Rarität: Auch Schnecken haben Könige

(c) Ute Woltron
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Selten ist er, der Schneckenkönig. Er trägt sein Haus andersherum und taucht nur alle paar Jahre einmal auf. Dann kann er oft gleich wieder in wohl gehüteten Verstecken verschwinden.

Die Wahrscheinlichkeit, einen Schneckenkönig zu finden, steigt. Selten waren die Bedingungen günstiger: warmer Winter, feuchter Frühling. Es ziehen fast schon lächerlich große Massen von Schneckenhorden ihre Kreise um die begehrtesten Pflanzen: Lilien, Salate, junge knackige Dahliensprossen. Die Tafel ist großflächig gedeckt, der Weg durch den Regen wohlbereitet, das große Raspeln hat begonnen. Doch nein, keine Angst, hier wird nicht schon wieder das Trauerlied über die Schneckenplage angestimmt, es wird vielmehr die Suche nach dem Schneckenkönig gestartet.

Dieser gehört der Art der Weinbergschnecken an und ist trotzdem selten. Denn er zählt zu den überaus raren Exemplaren, deren Haus nicht nach rechts, sondern nach links dreht. Zur Erklärung: Legte man all die zahlreichen derzeit zur Verfügung stehenden Weinbergschnecken so auf, dass man die Spitze des spiralig gedrehten Schneckenhauses sähe, so kröchen sie alle nach rechts. Der Schneckenkönig hingegen wäre derjenige, der nach links kriecht. Und einen solchen sollte man in den ungeheuerlichen Mengen, in denen diese Tiere derzeit gleich vor der Haustür zur Verfügung stehen, doch finden.

Doch nichts da, trotz eingehender Suche war keiner aufzufinden. Die Schätzungen der Häufigkeit von Schneckenkönigen schwanken stark. Die einen meinen, es sei unter 10.000 Schnecken einer dabei. Die anderen sagen, nur eine aus einer Million Weinbergschnecken sei linksgängig. Bisher ist meine Suche zwar gescheitert, aber irgendwann wird es so weit sein, und es kriecht mir einer von rechts nach links über den Weg, und das Haus schaut in meine Richtung. Er wird diesen Ausflug nicht überleben. Er wird meine Beute werden.

Nicht viel ist über den Schneckenkönig bekannt, und nur alle heiligen Zeiten taucht einer auf. Wahrscheinlich, weil ihn die meisten gar nicht bemerkten, würden sie einem begegnen. Weil sie die Schnecken mit Abscheu betrachten und drauf pfeifen, in welche Richtung deren Häuslein guckt. Dabei ist die Betrachtung eines Schneckenhauses durchaus der Mühe wert. Es handelt sich um ein formvollendetes Wunder der Natur.

Der Schneckenkönig fristet sein seltenes Dasein also im Unbekannten. Manchen Leuten jedoch ist seine Absonderlichkeit und Seltenheit Legende, und das über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte. So berichtete die höhere Tochter einer solchen Familie, dass seit je im Clan gemunkelt werde, die herrische Urgroßmutter sei zwar ein rechtes Fegefeuer, nenne aber einen Schneckenkönig ihr Eigen. Woher er stamme, wisse man nicht, aber immer wieder tauche sein Geist in den Gesprächen auf. Es wurde vermutet, er befinde sich in einem Schließfach, dessen Inhalt nur der alten Dame bekannt war.

Sie wurde weit über 90, doch nie vergaßen ihre Erben die Mär vom Schneckenkönig im Schließfachhort, und es wurde hinter vorgehaltener Hand diskutiert, wem er einst zufallen solle, wenn es denn – der Herr möge abhüten! – so weit wäre. Als die alte Dame schließlich das Zeitliche segnete, fand man zwar allerlei Überraschendes in ihrem Nachlass, doch nicht den Schneckenkönig. Er blieb unauffindbar. Der Clan war ratlos. Entweder sie hatte gar keinen besessen und ihre Nachkommenschaft an der Nase herumgeführt – eine These, die von den Hinterbliebenen störrisch angefochten wurde –, oder sie hatte ihn so gut versteckt, dass er heute noch irgendwo in den ausgedehnten Gemäuern ihrer Villa wohl verwahrt ruht und der Entdeckung harrt. Oder – diese Variante der Geschehnisse sorgte nachhaltig für unterdrückte Unruhe in der Familie– irgendjemand hat der Ahnin den Schneckenkönig abgeluchst, ihn davongeschleppt, in ein neues Schließfach gesteckt, auf dass dieses Spiel auch über die kommenden Jahrzehnte weitergespielt werden könne.

Meine Vorfahren haben sich beklagenswerterweise nie um Schneckenkönige gekümmert, obwohl in unseren Breiten wahrlich genug Gelegenheit gewesen wäre. Das hole ich jetzt nach. Wenn ich dann die Majestät der Mollusken aufgefunden habe, vermache ich seine sterblichen Überreste sofort meinem Sohn. Zuvor lege ich ihn aber sicherheitshalber in ein Schließfach – denn was weiß man?

Gartenlaube

Weinbergschnecken waren lange Bestandteil der heimischen Küche. Heute stehen sie in Österreich, der Schweiz und Teilen Deutschlands unter Schutz. Offenbar sind sie regional sehr selten geworden. Gern sammle ich Weinbergschnecken ein und übergebe sie an Bedürftige zur Verbesserung der Weinbergschneckenpopulation. Mehrere Kilo pro Tag stünden zur Verfügung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.05.2014)

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