Gastarbeiter als Gigolos

Cezmi Ö. im Garten seines Hauses im mittelanatolischen Dorf Alisusagi.
Cezmi Ö. im Garten seines Hauses im mittelanatolischen Dorf Alisusagi.Özdemir
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Cezmi Ö. aus Mittelanatolien war einer der ersten türkischen Arbeiter in Österreich. Seine Frau nahm er nicht mit. Auf weibliche Gesellschaft musste er dennoch nicht verzichten.

Es gibt Dinge, über die spricht man nicht. Nicht mit seinem besten Freund, nicht mit seiner Frau oder seinen Kindern, und am allerwenigsten in der Öffentlichkeit. Am besten tut man diese Dinge gar nicht erst, um nicht irgendwann in die Verlegenheit zu kommen, darüber reden zu müssen. Vor allem dann, wenn sie derart bizarre Details enthalten, dass sie das eigene Ansehen vor der Familie und der Gesellschaft für immer zerstören können. Eigentlich zerstören müssen. Sollte man jedenfalls meinen.

Der 74-jährige Cezmi Ö. aus einem kleinen mittelanatolischen Dorf ist da anderer Ansicht. Und plaudert ohne die geringsten Hemmungen über ein Phänomen, das zehntausende junge Gastarbeiter in ganz Europa betraf, über das aber der kollektive Mantel des Schweigens gebreitet wurde. Und: Er tut das in Anwesenheit seiner 70-jährigen Frau Adalet, die in dieser Angelegenheit eine, sagen wir, außergewöhnliche Rolle spielt.

Rückblick: In der Hoffnung auf ein besseres Leben verlässt Cezmi 1964 die Türkei und verbringt rund vier Jahrzehnte in Österreich und Deutschland, ehe er nach seiner Pensionierung vor zehn Jahren in sein Heimatdorf zurückkehrt. Während seiner Zeit als Gastarbeiter holt er wegen der besseren Ausbildungsmöglichkeiten nach und nach seine drei Kinder zu sich, nicht aber seine Frau, damit sie sich in der Türkei um seine pflegebedürftigen Eltern kümmern kann. Sein mageres Arbeitergehalt bessert er in diesen Jahren durch, wie er selbst sagt, „Begegnungen“ mit älteren, alleinstehenden Frauen auf, von denen es in der Nachkriegszeit jede Menge gibt.


Zuneigung und Sex. „Es gibt keinen Grund, irgendetwas davon zu leugnen. Ich pflegte jahrelang aus finanziellen Erwägungen heraus Beziehungen zu älteren österreichischen Frauen. So wie das viele Gastarbeiter taten“, sagt er und sucht den Blickkontakt zu seiner Frau, die auf der Terrasse ihres kleinen Häuschens neben ihm sitzt.

Fast so, als wollte er von ihr eine Geste der Zustimmung, der Bestätigung. Sie bleibt aus. Ebenso wie eine Regung der Überraschung oder Ablehnung. Sie sieht ihn lediglich fragend an, als wollte sie, dass er seinen Standpunkt weiter ausführt, damit die Hintergründe deutlich werden. „Es waren die perfekten Zweckbeziehungen“, fährt Cezmi fort. „Sie bekamen von mir Zuneigung, Zeit und Sex. Im Gegenzug ließen sie mich bei sich wohnen und gaben mir Geld, das ich sofort meiner Frau und meinen Kindern in die Türkei schickte. Für mich selbst behielt ich nur das Notwendigste.“

Romantische Gefühle seien nie im Spiel gewesen. „Wie hätte ich mich in 70- oder 80-jährige Frauen verlieben sollen? Wofür halten Sie mich? Außerdem war ich sehr in meine eigene Frau verliebt. Es war ja nicht so, dass ich auf der Suche nach einer neuen Lebenspartnerin gewesen wäre“, betont er und fügt sichtlich nicht ohne Stolz an: „Dass hingegen die Frauen Gefühle für mich entwickelten, kam schon vor. Sie hätten mich in jungen Jahren sehen sollen, ich war ein Prachtkerl.“

Ein moralisches Dilemma erkennt er in seinem Handeln nicht. Betrogen habe er seine Frau nicht, weil er niemals die Absicht gehabt habe, sie zu verlassen. „Das ist das wesentliche Kriterium beim Fremdgehen“, erklärt er seine Auffassung von Treue und Loyalität. „Ich machte lediglich das Beste aus der Situation, um mir und meiner Familie das Leben einfacher zu gestalten. Meine Frau hat das immer verstanden.“

Hat sie das wirklich? „Ja, habe ich“, sagt Adalet. „Ich meine: Gefiel es mir zu hören, dass er bei älteren Frauen wohnt und mit ihnen schläft? Natürlich nicht. Aber ich konnte die Situation und seine Beweggründe nachvollziehen. Er tat es für mich und unsere Kinder. Er hätte uns nie im Stich gelassen. Aber um ehrlich zu sein, will ich nicht weiter über die Einzelheiten seiner Frauengeschichten reden.“


Kennenlernen im Gasthaus. Im Gegensatz zu ihrem Mann, der noch unbedingt erzählen will, wie er mit den Seniorinnen angebandelt hat. Der beste und eigentlich sogar einzige Ort, um sie kennenzulernen, seien Gasthäuser gewesen. „Es spielte sich fast immer gleich ab. Wir jungen Männer saßen dort und suchten Augenkontakt zu älteren Frauen, die allein oder mit Freundinnen, jedenfalls ohne männliche Begleitung, da waren. Wir sprachen ja nur wenig Deutsch, also lief das meiste über Blicke.“

Ob Interesse bestand oder nicht, sei relativ schnell klar gewesen. „Die Körpersprache war eindeutig. Als Nächstes gingen wir dann schon mit ihnen nach Hause und verbrachten zumeist auch die Nacht miteinander. Die Häuser dieser Frauen waren für uns, die wir in heruntergekommenen, karg ausgestatteten Arbeiterheimen hausten, wie luxuriöse Villen.“

Die Sprachprobleme seien während der Beziehungen kein wirkliches Problem gewesen. „Über die wichtigsten Dinge konnte man sich schnell verständigen“, so Cezmi. „Wer ganz frisch in Österreich war und gar kein Deutsch sprach, dem halfen halt Freunde, die schon länger da waren und die Sprache ein bisschen gelernt hatten.“

Die ersten Beziehungen seien für die meisten türkischen Männer durchaus ein „Kulturschock“ gewesen. „An diese Art von lockeren Bekanntschaften waren wir einfach nicht gewöhnt“, erzählt er. „Als ich beispielsweise zum ersten Mal eine Nacht mit einer 75-jährigen Frau verbrachte, ging ich am nächsten Morgen in die Küche, und da saß ein junger Mann. Ich war kurz erschrocken. Es stellte sich heraus, dass er ihr Sohn war, der auch im selben Haus wohnte. Er bot mir allen Ernstes ein Bier an, und wir unterhielten uns ein wenig. In der österreichischen Kultur ist man in dieser Hinsicht echt locker.“

Insgesamt habe er teilweise langjährige Beziehungen mit einem halben Dutzend Frauen geführt. Alle über 65. „In die Brüche gingen die Beziehungen, weil ich eine andere Frau kennenlernte oder die Frauen – das klingt jetzt makaber – starben. Eine, sie war die netteste von allen, starb, kurz bevor sie mir ein Auto kaufen konnte, bei einem Autounfall. Was für eine Tragödie. Das machte mich damals sehr traurig.“

Ein wenig traurig wirkt mittlerweile auch Cezmis Frau, Adalet. Und drängt darauf, das Thema zu wechseln. „Soll ich Ihnen die Liebesbriefe zeigen, die er mir all die Jahre schickte?“, fragt sie und eilt in das Schlafzimmer, um ein paar Minuten später mit einem Stapel alter Briefumschläge und einigen Audiokassetten zurückzukommen. „Mein Mann konnte uns ja durchschnittlich nur einmal in zwei Jahren in der Türkei besuchen. Daher waren diese Liebesbriefe und Kassetten, auf denen er mir Liebesbotschaften aufnahm, jahrelang der einzige Weg, um miteinander zu kommunizieren. Ein Telefon hatten wir damals nicht.“


Liebesbriefe aus Österreich. Zu sagen, die 70-Jährige geriete ins Schwärmen, wenn sie über diese Briefe spricht, wäre eine glatte Untertreibung. Sie glüht regelrecht, wenn sie erzählt, wie sehr sie sich freute, wenn wieder einmal ein Brief von ihrem Mann kam. „In den Tagen danach war ich wie auf einem anderen Planeten. Ich las die Briefe immer und immer wieder und hörte dabei Musik. Meine Schwiegereltern und Nachbarn machten sich über mich lustig und meinten, dass ich jetzt wohl für ein paar Tage zu nichts zu gebrauchen sei, weil ich wieder Post bekommen hätte.“

Cezmi scheint Adalets Euphorie kein bisschen unangenehm zu sein. Im Gegenteil, er genießt sie. „Ich habe mir für diese Briefe immer viel Zeit genommen“, sagt er. „Die Abende in Österreich waren oft lang, ich habe meine Frau, meine Eltern und Kinder sehr vermisst. Wenn mir wiederum meine Frau schrieb oder Kassetten mit den Stimmen meiner Kinder schickte, war ich ein paar Stunden lang extrem glücklich, dann aber tagelang niedergeschlagen, weil ich nicht bei ihnen sein konnte.“ Die Sehnsucht sei manchmal kaum auszuhalten gewesen. „Die eigenen Kinder nicht sehen zu können, ist das Schlimmste überhaupt. Daher holte ich sie auch zu mir. Deswegen, und damit sie in gute Schulen gehen können.“


Keine Vorwürfe. Dass Cezmi seine Kinder, aber nicht seine Frau nachholte, warf ihm Adalet nie vor. „Obwohl ich meine Kinder natürlich auch sehr vermisst habe“, sagt sie. „Aber es war zu ihrem Besten, sie konnten dort zur Schule gehen und erhielten alle eine gute Ausbildung. Und mich um meine Schwiegereltern zu kümmern, machte mir nie etwas aus. Eltern sind in unserer Kultur heilig, man schiebt sie nicht ab.“ Die Eltern sind mittlerweile gestorben, die Kinder leben allesamt in Deutschland.

Ob Cezmi und Adalet im Rückblick auf ihr Leben irgendetwas bereuen? „Schwer zu sagen, jeder bereut etwas“, meint der 74-Jährige. „Aber die großen Entscheidungen wie auszuwandern, meine Kinder nachzuholen und meine Frau nicht, würde ich wohl wieder so treffen. Ich hatte nicht viele Alternativen und versuchte immer, das Optimum aus jeder Situation herauszuholen.“ Gewissensbisse in Bezug auf seine Zweckbeziehungen zu älteren Frauen habe er auch rückblickend nicht. Es sei alles im Einvernehmen geschehen, und er habe dadurch sich und seiner Familie ein bisschen mehr bieten können, als er ihnen möglicherweise allein hätte bieten können. Und: „Diese Frauen waren alt und einsam. Sie wussten ganz genau, worauf sie sich einließen. Wir alle waren in einer Art Notlage und suchten beieinander Zuflucht und Trost. Wer über mich urteilen will, soll erst einmal das Leben führen, das ich geführt habe, den Verzicht erleben, den ich erlebt habe. Dann kann er über mich urteilen.“

Das letzte Wort. Das letzte Wort will Adalet haben: „Man sagt, die Seele einer Frau ist wie ein offenes Buch, dessen Schrift unlesbar ist. Halten Sie mich nicht für eine schwache, wehrlose Frau, die sich alles gefallen lässt“, betont sie. „Ich habe mir meine Gedanken über das Geschehene gemacht und meine Entscheidungen bewusst getroffen. An Ihrem Blick sehe ich, dass Sie mir nicht einen Funken Verständnis entgegenbringen. Aber das müssen Sie auch nicht. Manches versteht man nur, wenn man es erlebt hat.“

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Dieser Beitrag wurde durch die gemeinnützige Initiative investigate! e.V. gefördert.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.05.2014)


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