Die Angst vor dem starken Mann

Analyse. Der EU-Kommissionspräsident gibt die grobe Fahrtrichtung der Union vor. Deshalb gibt es nationale Widerstände gegen einen allzu selbstbewussten Kandidaten.

Brüssel. Im Volksmund wird die EU-Kommission gemeinhin als Hort seelenloser Erbsenzähler charakterisiert, die das größere europäische Ganze ignorieren. Dass dieses Zerrbild nicht der Wirklichkeit entspricht, beweist das Gerangel um den Posten des Kommissionspräsidenten, das gestern Abend beim Dinner der Staats- und Regierungschefs in Brüssel begonnen hat: Wäre der Chef der Brüsseler Behörde lediglich ein weltfremder Bürokrat, müsste sich niemand vor ihm fürchten. Doch in Wirklichkeit geht in einigen EU-Hauptstädten die Angst vor einem starken Mann an der Kommissionsspitze um.

Der Grund dafür liegt in der Natur der Kommission: Sie darf als einzige EU-Institution Gesetze vorschlagen und im Detail ausformulieren, Europaparlament und Rat stimmen im Normalfall nur über das Grundgerüst ab. Ein Beispiel: Der Beschluss, konventionelle Glühbirnen aus dem Verkehr zu ziehen, basierte auf der 2005 von Rat und Parlament beschlossenen Ökodesign-Richtlinie – doch alle Details über zeitlichen Ablauf, höchstzulässige Leuchtkraft etc. wurden erst später im Rahmen des sogenannten Komitologie-Verfahrens in der Kommission erarbeitet.

Der Präsident der Kommission hat die Aufgabe, seinen Kollegen die grobe Fahrtrichtung vorzugeben, seine Stellvertreter zu ernennen und – im Fall des Falles – Kommissare zu feuern, wie dies etwa 2012 beim maltesischen Gesundheitskommissar John Dalli der Fall war, der über eine dubiose Korruptionsaffäre gestolpert war. Wohin in den nächsten fünf Jahren die europapolitische Reise gehen wird, hängt also zu einem großen Teil von der Person an der Spitze ab.

Ein allzu selbstbewusster Kommissionschef könnte Ansinnen der EU-Mitglieder zurückweisen, so die Sorge im Rat. Amtsinhaber José Manuel Barroso hatte diesbezüglich schon eher ein offenes Ohr, wie die Affäre um das Verbot der Ölkännchen beweist: Um den südeuropäischen Produzenten von Olivenöl unter die Arme zu greifen, lancierte die Kommission im Vorjahr die Idee eines Verbots offener Ölbehälter in Restaurants – mit dem Hintergedanken, dadurch den Ölverbrauch in der EU zu pushen. Nach einem öffentlichen Aufschrei der Entrüstung musste die blamierte Brüsseler Behörde eiligst zurückrudern.

Auch wenn sich das Parlament gestern hinter Wahlsieger Jean-Claude Juncker gestellt hat (siehe unten), ist seine Kür keine ausgemachte Sache: Der Spitzenkandidat der EVP muss nämlich erstens eine Mehrheit im Plenum haben – ob dies der Fall ist, wird sich bis Mitte Juni weisen – und zweitens den Rat überzeugen, der den Nachfolger von José Manuel Barroso nominiert. Im Gremium der Präsidenten und Premiers hat Juncker zwei Feinde: David Cameron und Viktor Orbán.

Keine Querulanten erwünscht

Für Juncker ist der Widerstand in Budapest das geringere Übel, denn Ungarns Premier hat sich mit nationalpatriotischen Ausritten wenig Freunde gemacht – sein Vorwurf, die von Juncker entsandte luxemburgische Justizkommissarin Viviane Reding habe es auf ihn abgesehen, lässt sich mit dem Verweis auf bedenkliche ungarische Gesetze entkräften. Kanzler Werner Faymann fasste die Stimmungslage gut zusammen, als er darauf hinwies, dass „ein Querulant“ nicht stärker sein dürfe als die Mehrheit – der Rat muss diese Entscheidung nicht einstimmig fällen. Von einem Njet Orbáns werden sich die EU-Granden also eher nicht abhalten lassen.

Dasselbe Argument gegen Cameron einzusetzen, dürfte schwerer fallen. Vor allem die deutsche Kanzlerin Angela Merkel will ihrem britischen Kollegen nach dem EU-Wahldesaster die nächste Blamage ersparen – es soll verhindert werden, dass Cameron intern so stark unter Druck gerät, dass er sich dazu gezwungen sieht, die Volksabstimmung über einen Austritt Großbritanniens aus der EU vorzuziehen. Camerons Dilemma: Um für den Verbleib in der Union glaubhaft argumentieren zu können, braucht er einen Erfolg – also eine Stärkung der Nationalstaaten gegenüber Brüssel. Juncker hingegen gilt als Föderalist – damit ist er inkompatibel mit Camerons Vision einer EU der Hauptstädte.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.05.2014)

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