"Wir kamen mit dem Leben davon"

(c) Nusbaum
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Ilse Nusbaum floh 1938 als Kind mit ihren Eltern aus Österreich in die USA. Ihrem Vater und weiteren jüdischen Studenten von einst wurde nun späte Anerkennung zuteil.

Wien. Karl Löwy hatte gerade seine Dissertation an der Wiener Hochschule für Welthandel eingereicht, als wenige Wochen später die Wehrmacht in Österreich einmarschierte. Nach der Machtübernahme der Nazis war es für den 35 Jahre alten Familienvater aus dem Burgenland unmöglich geworden, seine Abschlussprüfung abzulegen. Karl Löwy war Jude, er wurde der Universität verwiesen. Wenig später gelang ihm, seiner hochschwangeren Frau Martha und der vierjährigen Tochter Ilse die Ausreise in die USA.

„Mein Vater war am Boden zerstört. Er hatte alles verloren, seinen Besitz und seine Karriere“, sagt die heute 81-jährige Ilse Nusbaum über jene Wochen im Frühjahr 1938, die ihrem beschaulichen Leben im Einfamilienhaus in Eisenstadt ein jähes Ende bereiteten. „Trotzdem gehörten wir zu den Glücklichen, die mit dem Leben davonkamen,“ erzählt die zierliche Frau im Gespräch mit der „Presse“.

Gemeinsam mit ihrem Bruder Paul, der in den USA geboren wurde, und ihrer Tochter ist Nusbaum, die heute in Los Angeles lebt, nach Wien gereist: Am Jahrestag der Kapitulation des Naziregimes ist sie Ehrengast bei der Enthüllung eines NS-Mahnmals auf dem neuen Campus der Wiener Wirtschaftsuniversität im Prater. Der Name ihres Vaters ist einer von 120, die das Herzstück der Skulptur in Form einer Weltkugel bilden: Sie waren Studierende, Doktoranden oder Angestellte und wurden aus „rassischen“ oder politischen Gründen 1938 von der Hochschule vertrieben. In den 1920er-Jahren lag der Anteil an jüdischen Studenten bei mehr als 50Prozent. Doch die antisemitische Hetzkampagne hatte schon weit vor März 1938 eingesetzt und jüdischen Studenten das Leben schwer gemacht. Nach dem Anschluss schlug die bürokratische Effizienz der Universität voll zu und versagte allen, die nach den Nürnberger Rassegesetzen von 1935 als „nicht arisch“ eingestuft wurden, den Verbleib an der Hochschule.

Posthumer Doktortitel?

Karl Löwys Doktorarbeit über Weinbau in Österreich wurde zwar von zwei Professoren als gut befunden, die Promotion wurde ihm aber mit folgendem Hinweis verweigert: „Da mosaisch, zu den Rigorosen nicht zugelassen.“ Im Mai 1938 verließ die Familie Löwy mit den Visa Nr. 581, 582 und 583 über Hamburg Europa. Zuvor hatte Karl seine Stelle als Lehrer an der Wirtschaftsschule Eisenstadt verloren, sein Haus in der burgenländischen Hauptstadt musste er „verkaufen“ – der Erlös reichte nicht einmal für die Schiffspassage nach New York –, und die Großeltern beiderseits und weitere Verwandte blieben im Osten Österreichs zurück. Die Tante, die bereits in den USA lebte, nahm die Familie in Empfang.

In Detroit, seiner neuen Heimat, studierte Löwy noch einmal und begann eine Karriere als Wirtschaftsprüfer. „Sein Studium in Wien ging ihm aber nie aus dem Kopf“, sagt Ilse Nusbaum. „Er fühlte sich sein Leben lang unfair behandelt.“ 1970 wollte er in die alte Heimat reisen und Recherchen an der Universität anstellen. „Die Flugtickets waren schon gekauft. Dann hatte er aber einen Herzinfarkt, und er starb.“

Auch Ilse Nusbaum ließ diese Ungerechtigkeit nicht mehr los. Sie begann nachzufragen, eine Bibliothekarin der Wirtschaftsuniversität machte sich auf die Suche nach der verloren geglaubten Arbeit. 2011 hielt Nusbaum dann das Original in Händen, auf Einladung des Jewish Welcome Service war sie nach Wien gereist.

„Ich war schockiert. Denn auf der Rückseite des Titelblattes war ein Stempel mit einem Hakenkreuz.“ Obwohl sie wisse, dass der Stempel bedeute, die Arbeit sei Eigentum der Uni, hätte er ein beklemmendes Gefühl erzeugt. Auch wenn Nusbaums Wunsch – die posthume Verleihung des Doktortitels an ihren Vater – nicht in Erfüllung geht, hat sie dennoch eine späte Anerkennung für ihn und 119 weitere Studierende erreicht: Aufgrund Nusbaums Nachfrage hat die Wirtschaftsuniversität mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung der einzelnen Schicksale ihrer damaligen Studenten begonnen.

HINTERGRUND

Gedenkbuch. Die Wirtschaftsuniversität Wien hat in einem Forschungsprojekt das Schicksal ihrer jüdischen Studierenden von 1938 aufgearbeitet. 120junge Männer und Frauen wurden von der Hochschule für Welthandel (wie die WU damals hieß) vertrieben. Die meisten waren polnische Staatsbürger (Wien war als Studienplatz in den osteuropäischen Nachfolgestaaten des Habsburgerreichs beliebt), die nach der Machtübernahme der Nazis in Österreich zurück in ihre Heimat gingen. Dort verliert sich zumeist ihre Spur.

Mehr zum Forschungsprojekt: gedenkbuch.wu.ac.at

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.05.2014)

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