Die Ukraine im Würgegriff des russischen Imperiums

Nicht wegen ihrer inneren Probleme droht die Ukraine zu zerfallen, sondern wegen der Einmischungen Moskaus.

In den meisten aktuellen Kommentaren zur Ukraine-Krise werden die Schwäche und Zerrissenheit des ukrainischen Staates herausgestellt. Man wusste schon immer, dass dieser „künstliche“ Staat zerfallen werde. Dabei vergessen viele, dass der Konflikt erst ausbrach, als Russland eingriff und begann, die Ukraine zu destabilisieren. Die Ukraine droht nicht infolge innerer Probleme zu zerfallen, sondern weil Russlands Präsident Wladimir Putin sich mit wirtschaftlichen, politischen und militärischen Mitteln einmischte.

Die gut 20-jährige Geschichte der unabhängigen Ukraine ist nicht die Geschichte eines „gescheiterten Staates“, sondern eine relative Erfolgsgeschichte.

Als die Ukraine zusammen mit den übrigen 14 Sowjetrepubliken, unter ihnen Russland, im Dezember 1991 die Unabhängigkeit erlangte, prophezeiten die Massenmedien den baldigen Zerfall dieses „künstlichen“ Staates oder malten gar die Gefahr eines Bürgerkriegs zwischen West- und Ostukraine an die Wand. Diese Szenarien erwiesen sich als unbegründet. Ganz im Gegenteil: Es gelang, die Ukraine international zu etablieren und die Bevölkerung in den jungen Staat zu integrieren.

Gewaltige Probleme

Alle Umfragen besagen, dass sich trotz historischer und ethnischer Unterschiede zwischen den einzelnen Regionen die weit überwiegende Mehrheit der ukrainischen Staatsbürger zum unabhängigen Staat bekennt. Vor März 2014 gab es keine nennenswerten separatistischen Bewegungen. Es ist also eine Staatsbürgernation entstanden, die Unterschiede der Regionen und der ethnischen Gruppen (Ukrainer und Russen) überwölbt.

Gewiss, die Probleme der Ukraine bleiben gewaltig: Ja, die Ukraine ist wirtschaftlich rückständig, sie hat enorme soziale Probleme, eine unvollkommene Rechtsstaatlichkeit, ist geprägt durch eine allgegenwärtige Korruption. Andererseits ist eine Demokratisierung gelungen, die in Russland und den meisten anderen postsowjetischen Staaten nicht stattfand. Die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen verliefen weitgehend korrekt und brachten, wie in Demokratien üblich, meistens einen politischen Richtungswechsel. Die Medienlandschaft ist vielfältig, anders als in Russland, wo die Staatsmacht nahezu ein Monopol hat. Im Gegensatz zu Russland sind Verstöße gegen die Menschenrechte selten und der politische Spielraum größer.

Die Demokratisierung wurde zweimal bedroht, beide Male von Viktor Janukowitsch, dem von Putin unterstützten ehemaligen Gouverneur von Donezk. Im Herbst 2004 wurden die Präsidentenwahlen grob zugunsten von Janukowitsch gefälscht, was die Orange Revolution auslöste. Eine spontane Massenbewegung erzwang eine Wiederholung der Wahl, aus der Viktor Juschtschenko als Sieger hervorging. Nachdem die Helden der Orangen Revolution ihren Kredit verspielt hatten, wurde Janukowitsch 2010 doch noch zum Präsidenten gewählt. Er begann die Demokratisierung rückgängig zu machen, ein autoritäres Regime zu errichten, politische Gegner wie Julia Timoschenko ins Gefängnis zu werfen und sich und seine Familie maßlos zu bereichern.

Die Opposition gegen den autoritären kleptokratischen Präsidenten wuchs an, und als dieser seine verbindliche Zusage, das Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterschreiben, im letzten Moment zurückzog, brachte dies das Fass zum Überlaufen.

In der Revolution des Euromaidan demonstrierten Hunderttausende fast drei Monate lang friedlich gegen Janukowitsch und seine Regierung. Als dieser keine Konzessionen machte und zunehmend mit Gewalt gegen die friedlichen Demonstranten vorging, wurde er gestürzt und vom Parlament seines Amtes enthoben.

Verdrängte Tatsachen

Nach seiner Flucht wählte das Parlament einen amtierenden Präsidenten und eine Übergangsregierung. Die beiden Revolutionen auf dem Kiewer Maidan waren die größten zivilgesellschaftlichen Massenbewegungen in Europa seit 1989/91. Die Ukrainer haben damit eine politische Reife gezeigt, die ihnen kaum jemand zugetraut hätte.

Diese einmalige Tatsache ist zuletzt in Vergessenheit geraten. Stattdessen wird die Übergangsregierung kritisiert, die nach der Intervention Russlands kaum einen Spielraum hat und vor der Wahl eines neuen Präsidenten keine Reformen durchsetzen und keine neue Verfassung erlassen kann. Deshalb waren die gestrigen Wahlen so wichtig.

So liegt der Schlüssel zur Erklärung der Krise nicht in den inneren Problemen der Ukraine, sondern in deren Verhältnis zu Russland. Dazu ist ein Blick auf die Geschichte hilfreich. Die Politik Russlands unter Putin hat in den vergangenen Jahren eine immer stärkere imperiale Ausrichtung erhalten, die an das Zarenreich und die Sowjetunion anknüpft. Ihr Ziel ist es, möglichst viele ehemalige Sowjetrepubliken unter russische Vorherrschaft zu bringen und in einer Eurasischen Union zu vereinen. In diesen Plänen nimmt die Ukraine eine Schlüsselstellung ein.

Unbestreitbare Nähe

Dazu kommt eine zweite Konstante. Die russischen Regierungen und die russische Gesellschaft haben die Existenz eines selbstständigen ukrainischen Staates und einer eigenständigen ukrainischen Nation im Grunde nie akzeptiert. Schon im Zarenreich galten die Ukrainer oder Kleinrussen als Teil einer orthodoxen ostslawischen „all-russischen“ Nation. Ein Abfall der Ukraine würde die Existenz der russischen Nation gefährden.

Diese Auffassung hat Putin übernommen, wenn er (in einer Rede von September 2013) erklärte: „Wir haben gemeinsame Traditionen, eine gemeinsame Mentalität, eine gemeinsame Geschichte und Kultur. [...] Wir sind ein Volk. [...] Die Ukraine ist ein Teil unserer großen russischen, oder (korrigierte er sich) unserer russisch-ukrainischen Welt.“

Russen und Ukrainer stehen sich unbestreitbar nahe. Wie zahlreiche Umfragen bestätigen, gab es auf persönlicher Ebene bisher kaum Antagonismen. In der Ukraine leben acht Millionen ethnische Russen, in Russland drei Millionen ethnische Ukrainer (von letzteren ist kaum je die Rede). Die Ukraine ist ein zweisprachiges Land, und die Behauptung Russlands, seine „Landsleute“ vor einer gewaltsamen Ukrainisierung schützen zu müssen, ist aus der Luft gegriffen.

Aufgerissene Gräben

Ethnische und sprachliche Zugehörigkeit sind nicht gleichzusetzen mit politischer Orientierung. Auf dem Maidan wurde viel Russisch gesprochen. Die Verfassung definiert die Ukrainer nicht als ethnische Nation, sondern als politische Nation von Staatsbürgern, der auch Russen, Krimtataren und andere Minderheiten angehören.

Dieses freundschaftliche Verhältnis wird heute gefährdet, wenn Russland in der Ostukraine einen Bürgerkrieg zu entfesseln droht, wenn die russische Propaganda die ukrainische Regierung und den Euromaidan als „Söldlinge der USA“ und als „Faschisten“ bezeichnet. Damit werden Gräben aufgerissen, die nicht leicht zu überbrücken sein werden – ein Szenario, das fatal an die Konflikte in Post-Jugoslawien erinnert.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

DER AUTOR


Andreas Kappeler
(*1943 in Winterthur) war von 1998 bis 2011 Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Wien. Er ist ein weltweit anerkannter Experte für Nationalitätenfragen in Osteuropa. Am Montagabend spricht er in der Akademie der Wissenschaften in Wien über das russisch-ukrainische Verhältnis. [ C. Fabry]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.05.2014)

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