Die Türkei ist mit dem wohl schlimmsten Berbauunglück ihrer Geschichte konfrontiert. Angesichts hunderter Toter gerät die Regierung unter massiven Druck der Opposition.
Istanbul. Sami Kiliç hat die Katastrophe mit eigenen Augen gesehen. „Die Überlebenschancen sind weniger als null", sagt der türkische Bergarbeiter am Mittwochmorgen vor der Kohlegrube im westtürkischen Soma. Nach offiziellen Angaben sind zu diesem Zeitpunkt rund 200 Todesopfer geborgen worden, mehrere hundert Bergarbeiter konnten gerettet werden. Doch Kiliç, der an den Rettungsarbeiten tief unter Tag teilgenommen hat und jetzt mit rußverschmiertem Gesicht unter seinem gelben Bergarbeiterhelm vor der Kamera eines türkischen Fernsehsenders steht, sieht noch kein Ende des vielleicht schlimmsten Bergwerkunglücks der türkischen Geschichte. Während Kiliç spricht, marschieren auf den Straßen mehrerer türkischer Städte Demonstranten, um gegen die Regierung zu protestieren. „Das war kein Unfall, das war ein Verbrechen", steht auf Schildern in Istanbul. Demonstranten liefern sich Straßenschlachten mit der Polizei, die mit Tränengas gegen die Menge vorgeht.
Am Tag nach der Explosion eines Trafos im Soma-Bergwerk rund 400 Meter unter Tag bleiben die Ausmaße des Grubenunglücks lange unklar. Der aus Ankara herbeigeeilte Energieminister Taner Yildiz räumt ein, dass mit einer steigenden Zahl der Opfer zu rechnen sei: „Unsere Hoffnungen sinken." Ankara ruft eine dreitägige Staatstrauer aus. Das Feuer in dem Trafo ließ in dem Bergwerk den Strom ausfallen - Aufzüge und Frischluftversorgung funktionierten nicht mehr. Just beim Schichtwechsel, als fast 800 Beschäftigte in der Grube waren, ereignete sich das Unglück.
Lastwagen mit Särgen
So könnte die Türkei vor dem schwersten Bergwerksunglück ihrer Geschichte stehen: Im Jahr 1992 starben 263 Arbeiter bei einem Unglück an der Schwarzmeerküste. Auch Bergarbeiter Kiliç hat kaum noch Hoffnung für seine Kollegen. In den Schächten sei es eng und heiß, berichtet er, beißender Rauch mache das Atmen schwer. Fernsehsender berichten, das Kühlhaus, in dem die Leichen gesammelt werden, sei voll, weil inzwischen schon 300 Leichen dorthin gebracht worden seien - also weit mehr, als offiziell zugegeben. Im Internet kursieren Fotos von Lastwagen mit hastig aufgeladenen Särgen.
Der wirtschaftliche Boom, den die Türkei in den vergangenen Jahren erlebt hat, geht nicht zuletzt zu Lasten vieler Beschäftigter, die unter teils lebensgefährlichen Bedingungen schuften. Das gilt vor allem für Zweige wie die Bauindustrie, den Schiffsbau und eben den Kohlebergbau. Allein in Soma sollen seit September 2012 bei mehreren Unfällen insgesamt 22 Bergleute ums Leben gekommen sein - jedes Mal waren wie jetzt auch Brände unter Tag die Ursache.
Laut einer wissenschaftlichen Untersuchung aus dem Jahr 2008 ist es um die Sicherheit in türkischen Bergwerken schlimmer bestellt als in China: Demnach ist in China pro Million Tonnen geförderter Kohle ein Todesopfer zu beklagen - in der Türkei sind es sieben. Insbesondere unter Studenten und Akademikern wächst der Unmut gegen die Missachtung jeglicher Arbeiterrechte beim Wirtschaftswachstum. Nach dem Unglück von Soma ist spürbar, dass der Geist der Gezi-Proteste des letzten Jahres und der Ärger über die Regierung erneut aufflammen.
"So etwas kommt vor"
Unglücke wie das in Soma sind keine Zufälle, sagen Opposition und Gewerkschaften. Sie werfen der Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan unter anderem vor, sie habe bei der Privatisierung von Bergbauunternehmen und anderswo nicht auf die Einhaltung von Sicherheitsvorkehrungen geachtet. Verschlimmert wird die Lage durch eine „Wird schon nichts passieren"-Haltung in Ankara: Erst Ende April brachte die Oppositionspartei CHP im Parlament einen Antrag auf Untersuchung der Missstände in Soma ein. Die Regierungspartei bügelte den Antrag. nieder. Wirtschaftswissenschaftler Aziz Celik bringt die Vorwürfe der Regierungsgegner auf den Punkt: Das Unglück von Soma sei ein „Massaker an den Arbeitern".
Am Mittwochnachmittag traf Erdoğan mit versteinerter Miene in Soma ein. Zu diesem Zeitpunkt lag die offizielle Zahl der Opfer bei 238, in den Abendstunden wurde sie auf 274 Tote korrigiert. Donnestag früh korrigierte der türkische Energieminister Taner Yildizdie Zahl erneut. Derzeit stehe man bei 282 Opfern.
Oppositionspolitiker sprachen von bis zu 350 Opfern, denn 120 Kumpel waren noch unter Tag eingeschlossen. 450 Männer sollen gerettet worden sein. Bei einer Pressekonferenz sprach Erdoğan von einem „sehr großen Schmerz", würdigte die Arbeiter und lobte die Rettungsteams. Auf kritische Fragen ratterte er hohe Opferzahlen bei Grubenunfällen in anderen Ländern herunter, um das Unglück zu relativieren: „Es gibt kein Bergwerk ohne Unfall. So etwas kommt vor." Als Erdoğan die Stadt verließ, wurde sein Fahrzeug von einer wütenden Menge mit Tritten traktiert: „Ministerpräsident, tritt zurück", skandierten sie.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.05.2014)