Nur ein geeintes EU-Parlament kann die Entscheidungspolitik der Staats- und Regierungschefs im stillen Hinterzimmer beenden.
Ist Martin Schulz ein schlechter Verlierer oder ein schlechter Demokrat? Beides, ist man versucht zu sagen: Noch am Wahlabend meldete der Spitzenkandidat der Sozialdemokraten Anspruch auf das Amt des Kommissionspräsidenten an, obwohl seine Fraktion S&D im künftigen EU-Parlament nach Mandaten wieder hinter der Europäischen Volkspartei (EVP) liegt – wenn auch mit deutlich geringerem Abstand. Der Deutsche konterkariert damit jene Grundprämisse, die er selbst während des gesamten Wahlkampfs als den vielleicht wichtigsten Motivationsgrund für diese Europawahl proklamiert hat: Der Wähler soll den EU-Chef indirekt mitbestimmen. Die klare Vereinbarung unter den großen Parteienfamilien, dass der Spitzenkandidat der stärksten Fraktion Kommissionspräsident wird, ist mit der Ankündigung von Schulz nun ad absurdum geführt.
Doch die großkoalitionäre Katerstimmung nach der Wahl ist nur eine logische Folge der völlig unsauberen Regeln im Brüsseler Spiel um die Macht. Daran ändert auch der Vertrag von Lissabon nichts, der dem Rat der Staats- und Regierungschefs bei der Nominierung des Kommissionspräsidenten eine „Berücksichtigung“ des Wahlergebnisses vorschreibt – im Gegenteil, er macht die Sache nur noch komplizierter. Schon in den vergangenen Wochen zeigte sich nämlich überdeutlich, dass die handelnden Akteure sich über die Auslegung dieser Klausel keineswegs einig sind: Da kämpften auf der einen Seite fünf europaweite Spitzenkandidaten in mehreren EU-Mitgliedstaaten, bei zahlreichen Diskussionsrunden und Wahlkampfauftritten um Stimmen und den wichtigsten Job, den die Union zu vergeben hat.
Gleichzeitig sandten die Regierungschefs groteskerweise völlig differente Signale aus. David Cameron äußerte offen seine Abneigung gegenüber den beiden aussichtsreichsten Anwärtern, Schulz und dem siegreichen Christdemokraten Jean-Claude Juncker. Die beiden glühenden EU-Befürworter passen dem britischen Premier nicht ins Konzept: Für ihn wäre es ein Affront, würde einer der Männer im Gerangel um den Topjob obsiegen – so wie es dem Wähler eigentlich versprochen wurde. Doch auch Angela Merkel will sich partout nicht auf einen „Automatismus“ festlegen – und das, obwohl Juncker gewonnen hat. Statt ihm am Wahlabend zu gratulieren und ihre deutliche Unterstützung auszusprechen, sagte Merkel – vorerst nichts.
Die deutsche Kanzlerin lässt sich alle Optionen offen, sie ist bereit zu schachern – auch um ihren Spitzenkandidaten. Merkel weiß: In diesem Jahr sind noch andere wichtige Topjobs zu vergeben, darunter jener des EU-Außenbeauftragten und des Ratspräsidenten. Umso mehr Interessen müssen dabei berücksichtigt werden, denn wie immer in Brüssel gibt es ein Gerangel zwischen links und rechts, kleinen und großen, westlichen und östlichen, nordischen und südlichen Mitgliedstaaten. Kurz: Es gibt – zynisch gesagt – wichtigere Dinge als den Wählerwillen zu beachten.
In diese beiden Parallelwelten zwischen Rat und Parlament mischt sich nun eine dritte Ebene, und sie könnte die entscheidende sein: Es ist der innerparlamentarische Wettlauf um Mehrheiten, den Martin Schulz am Wahlabend eröffnet hat. Macht der Sozialdemokrat das Rennen, so hätten die Staats- und Regierungschefs endlich ein Argument, sich nicht an das Wahlergebnis halten zu müssen – weil ja nicht einmal die Parlamentarier selbst es machen.
Das aber wäre ein fatales Signal an den Bürger. Die einzigartige Neuerung bei diesem Urnengang, mit einer Wählerstimme auch über den Kommissionspräsidenten mitzuentscheiden, würde mit einem Schlag zunichtegemacht. Deshalb muss Schulz als fairer Demokrat besser heute als morgen seine Niederlage eingestehen und auch den Mitgliedern seiner Fraktion die Unterstützung Junckers nahelegen. Weil nur ein geeintes Parlament ausreichend Macht hat, die gelebte Entscheidungspolitik der Staats- und Regierungschefs im stillen Hinterzimmer zu beenden und der Demokratie den Vorrang zu geben.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.05.2014)