Brüder Dardenne: Solidarität und noch kein Sex

ean-Pierre und Luc Dardenne, Cannes
ean-Pierre und Luc Dardenne, Cannes(c) REUTERS (REGIS DUVIGNAU)
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Die belgischen Filmemacher Jean-Pierre und Luc Dardenne über ihren Wettbewerbsfilm "Two Days, One Night", schwierige Solidarität auf dem Arbeitsmarkt und ihren Wunsch, mit Kinostar Marion Cotillard zu drehen.

Die Presse: In „Two Days, One Night“ müssen sich Arbeiter einer Firma entscheiden: Wenn sie ihren Bonus wollen, muss eine Kollegin gehen. Ihre Hauptdarstellerin klappert daraufhin ein Wochenende lang Arbeitskollegen ab, um sie zu bitten, für sie und gegen den Bonus zu stimmen. Dabei stellt sie jedes Mal dieselben Fragen. Wie schwer fiel Ihnen die Entscheidung, einen Film zu drehen, der im Prinzip aus lauter Wiederholungen besteht?

Luc Dardenne: Wir lieben diese Idee der Wiederholung. Wir wurden natürlich gefragt, ob wir uns deshalb nicht ein wenig Sorgen machen, aber wir glauben, dass diese Wiederholung essenziell für den Weg ist, den diese Frau zurücklegt. Jedes Mal, wenn sie einen ihrer Kollegen besucht, muss sie die gleichen Fragen stellen, und auch die Kollegen stellen ihr immer die gleichen Fragen: Was machen die anderen? Was haben sie entschieden? Sind sie in der Mehrheit oder in der Minderheit? Sie müssen sich vergewissern, dass sie Teil der Mehrheit sind, weil sie sich dann weniger verantwortlich fühlen. Ganz zu Beginn ist diese Sandra jemand, der gar nicht mehr spricht. Sie fühlt sich komplett ausgeschlossen, sie traut sich nicht, sich für sich selbst einzusetzen. Durch diese Reise lernt sie, wieder zu existieren und an sich zu glauben.

Haben Sie je davon gehört, dass Arbeiter zu einer solchen Entscheidung gezwungen wurden?

Luc Dardenne: Nicht genau von so einer Situation, aber von mehreren ähnlichen. Und wir haben umgekehrt gehört, dass Mitarbeiter bereit waren, ihr Gehalt zu reduzieren, damit Kollegen nicht gekündigt wurden. Es gab aber auch eine amerikanische Reality-Show, in der ein Fernsehteam kleine Unternehmen besucht. Dort heißt das Spiel: Wer wird als Nächstes gefeuert? Fast, als würde man entscheiden, wer als Nächster hingerichtet wird. Das ist Teil des heutigen Medienzirkus. In unserem Film geht es um das Gegenteil: darum, wie Sandra Stück für Stück herausfindet, dass sie ein Recht darauf hat, zu existieren, zu arbeiten und ihre Meinung zu sagen. Darum, wie sie es schafft, in ihrer Umgebung Solidarität zu erzeugen, die unter ihren Kollegen längst verloren war. Wettbewerb und Rivalität sind heute so stark, dass wir permanent gegeneinander kämpfen müssen. Da ist es natürlich schwierig, solidarisch zu sein. Wir brauchen das Geld. Für die Hypothek aufs Haus, den Kredit fürs Auto, den Urlaub.

Warum haben Sie sich für eine Frau als Protagonistin entschieden?

Jean-Pierre Dardenne: Die Figur der Sandra begleitet uns schon seit zehn Jahren. In diesen zehn Jahren gab es einen kurzen Punkt, an dem wir darüber nachgedacht haben, einen Mann zum Protagonisten zu machen. Ich denke, dass wir uns für eine Frau entschieden haben, weil Frauen auf dem Arbeitsmarkt schwächer sind. Sie werden eher gefeuert als Männer. Als wir zu schreiben begannen, dachten wir sofort an Marion Cotillard. Vielleicht wollten wir unbewusst mit ihr arbeiten. Wir können nicht alles erklären. Wenn wir Filme machen wollen, müssen wir daran glauben, dass wir mit Geistern leben, mit Dingen, die wir nicht kontrollieren können. Ein französischer Künstler sagte einmal: Ein Künstler ist nicht Herr in seinem Haus. Er kennt nicht einmal alle Zimmer.

Sie haben viele Ihrer Filme mit Laiendarstellern gedreht. Das ist jetzt der zweite mit einem großen Star. Warum?

Jean-Pierre Dardenne: Auch als Filmemacher hat man irgendwann Lust herauszufinden, wie es ist, mit einem echten Star zu arbeiten. Die Herausforderung mit einem Star wie Marion Cotillard war, für sie und für uns, einen Punkt zu erreichen, an dem wir vorgeben können, dass wir zum ersten Mal einen Film machen. Sich von allem zu trennen, was man mit sich schleppt, an Image und Bildern, die den Star umschwirren. Das ist eine Arbeit, die man gemeinsam erledigt.

Wie haben Sie sich angenähert?

Luc Dardenne: Wir haben mit ihr wie mit all unseren anderen Schauspielern gearbeitet. Wir proben viel, setzen uns dabei aber nicht hin und lesen, sondern proben physisch sehr lange. Ich glaube, dass Marion es geschafft hat, für diesen Film in einen neuen Körper zu finden – und nachdem sie das geschafft hatte, marschierte sie in unser Universum. Bei den Proben arbeiten wir an der Art, wie sie geht, wie sie fällt, wie sie wieder aufsteht, wie sie sich hinsetzt, wie sie nach etwas in ihrer Tasche sucht, wie sie das Telefon abhebt. Wir haben auch an der richtigen Distanz zwischen ihr und ihrem Mann, Manu, gearbeitet. Manchmal ist sie sehr nahe, manchmal tritt sie wieder zurück.

Im Film wird oft gegessen. Geht es darum, dass Essen trotz allem etwas Selbstverständliches ist? Dass Armut heute etwas anderes bedeutet als früher?

Jean-Pierre Dardenne: Es stimmt, das ist zum ersten Mal so. Normalerweise gibt es bei uns nur Spiegeleier. Wahrscheinlich liegt das daran, dass wir Manu den Job eines Kochs gegeben haben. Aber Essen ist auch etwas, was man teilt, vor allem in einer Familie. Und da eines der Themen Solidarität ist, passt das. Zweifellos gibt es in diesem Film mehr Essen als in früheren. Schmutzige Geister sagen, das liege daran, dass wir alt werden und gut essen wollen.

Luc Dardenne: Noch sind wir nicht so weit, dass wir auch Sex in unsere Filme einbauen. Vielleicht machen wir das eines Tages.

ZU DEN PERSONEN

Jean-Pierre und Luc Dardennesind Regisseure, Produzenten und Drehbuchautoren. Mit ihren Sozialdramen „Das Kind“ und „Rosetta“ gewannen die belgischen Brüder in Cannes zwei Goldene Palmen. Zuletzt erhielt „Der Junge mit dem Fahrrad“ den Großen Preis der Jury. „Two Days, One Night“ erzählt von einer jungen Mutter, die ein Wochenende Zeit hat, ihre Kollegen davon zu überzeugen, auf ihre Boni zu verzichten, damit sie ihre Stelle behält.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.05.2014)

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