Lettischer Sex mit Holzbrett

"Stavanger"Wiener Festwochen
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Konstantin Bogomolovs Bearbeitung von Marina Krapivinas "Stavanger" bei den Wiener Festwochen ist wild, vulgär und cool.

Das Internet ist schuld: Kristine aus Lettland leidet unter ihrer Patchwork-Familie in beengter Wohnsituation. Ihr Mann Kolja versagt im Bett, sie muss sich zudem um den nach einem Schlaganfall pflegebedürftigen Vater Koljas kümmern. Seine Tochter aus erster Ehe hat nach einem Unfall den Kopf ihrer Großmutter transplantiert bekommen, die Situation ist surreal. Was sollte eine junge Frau also tun? Kristine flüchtet in den Chatroom, lernt den Norweger Odd kennen und entschließt sich, zu ihm nach Stavanger zu fliegen. Eine zweite Chance? Da weiß sie noch nicht, dass das neue Patchwork mindestens so absurd ist wie das erste. Odd ist ein Junkie, der in einer Nervenheilanstalt war, seine Exfrau Agnes füttert den Teenager-Sohn Thomas mit Heroin statt mit Brei, seit er ein Baby war. Norwegen ist mindestens so anarchisch wie der wilde Osten. Die Rückkehr scheint vorprogrammiert zu sein.

Diese Handlung aus dem Drama „Stavanger“, mit dem 2011 die russische Autorin Marina Krapivina (*1971) reüssierte, hat der Moskauer Star-Regisseur Konstantin Bogomolov (*1975) radikal adaptiert und zu seinem Debüt für Liepājas teātris gemacht. In lettischer Sprache reist dieses 2012 uraufgeführte „Stavangera (Pulp People)“ inzwischen als Gastspiel um die Welt.


Ein Frauen-Torso unter dem Tisch. Es ist erfreulich, dass es in Wien bei den Festwochen gezeigt wird (die Premiere war am Freitag, am Sonntag ist es noch einmal im Museumsquartier zu sehen), denn diese Aufführung ist wild, vulgär und von unglaublicher Coolness. Bogomolov neigt zum Fantastischen, seine zehn Darsteller führen diesen Wahnsinn ungerührt mit großer Genauigkeit aus. Man kann aber als Zuseher auch von einer respektlosen Überforderung reden. Gesprochen wird Lettisch, die Simultanübersetzung ist auf Deutsch, Übertitel bringen Zusatzinformationen – den Chat, Anweisungen. Das Bühnenbild von Larisa Lomakina: eine hinter Glaswänden aufgebaute, überfrachtete Wohnung. Nur zum Schein ist die Fülle an Objekten, zwischen denen sich gedrängt die Schauspieler bewegen, ein realistisches Set. Denn Menschen werden zu Lampenschirmen, große rote Luftballone zu vergrößerten Brüsten, ein Frauenkopf und ein Torso liegen unter dem Küchentisch. Und wenn Kristine Sex hat, holt sie ein Holzbrett hervor – das nennt sie ihre Vagina. Darauf darf dann der jeweilige Partner ein wenig mit einem Akku-Bohrer herumstechen.


Die „Schwarze Stewardess“. Die Sprache ist oft vulgär, es geht um Kreatürliches. Da wird gelacht, doch während man sich auf solche Höhepunkte des Slapstick konzentriert, während man mit der leicht zeitversetzten Übersetzung kämpft, passiert so vieles parallel, dass man fast passen muss vor derartiger Überinformation. Etwa so: Taxifahrer Kolja macht rechts auf imaginärer Fahrt mit der „Schwarzen Stewardess“ herum, die Flugzeugabstürze in Serie als Einzige überlebt, zugleich aber befindet sich links simultan Norwegen. Kristine und Odd vergnügen sich hinten links, während daneben der paralysierte Großvater Grimassen schneidet und vorne der Junkie-Sohn mit einer Video-Kamera spielt. Es gibt dazu zwei Screens, die schräge Live-Aufnahmen zeigen.

Etwas viel? In diesem Falle hilft nur eines. Sich naiv darauf einlassen, staunen. Denn diese rasante schwarze Komödie kann tatsächlich bezaubern, wenn sie gnadenlos moderne Lebenswelten persifliert. Ob man sich in einer Hafenstadt an der Ostsee befindet, wie in Liepāja, oder an der Nordsee, wie in Stavanger – die Szenen gleichen sich. Bretter werden gebohrt, und einer fragt: „Spürst du's?“ Dann heißt es lakonisch: „Ja.“ Das kann glauben, wer will.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.05.2014)

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