Grätzeltour: Heinestraße

Zu Hause in der Heinestraße, unterwegs durch einen Mikrokosmos innerhalb der Leopoldstadt. Kulinarikexpertin und Art-Consulterin Dagmar Gross zeigt uns ihr Wohnrevier.

Die Breite entspricht nicht mehr der Bedeutung. Links und rechts säumen Trottoirs, Nebenfahrbahnen, Alleebäume die Heinestraße im zweiten Wiener Gemeindebezirk, eine Praterstraße-im-Kleinen-Situation, mit der sie nach dem Zweiten Weltkrieg das Schicksal des Imageverlusts teilte. Am unteren Ende landet sie in einer Sackgasse, beim U-Bahn-Abgang und dem Gasthaus-Hansy-Schanigarten, im Norden vor der Mauer des Augartens, Durchzug bringen die querende Tram und die Taborstraße. Als die beiden großen gründerzeitlichen Bahnhöfe (Nord- und Nordwest-) noch existierten, war dieses Grätzel ein wichtiges Entree zur Stadt.

Ruhig ist es hier, trotz der Nähe zum Praterstern. Und historisch. Nicht wunderhübsch oder topsaniert, doch genau das hat eben Potenzial. Zunehmend zieht diese Unaufgeregtheit neue Bewohner an, solche, die in der Leopoldstadt leben wollen, ohne den Hype rund um die Gentrifizierungszonen mitmachen und mitzahlen zu müssen. „Schon lange, bevor ich hergezogen bin, hat es mich zum Laufen hierhergezogen. Ich hab damals im Neunten gewohnt und mir immer gedacht, hier würde ich gern leben“, erzählt Dagmar Gross, Art-Consulterin, Kulinarikexpertin und Grosswerk-Betreiberin.

Erwischt hat sie mit ihrer Wohnung eine Phase des Aufschwungs, erkennbar an den zunehmend sockelsanierten Bauten und den einen oder anderen Dachgeschoßausbauten in den Zinshäusern aus dem Historismus. Das war Ende 2011, seither beobachtet sie die Veränderungen der Gegend genau: „Es hat sich gastronomisch verbessert. Auch, was die Einkaufsmöglichkeiten anbelangt. Allerdings haben einige langjährige Betriebe zugesperrt“, sagt sie und zeigt auf die Putzerei gegenüber. „Die werd ich vermissen, weil sie so persönlich geführt war. Meine Nachbarin und ich träumen davon, dass da einmal ein Kaffeehaus mit einem kleinen Weinangebot hineinkommt. Ein Objekt mit schönen hohen Räumen und einer großen zusammenhängenden Fläche.“

Viertel im Aufbruch

Einen Leerstand hatte Gross länger in der Nachbarschaft: ein Hotel, aus dem nun ein Studentenhaus geworden ist. Metamorphosen stehen hier in der Straße und deren Einzugsgebiet einige an, manche gelingen, wie etwa die des Café Else auf Nummer 36, gestern einschlägige Adresse, heute cooler Ort mit Fünfzigerjahre-Aura.

Praktisch sei es hier, weil noch einige Handwerksbetriebe angesiedelt sind, meint Gross. So nah, dass eigentlich keine Anfahrtspauschale anfallen müsste, grinst sie. Manches so nah, dass man beim Streifzug durchs Grätzel förmlich draufstößt: der Installateur, der seine WC-Kollektion auf dem Gehsteig präsentiert. Oder die Konditorei um die Ecke in der Taborstraße, die mit einer rosa Fassade im Erdgeschoß dem Rest des grauen Hauses den Kampf ansagt. Es ist ein kunterbunter Mix, oft einfach und günstig: „Wenn ich ein skurriles Geschenk mitbringen will, gehe ich in das russische Geschäft, wenn ich Marktleben suche, nur ein paar Schritte weiter zum Volkertmarkt.“ Sofern ihr momentan während der Vorbereitungsarbeiten zur Vievinum Zeit bleibt.

Die Atmosphäre hier ist multikulturell, der Stadtteil seit jeher ein Ort für Ankommende. Vor dem Krieg hat ihn die jüdischen Bevölkerung stark geprägt, die Tragik der Ereignisse scheint an manchen Ecken noch greifbar. Auch die Kernphysikerin und Pazifistin Lise Meitner, deren Leistungen sie sehr bewundert, hat hier gelebt, erzählt Gross. Trotz ihrer enormen Leistungen blieb der vor den Nazis nach Schweden geflüchteten Wissenschaftlerin der Nobelpreis versagt. Eine Gedenktafel auf Heinestraße Nummer 27 erinnert noch an sie.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.05.2014)

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