsen innerhalb der Marktwirtschaften diskutiert, nämlich, ob Börsen für die wirtschaftliche Entwicklung günstig sind. Der Autor bejaht das, da Börsen den Transfer von Kapital von den Sparern zu den Unternehmen erleichtern und so Investitionen begünstigen. Das ist ein vernünftiges Argument. Freilich gilt das nicht für Warenbörsen, etwa bei Nahrungsmitteln, deren Aktivitäten jüngst stark angegriffen wurden.

Dieses Argument genügt aber nicht für eine Bewertung von Börsen im Rahmen ethischer Überlegungen, außer man nimmt das Funktionieren der Wirtschaft für einen zentralen ethischen Wert. Grzebeta lehnt das ab. Anhand von spezifischen Theorien der Ethik wird die Evaluation der Börse vorgenommen. Zunächst wird aber ein Subjekt benötigt, überdas zu sagen, sein Handeln sei ethisch vertretbar oder auch nicht, einen sinnvollen Satz ergibt. Das sind für den Autor die Handlungsgemeinschaften der an der Börse Tätigen. Genügen die Handlungsmuster, mit denen und nach denen die Akteure an der Börse arbeiten, bestimmten ethischen Kriterien? Das ist eine sinnvolle Fragestellung, da die Börse selbst nicht handelt.

Drei Theorien der Ethik werden zur Prüfung herangezogen. Die Diskursethik, wie sie vor allem von Jürgen Habermas entwickelt wurde; die Kontrakttheorie von John Rawls zur Begründung einer gerechten Gesellschaft,in der die Freiheit zum Handeln mit der Absicherung der sozial Schwachen verbunden wird. Schließlich eine im engeren Sinn ökonomische Ethik, bei der es um Anreizstrukturen geht. Die ersten beiden Theorien sind neutral gegenüber spezifischen Werten. Es war schließlich das erklärte Ziel sowohl von Habermas als auch von Rawls, dass in modernen Gesellschaften zu verfolgende Werte nicht vorgegeben sind. Die Frage war: Wie können Strukturen einer Gesellschaft so festgelegt werden, dass das Ergebnis von allen akzeptiert werden kann? Diese Theorien sindvor allem eine Analyse der Verfahren zur Bestimmung von Regeln.

Die ökonomische Ethik bezieht sich hingegen auf ein im engeren Sinn ökonomisches Ziel, nämlich das einer funktionierenden Wirtschaft. Das kann sich freilich nicht nur auf eine Marktwirtschaft beziehen, da Märkte unter Gesichtspunkten der Wohlfahrt kein optimales Ergebnis bewirken. Das kann in jedem Einführungsbuch in die Wirtschaftstheorie nachgelesen werden.

Der Autor kommt jedenfalls zu dem Schluss, dass das Börsengeschehen im Rahmen jeder dieser Theorien durchaus deren jeweiligen ethischen Standards entspricht. Er stützt sich dabei auf die Struktur des Handelns an Börsen, nämlich allgemein zugänglich zu sein, laufend Informationen über Preise und gehandelte Mengen zur Verfügung zu stellen und der freiwilligen Teilnahme. Niemand muss dort mitmachen.

Akzeptieren wir einmal das Ergebnis und seine Begründung. Was besagt es? Nicht viel, denn die Fragestellung selbst ist problematisch. Das sieht man, wenn man zum Vergleich nach dem ethischen Wert von Unternehmen oder gar einer staatlichen Behörde fragt. In diesen Einrichtungen findet man immer hierarchische Strukturen. Es gibt Personen, die anordnen können, und andere, die diese Anordnungen befolgen müssen. Wenn man hierarchische Strukturen in der Gesellschaft ablehnt, muss man dann Unternehmen und Behörden als unethisch verwerfen? Entgegen dem Vorgehen von Grzebeta kann man nicht einfach die Theorien von Rawls respektive Habermas zur Evaluierung von Börsen heranziehen. Es geht in beiden Theorien um die Grundstruktur der Gesellschaft und nicht um diese oder jene wirtschaftliche Einrichtung. Die Frage lautet: Wie können in einer pluralistischen Gesellschaft gemeinsame Werte festgelegt werden?

Für die Wirtschaft gibt es hingegen weithin anerkannte Werte – weniger Armut, weniger Arbeitslosigkeit, weniger Ungleichheit, weniger Umweltzerstörung, weniger Einschränkung bei der Lebensgestaltung sind besser als mehr davon. Ich kenne niemanden, der sich nicht zu diesen Werten bekennt. Politische und damit auch ethische Probleme treten auf, wenn es zwischen diesen Zielen Konflikte gibt. Wenn ein Ökonom sagt, man darf die Einkommensunterschiede nicht zu stark verringern, so tut er das nicht, weil er es genießt, dass es Arme und Reiche gibt, sondern, weil er überzeugt ist, dass zu geringe Einkommensunterschiede die wirtschaftliche Entwicklung stark reduzieren. Das kann falsch sein, aber wer das sagt, ist nicht unethisch.

Die ökonomische Ethik gibt eine plausiblere Theorie zur ethischen Bewertung von Börsen. Man kann nämlich fragen, welche Wirkungen von Börsen auf die Wirtschaft insgesamt ausgehen. Wird Arbeitslosigkeit erhöht? Steigt die Ungleichheit? Natürlich ist es notwendig, wirtschaftlich unterschiedliche Zustände ethisch zu bewerten. Macht man das, dann kann man beurteilen, ob eine Börse ein gutes oder schlechtes Instrument ist, ethisch gute wirtschaftliche Zustände zu erreichen. Vor allem kann man fragen, wie Börsen geregelt werden müssen, damit ethisch bedenkliche Wirkungen hintangehalten werden. Es geht nicht um die Frage, ob wir Börsen abschaffen müssen oder, wenn das nicht möglich ist, ob wir uns von Zeit zu Zeit geißeln müssen, weil wir ein unethisches Leben akzeptieren. Es fällt auch niemandem ein, Unternehmen abzuschaffen, weil sie hierarchische Strukturen haben. Diese werden aber nicht einfach akzeptiert, sondern sie werden durch Arbeitsschutzgesetze und Mitbestimmungsrechte modifiziert.

Vermehren Börsen den Hunger?

Börsen sind ein unverzichtbares Instrument entwickelter Wirtschaften, weil sie, wie der Autor darlegt, die Finanzierung von Unternehmen und von Staaten erleichtern. Aber daraus folgt nicht, dass man sie so belässt, wie sie jetzt sind. Auch wenn die Strukturen von Börsen ethisch legitim sind und wenn alle Akteure ethisch korrekt handeln, so können doch die von Börsen ausgehenden Wirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft fragwürdig sein. Der Autor selbst etwa ist unsicher, ob der durch Algorithmen betriebene Handel nicht doch destabilisierende Wirkung auf das Börsengeschehen hat. Üblicherweise nimmt man ja an, dass Börsen stabilisierend wirken, was, wenn das stimmt, wohl positiv zu bewerten ist. Und wie ist das mit den vom Autor nicht beachteten Warenbörsen? Die Kritik lautet ja, dass die Spekulation an den Börsen mit nahrungsrelevanten Rohstoffen den Hunger in der Welt vergrößere. Würde das stimmen, wäre es ethisch durchaus relevant.

Ob Börsen im ethischen Sinn gut oder schlecht sind, kann nicht daraus bestimmt werden, ob das Handeln an den Börsen ethischen Kriterien genügt, sondern über Wirkungen für die Gesellschaft, insbesondere die Wirtschaft. Stimmt es, dass Ungleichheit vergrößert, dass Spekulation mehr als das Organisieren von Produktion belohnt und dass der Hunger in der Welt vergrößert wird? Um diese Fragen zu behandeln, hätte man das Zusammenspiel von Börsen mit den anderen Bereichen der Wirtschaft darstellen müssen, vor allem mit anderen Teilen des Finanzsektors. Die Bedeutung der Börsen wird wahrscheinlich überschätzt. Das ist eine Folge ihrer Wahrnehmbarkeit. Niemand benötigt die täglichen Börsenkurse in den Tageszeitungen. Sie vermitteln aber den Eindruck, dass der Handel an den Börsen eine der wichtigsten wirtschaftlichen Abläufe ist. Der außerhalb von Börsen vorgenommene Handel – oft geht es dabei um große Aktienpakete, also Übernahmen im engeren Sinn – ist der öffentlichen Wahrnehmung meist entzogen. Damit ist eine für den Autor wichtige positive Charakteristik von Börsen im sonstigen Finanzbereich nicht vorhanden.

Auch die Frage eines Informationsvorsprungs einiger Marktteilnehmer wird virulent, wenn man den Handel außerhalb der Börsen in die Analyse einbezieht. Insiderhandel ist an Börsen verboten. Keine Börse kann ihre Funktion erfüllen, wenn Insiderhandel häufig vorkommt. Umgekehrt gilt aber, dass die Verwalter großer Vermögen, etwa der Versicherungen und Pensionsfonds, von Unternehmen und Investmentbanken spezielle Informationen erhalten. Diese Institutionen werden sich bei einer Aktienemission nicht mit den in einem Prospekt dargelegten Angaben begnügen. Sie haben einen Stab an Beschäftigten, um Informationen über Unternehmen zu finden, die nicht öffentlich bekannt sind. Wer als Privatperson an der Börse handelt, ist schlechter gestellt.

Die von Börsen aufgeworfenen Fragen der Ethik erschließen sich nicht über deren formale Konstruktion, ohne die von ihnen ausgehenden Wirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft. Gerade weil das Wirtschaftsleben nicht Selbstzweck ist, muss man auf die Funktionalität von Einrichtungen des Wirtschaftslebens achten: Ermöglichen diese Einrichtungen ethisch gute Zustände, oder verhindern sie diese? Adam Smith hat behauptet, dass der Vorteil einer Marktwirtschaft darin liegt, ein durchaus annehmbares Resultat zu liefern, auch wenn alle Akteure eigennützig handeln. Heute weiß man es besser. Ohne kooperatives Handeln, meist im Wege des Staates, hat eine Marktwirtschaft im Allgemeinen kein wünschenswertes Resultat. Eine der im Wege des Staates zu erledigenden Aufgaben ist die Festlegung der Strukturen und Regeln für Finanzmärkte. Börsen sind ein Element davon. ■

Sven Grzebeta

Ethik und Ästhetik der Börse

380 S., geb., €30,80 (Wilhelm Fink Verlag, Paderborn)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.05.2014)

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