Pop aus Österreich – das war immer schon ein Phänomen zwischen Minderwertigkeitskomplex und Größenwahn. Schön, dass sich so wenig davon für ein Formatradio wie Ö3 eignet.
Dezentral heißt ein liebenswertes Tschocherl im Herzen des Wiener Stuwerviertels. Hinter dem Tresen biegen sich die Balken vom Gewicht exotischer Alkoholika. Man ist gerüstet für internationale Gäste. Die handgeschnitzt wirkende Bühne vis-à-vis der Bar wird von vielen nicht unprominenten Musikern genützt. Hier hört man sie, die exzentrischen und widerständigen Lieder, von denen nicht nur Ö3 nichts wissen will.
Und trotzdem unterstützen sie den Verkauf geistiger Getränke, die in schnellem Rhythmus über die Theke gehen. Die Kellnerin entpuppt sich als recht bekannte heimische Sängerin. Und das Hinterzimmer des Dezentral bewohnt neuerdings einer der fähigsten Bluesgitarristen und Dialektsongwriter des Landes. Im Schankraum sitzen verstreut der Nino aus Wien und ein paar seiner Bandkollegen. An der Bar steht Funkgitarrist Pogo Kreiner. Cellist Lukas Lauermann lässt sich gerade einen Tschick von einem Kauz namens Franz from Austria abschnorren.
Was für eine Szenerie! Sozialromantisch betrachtet wäre sie ein gefundenes Fressen für Max Winter gewesen. Wenigstens vor circa 110 Jahren, als er auf der Suche nach sozialen Abweichlern durch diese Gegend streunte. Dieses rechtschaffen wüste Treiben, wie man es Spielleuten immer schon nachgesagt hat, hätte auch ein ideales Sujet für den Maler Heinrich Zille abgegeben. Aber dann wären wir in Berlin, nicht im Wiener Dezentral.
Austropop-Abschaffer Ö3. Als ganz zentral begreift sich Ö3. Schließlich hat er die größte Reichweite aller österreichischen Radiosender. Mit ruhiger Hand schaffte dessen einstiger Chef Bogdan Roscic ab 1994 den Austropop ab. Formatradio lautet das Zauberwort jener Stunde. Seit damals prägen der Imperativ der Demoskopie und ein gewisser vorauseilender Gehorsam Richtung Konturlosigkeit die Erstellung eines Programms, das musikalisch zu steriler Massenware tendiert. Weil es das Gesetz so will, muss ein gewisser Prozentsatz der Sounds heimischer Provenienz sein. Das meiste davon arbeitet der nun von Georg Spatt geführte Sender diskret spätnachts ab. Nur selten finden sich heimische Künstler im Powerplay wieder.
Der 22-jährige Julian Le Play zählt zu dieser Minderheit. Er hat die ungeschriebenen Gesetze des Mediums früh verstanden. Sein unverbindlicher Charme setzt sich nahtlos in seiner Liedkunst fort, die es in den österreichischen Charts stets weit nach vorne schafft. Er hatte viel Zeit, sich in einer Charaktermaske zu üben, die Popularität verspricht. Mit elf Jahren glänzte er im Kiddy Contest, später war er Moderator der Kindersendung „Close Up“. Dass sein erstes, ihm von Erwin Kiennast auf den Leib geschriebenes Lied „Ich habe Hunger“ hieß, ist kuriose Pointe seiner Mittelstandsexistenz.
Selbstausdruck versus Kalkül. Nino aus Wien und Julian Le Play sind gute Beispiele für die Disparatheit dessen, was man österreichische Popszene nennt. Während Nino höchst versponnene Songs ausbrütet, die etwas von ihm ausdrücken, das er in einem Gespräch nicht benennen könnte, ist Julian der smarte Créateur von Songs mit Produktcharakter. Während Nino den jeweils aktuellen authentischen Selbstausdruck sucht, geht es Julian Le Play mit Kalkül an. Er will Geld verdienen. Das ist selbstverständlich keine Schande, bloß eine andere Disziplin. Dass beides als Popmusik definiert wird, sorgt nicht nur für Verwirrung in den Medien, sondern auch Gemurre bei der jährlichen Verleihung des österreichischen Musikpreises Amadeus. Offene Feindseligkeiten sind nicht selten.
„Finanziell ist Musikmachen derzeit die schlechteste aller künstlerischen Lösungen“, meint Fred Schreiber, eine Entertainment-Allzweckwaffe des ORF, die zuweilen durchaus beachtliche Alben veröffentlicht. Er kann sich dieses Hobby genauso leisten wie Kabarettist Gerald Votava, der mit Willi Resetarits, Ernst Molden und Florian Horwath drei Professionisten für seine schmucke Liedersammlung rekrutieren konnte. Was ist aber mit jenen, die sich der Musik mit allem Risiko verschreiben? Ist für sie das Armutsgelübde unumgehbar? Für René Mühlberger, den Sänger und Gitarristen der Band Velojet, ist es Faktum, dass Armut gewissermaßen der angebrachte Lebensstil für heimische Klangkünstler ist. „Als Musiker muss man im Vergleich zu anderen Berufsgruppen Abstriche leisten. Man wohnt in kleinen Wohnungen in den Außenbezirken. Will man sich mehr als Proberäume und Instrumente leisten, muss man zusätzlich arbeiten oder extrem sparsam sein.“
Ö3-Mitarbeiterin Elke Lichtenegger leidet weder an Armut noch an Minderwertigkeitskomplexen. Sie hat es sich gar in der Hybris gemütlich gemacht. Ihr Sager von den bittstellenden österreichischen Musikern, die Ö3 „wahrscheinlich ein Lied verkaufen wollen, das ganz schlecht ist“, erzürnte Musiker, Musikarbeiter und Kleinlabelbosse gleichermaßen.
Ein Land ohne Selbstvertrauen. Und doch ist es bloß eine Selbstentlarvung, die typisch ist. Österreich ist ein Land mit geringem Selbstvertrauen, wo nach der Anerkennung des Auslands gelechzt wird, um Heimisches goutieren zu können. Egal ob Joe Zawinul oder Supermax, Falco oder Kruder & Dorfmeister, sie alle wurden zunächst in der Heimat in ihre vermeintlichen Schranken gewiesen. „Es kann halt nicht sein, was nicht sein darf“, meint Georg Altziebler von The Son Of The Velvet Rat bitter. Etwa, dass mitten unter uns jemand sitzt, der wirklich gute Songs schreiben kann. „Wenn ich in den USA spiele, werde ich völlig unvoreingenommen gehört. Bei uns gilt es, eine Hürde zu überspringen.“ Ist man dann international erfolgreich, schlägt das Pendel rasch in die andere Richtung aus. Ab sofort wird man kritiklos angehimmelt. Beim Kruder&Dorfmeister-Spektakel 2011 im Burgtheater jubelte eine Besucherin ungeniert: „Ich bin da, weil ich Patriotin bin.“
Schon früher war es nicht einfach. Nicht einmal die beiden Speerspitzen des Austropop konnten sich in ihrer kreativ besten Zeit vollends aufs Gehör ihrer Landsleute verlassen. Den Sprung zur Massentauglichkeit machte ihr Liedgut letztlich über den Umweg ins Ausland. Wie wichtig war der deutsche Markt für Georg Danzer? Im Interview mit der „Presse“ sagte er 2006: „Immens wichtig. Meine erste Nichtdialektplatte ,Honigmond‘, von der Kritikerin Lisbeth Böhm im ,Kurier‘ in kleine Futzerln zerfetzt, wurde ein schöner Erfolg.“ Auch der Nachfolger „Der Tätowierer und die Mondprinzessin“, eine in Hochdeutsch gehaltene Platte in der Machart von Cat Stevens' „The Teaser And The Tillerman“, verkaufte sich gut. Hier zeigte sich, dass Danzer auch losgelöst von der Heimatscholle ein bedeutsamer Künstler war. Wolfgang Ambros absolvierte ab 1979 viele ausverkaufte Konzerttourneen durch das Nachbarland. Es half ihm aus dem Underground heraus.
Was als kleine Bewegung begonnen hatte, wurde zum großen Identifikationsstifter Austropop. Der Terminus war weder ein Konstrukt von Journalisten noch von Marketingfachleuten. Georg Danzer erinnerte im „Presse“-Interview an die Anfänge: „Es gab etwas Gemeinsames, aber ohne, dass man einen Namen dafür bemühte. Es herrschte Aufbruchsstimmung, weil es im ORF eine Eva Maria Kaiser gab, die Nachwuchskünstlern eine Plattform bot. Das war aber keinesfalls mit ,Starmania‘ zu vergleichen. Da gab es kein Casting. Wir waren viel weniger eingeengt. Wir wagten davon zu träumen, von unserer Musik leben zu können.“
In Zeiten der skrupellosen illegalen Vervielfältigung von Musik ist grenzüberschreitender Erfolg ein noch viel größeres Wunder. Allein, er passiert trotzdem. Heuer prangte die burgenländischen Auswandererkombo Ja, Panik auf dem Titelblatt des wichtigen „Spex“-Magazins. Garish, Der Nino aus Wien, Anna F. und viele andere touren erfolgreich beim Nachbarn. Österreichischer Indiepop erfährt einen Hype in Deutschland. Warum? „Die Bandbreite in Österreichs Poplandschaft ist viel größer als in Deutschland“, weiß Garish-Sänger Thomas Jarmer. „Weil man nicht davon leben kann, nimmt man sich Freiheiten. In Deutschland sind die Bands formelhafter, haben ein festgelegteres Image. Sobald etwas klappt, wagt man nichts mehr.“
Das Festhalten an persönlichen Eigenheiten war auch das künstlerische Fundament der Gründergeneration des Austropop. „Kunst kommt vom Nicht-anders-Können“, meinte Danzer. „Es muss einfach raus, und ich habe nichts Besseres zu tun. Darüber hinaus unterhält es mich, ernährt es mich und ich habe immer noch das Gefühl, dass ich zu Themen Stellung beziehen kann, wie es sonst niemand anderer würde. Wenn man sich das zu bewältigende Sujet eines Liedes als Haus vorstellt, dann kommt jemand wie Randy Newman in seiner Schreibe immer durch die Oberlichte oder die Katzenklappe. Auch ich komme niemals durch die Tür.“
Selbstzensur heimischer Radios. Mit ähnlich verquerer Art des musikalischen Erzählens feiern Naked Lunch, König Leopold, Mimu Merz, Bilderbuch und Son Of The Velvet Rat internationale Erfolge. Warum hört man diese Musiker trotzdem auf keinem heimischen Sender im Powerplay? Garish-Frontmann Thomas Jarmer: „Es gab in den vergangenen Jahren viele Versuche von FM4 (Soundpark) bis Ö3 (Die Neuen Österreicher), die alle dort endeten, wo man nicht viel hören kann. Bei unseren Radios ist alles stark gebrandet. Es ist eine lächerliche Selbstzensur, die sich auflöst, sobald etwas erfolgreich wird.“
Anders als in Großbritannien, wo Popmusik praktisch Volksmusik ist und von allen geliebt, gilt sie in Österreich als Ausdruck verruchter Gegenkultur oder billiger Tand. „Der nationale Fokus auf die Klassik ist schmerzlich“, sagt Altziebler wütend. Probleme mit dem sozialen Status hatte auch Ronnie Urini. Er blieb trotz harter Bandagen im Bereich der Balz heiter. „Ich möchte kein Kind“, meinte die begehrte Dame. „Wir müssen keins machen“, schlug er vor. „Aber das Kind bist du!“, hieß es dann. Maliziöser Nachsatz Urinis: „Die hat dann den Franz Manola geheiratet.“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.05.2014)