Terrorismus: Der Krieg gegen Schülerinnen

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Nicht nur in Nigeria werden Mädchen mit Gewalt daran gehindert, in die Schule zu gehen. Auch in anderen Ländern müssen Kinder um ihr Leben fürchten – nur weil sie lernen wollen.

Sie erkannte ihre Tochter sofort. Im Ganzkörperschleier eingehüllt, betend, die Augen ängstlich zu Boden gerichtet, saß das Mädchen zwischen den anderen Schülerinnen, die Anfang April in Nordnigeria von der Boko Haram entführt worden waren. Die Mutter hatte das Video der Islamisten am Montag im TV gesehen.
Die Schülerinnen – und ihre Eltern – sind dafür „bestraft“ worden, dass sie trotz Lebensgefahr nicht auf eine Ausbildung verzichten wollten. Der Fall der mehr als 200 gekidnappten nigerianischen Schülerinnen hat international für Empörung gesorgt. Großbritannien, Frankreich und die USA beteiligen sich an der Suche, US-Aufklärungsflugzeuge sind im Einsatz. Die nigerianische Regierung hat der Nachrichtenagentur Reuters mitgeteilt, dass sie für Verhandlungen mit Boko Haram bereit sei. Dazu sei eigens ein Komitee einberufen worden.

Nicht nur in Nigeria, in zahlreichen anderen Ländern werden Kinder daran gehindert, lesen, schreiben und rechnen zu lernen – ganz besonders Mädchen. Mehr als die Hälfte der 57 Millionen sechs- bis 13-jährigen Kinder, die weltweit nicht in die Schule gehen, sind Mädchen, dokumentiert Unicef. Neben kulturellen Faktoren und ökonomischen Zwängen ist es vor allem politische Gewalt, die die Kleinen davon abhält, eine Ausbildung zu bekommen: In Konfliktzonen bleiben 28,5 Millionen Kinder aus Angst vor Terror und Krieg den Volksschulen fern. Hier einige Beispiele für diesen „Krieg gegen die Schulmädchen“:

  • Pakistan: Das weltweite Gesicht der Opfer des Terrors gegen Schülerinnen ist die inzwischen 16-jährige Malala Yousafzai. Malala wurde 2009 im pakistanischen Swat-Tal von den Taliban in einem Bus angeschossen, weil sie trotz Warnungen der Islamisten darauf bestand, in die Schule zu gehen. Für die Taliban ist ebenso wie für Boko Haram „westliche Ausbildung Sünde“ – ganz besonders für Frauen. Die massiven Kampagnen Malalas haben nur wenig verändert: Allein 2010 wurden 900 Schulen nach Taliban-Drohungen geschlossen, 120.000 Schülerinnen haben seitdem keinen Schulplatz. 2012 wurden zwei Schulmädchen von Extremisten mit Säure beworfen. Für den Feldzug der radikalen Islamisten hat allerdings kaum jemand Verständnis: In landesweiten Umfragen (auch in den konservativen ländlichen Gebieten) sagt die Mehrheit der Eltern, sie wünsche sich eine Schulausbildung für ihre Töchter. Malalas Biografie ist übrigens in zahlreichen Privatschulen des Landes verboten. Als Grund führen sie „anti-islamische und anti-pakistanische Passagen“ an.
  • Afghanistan: Auch nach dem Sturz der Taliban bleibt Afghanistan für Schulmädchen eines der gefährlichsten Länder der Welt: Allein 2009 bis 2012 gab es 1100 Anschläge radikaler Islamisten auf Schulen. Zwar sind nur ein Bruchteil aller Schulen (19 Prozent) für Mädchen geöffnet, doch auf diese wurden 40 Prozent der Attacken verübt. Aus Angst vor den Terroristen schließen wöchentlich hunderte Bildungseinrichtungen. Die Gewalt der Extremisten kennt viele Spielarten: Vor zwei Jahren verstreuten die Taliban in einer Mädchenschule ein Pulver und vergifteten damit Schülerinnen und deren Lehrer. Nur wenige Tage davor hatten sie in einer anderen Mädchenschule das Trinkwasser vergiftet.
  • Somalia: Die al-Qaida-nahe Extremistengruppe Al-Shabaab betreibt seit Jahren gezielten Terror gegen „nicht islamische“ Schulen im Bürgerkriegsland. Laut Human Rights Watch hat sie 2012 Dutzende Schülerinnen gekidnappt und gezwungen, Shabaab-Mitglieder zu heiraten. Aus Angst vor Angriffen haben inzwischen hunderte Schulen geschlossen. Mädchen gehen kaum noch aus dem Haus.
  • Syrien: 93.000 Kinder sind laut UN-Angaben seit Beginn des Bürgerkrieges 2011 getötet worden, 1,6 Millionen sind auf der Flucht. Das Schulsystem ist kaum mehr funktionsfähig: Laut offiziellen Angaben wurden 20 Prozent der Schulen zerstört, aber die Zahl dürfte höher sein. In der umkämpften Stadt Aleppo drücken nur noch sechs Prozent der Kinder die Schulbank. Mädchen sind kaum mehr darunter. Vor dem Bürgerkrieg galt das syrische Schulsystem als eines der besten der arabischen Welt – ganz besonders für Mädchen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.05.2014)

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