Nach der Wahl: Leben mit erstarkten Randparteien

Pressestimmen.Die lässige Langeweile, die man bisher mit dem Europäischen Parlament verbunden hat, ist seit Sonntag vorbei.

The Times: Angst auf dem Kontinent

London. „Die Politiker in Europa sollten verstehen, dass die Angst auf dem Kontinent nicht nur wirtschaftlich ist. Viele Wähler befürchten, dass die Einwanderer sich nicht in die Gesellschaft integrieren; andere sorgen sich, dass christliche Wertvorstellungen von nichtreligiösen liberalen Konzepten verdrängt werden. Gewiss, viele dieser gesellschaftlichen Sorgen mögen unbegründet sein. Die wohlhabende liberale Mehrheit Europas wird jedoch mit den Randparteien leben lernen müssen, sonst werden diese Randparteien weiterwachsen.“

Liberation: Französischer Virus

Paris.„Man hatte ihn erwartet, dennoch bleibt der Wahlsieg von Marine Le Pens Nationaler Front ein Erdbeben, das Frankreich und ganz Europa erschüttern wird. Der Erfolg der Nationalen Front – zusammen mit den guten Ergebnissen anderer europafeindlicher Parteien in Dänemark, Österreich und Großbritannien – bedeutet eine echte Gefahr für die europäische Idee. Dieser Virus, der seit Jahren in Frankreich grassiert, kann andere Länder in der EU anstecken, wo der Zorn gegen die Sparpolitik schwelt, und wo die Angst vor Fremden wächst. Hilfe kann nur von demokratischen Parteien kommen, die gegenüber ihren Bevölkerungen die richtigen Worte finden, um das Übel zu bekämpfen.“

El Mundo: Das richtige Gegenmittel

Madrid. „Obwohl die Zersplitterung der Stimmen der Euroskeptiker diese selbst schwächen wird, dürfen die Europabefürworter den Vormarsch dieser Gegner nicht ignorieren. Denn das wäre unverantwortlich. Sie müssen die Gesellschaft davon überzeugen, dass sie mittels einer wirksamen Sozial- und Wirtschaftspolitik für Europa arbeiten können. Das ist der einzige Weg, um den antieuropäischen Gruppierungen die Tür zuzusperren und einen neuen Alarm zu verhindern.“

Frankfurter Allgemeine: Merkmal der Gegenwart

Frankfurt. „Das Erstarken von Partien an den Rändern wird sich vor allem in den Mitgliedsländern niederschlagen – das Schlagwort ,mehr Europa‘ dürfte fürs Erste ausgedient haben. Im Europaparlament wird es dagegen wie bisher eine informelle Koalition geben, die Mehrheiten organisiert und den europäischen „Mainstream“ vertritt – zum Verdruss der Populisten. Vielleicht ist das ein allgemeines Merkmal der Gegenwart: eine großkoalitionäre Politik auf der einen Seite, die auf der anderen herausgefordert wird von rechts- und linkspopulistischen (und radikalen) Kräften, die gegen den alten europapolitischen Konsens agitieren und vom Unmut vieler Wähler profitieren. Alles in allem kein einheitliches Bild in Europa.“

La Repubblica: Verwundetes Europa

Rom. „Europa geht verwundet aus den Wahlen hervor. Es wankt nach dem Wahlergebnis aus Frankreich. Es ist, als ob ein beträchtlicher Teil Europas sich selbst verleugnet. Es ist das erste Mal, dass in einem der großen Gründerländer eine europafeindliche Bewegung, die Front National in Frankreich, bei Wahlen im ganzen Land an der Spitze liegt. Es ist eine starke, wenn nicht sogar entscheidende, Absage an die Integration durch ein Viertel der französischen Bürger, die am Sonntag gewählt haben. Die geringe Beteiligung relativiert den Wert des Ergebnisses, aber ändert nichts an seiner Legitimität. Die Europäische Union geht geschwächt aus dieser Prüfung hervor.“

NRC Handelsblatt: Unangenehme Aussichten

Amsterdam. „Die europaskeptischen Parteien werden viel stärker wahrzunehmen sein. Das sind keine angenehmen Aussichten für Regierungen, die bereits mit der Skepsis der Bürger gegenüber EU und Euro zu kämpfen haben. Das, was die EU durch die Krise brachte, der politische Wille nämlich, wird künftig viel schwieriger aufzubringen sein. Wer wagt es künftig noch, Kopf und Kragen zu riskieren für Europa? Die Sicherheitslage um Europa hat sich durch die russische Annexion von ukrainischem Grundgebiet und bereits zuvor durch den Arabischen Frühling dramatisch verändert. Jeder ist sich der Notwendigkeit einer starken europäischen Außenpolitik bewusst. Aber die Konsequenz – mehr Europa – geht so manchem gegen den Strich.“

Právo: EU-Wahl popularisieren

Prag. „Die Europäische Union stützt sich mehr auf exekutive als auf legislative Organe. Auf der einen Seite hat man die EU-Kommission mit den Kommissaren, die keine klassischen Minister mit politischem Mandat sind, und den EU-Rat, in dem die Staats- und Regierungschefs vereint sind. Auf der anderen Seite gibt es das Europaparlament, dessen Bedeutung zwar wächst, allerdings langsam und unzureichend (...) Die Befürworter der EU sollten über eine Vereinfachung der EU-Institutionen nachdenken – von den Vollmachten des Europaparlaments und des EU-Rates bis zum Akzentuieren der europäischen politischen Parteien. (...) Parallel dazu ist es wichtig, die EU-Wahl zu popularisieren und Elemente der direkten Demokratie – Volksabstimmungen – zu entwickeln.“

Tages-Anzeiger: Sieger oder Verlierer?

Zürich. „Der konservative Luxemburger Jean-Claude Juncker und der deutsche Sozialdemokrat Martin Schulz gaben sich am Sonntag beide als Sieger und bekräftigten den Machtanspruch. Der Nebel um die Mehrheitsverhältnisse wird sich erst in den nächsten Tagen und Wochen lichten, wenn klar ist, in welchen Fraktionen im EU-Parlament neue Abgeordnete ihre Heimat finden. Und dann müssen auch die Staats- und Regierungschefs das Volksvotum als zwingende Empfehlung für den Posten in Brüssel akzeptieren. Es ist noch immer möglich, dass die Chefs einen anderen Kandidaten aus dem Hut zaubern. Dann wären nicht nur die beiden Sieger von gestern Verlierer, sondern auch das selbstbewusste Strassburger Parlament und jene unter den EU-Bürgern, die an das Demokratieexperiment geglaubt haben.“

Süddeutsche Zeitung: Mehr Reibung

München. „Zum ersten Mal werden Anti-Europäer, auch ein paar aus Deutschland, in insgesamt beachtlicher Zahl im EU-Parlament sitzen. (...) Die lässige Langeweile, die man mit der Europawahl und dem Europäischen Parlament bisher (zu Unrecht) verbunden hat, ist vorbei. Europa wird sich exakt dort, wo sein demokratisches Zentrum ist, gegen seine Verächter verteidigen müssen. Das wird anstrengend sein, vielleicht aber auch segensreich. (...) Das neue Parlament hat die Chance, es allen Ignoranten (innerhalb und außerhalb) richtig zu zeigen. Es wird mehr Reibung sein im Parlament. Reibung erzeugt Wärme. Wenn es Wärme für Europa ist, wäre das eine List der Geschichte.“

Wiener Zeitung: Armseliger Trost

Wien. „Dass Grüne und Neos – mit deutlich pro-europäischen Ansagen – gemeinsam deutlich stärker zulegen konnten als die FPÖ, ist ein Faktum. Und tröstlich angesichts des Erstarkens des radikal rechten Flügels im Europaparlament. Den Regierungsparteien bleibt der Trost, dass sie die beiden Spitzenplätze halten konnten. Ein armseliger Trost, zugegeben.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.05.2014)

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