„Slightly out of focus“

Handout photo of U.S. troops wading ashore from a Coast Guard landing craft at Omaha Beach during the Normandy D-Day landings near Vierville sur Mer
Handout photo of U.S. troops wading ashore from a Coast Guard landing craft at Omaha Beach during the Normandy D-Day landings near Vierville sur Mer(c) REUTERS
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6. Juni 1944. D-Day. Truppen der Alliierten landen in der Normandie. Robert Capa ist dabei. Und er ist der einzige Fotograf, der in der ersten Angriffswelle nach vorne stürmt und Bilder mit nach Hause bringt. 70 Jahre danach: Ein Mythos wird besichtigt.

Sechster Juni 1944, ein Dienstag: Morgengrauen an der Küste der Normandie. Amerikanische Soldaten stehen im deutschen Kugelhagel. Links und rechts werden die Anstürmenden niedergemäht. Zerfetzte Körper.Hochspritzende Wasserfontänen. Und mitten im Geschehen stürmen wir, die Zuschauer, mit, taumeln dem Feind entgegen. Die Kamera, die immer wieder eintaucht ins kalte Wasser des Atlantik, erspart uns nichts. Die erste halbe Stunde des Films „Saving Private Ryan“ (1998) von Steven Spielberg ist schwer zu ertragen. Dann kommt die Wende, am Ende wird das Gute über das Böse siegen. Was nach diesem einen Tag folgt, wissen wir aus den Geschichtsbüchern: Die Alliierten werden Hitlers Armeen niederringen. Während vom Osten her die Sowjets vordringen, nehmen im Westen Amerikaner, Kanadier und Briten die deutschen Truppen in die Zange. Der D-Day, so wird der 6. Juni 1944 oft genannt, ist ein mythisches Datum, vielleicht ein symbolischer Gegenpart zu Stalingrad. Der Anfang vom Ende des Nationalsozialismus.

6. Juni 2014 – 70 Jahre danach. Im kleinen französischen Ort Ouistreham wird an diesem Tag gefeiert. Alles, was auf deminternationalen Ost-West-Parkett Rang und Namen hat, wird an der Atlantikküste erwartet: der französische Präsident Hollande als Gastgeber, Obama, Merkel, Königin Elizabeth II. Angekündigt hat sich auch der russische Präsident Putin. Wird er, nach den jüngsten Ereignissen in der Ukraine, auch wirklich anreisen? Das ursprüngliche Drehbuch, entworfen noch vor der Ukraine-Krise, sah herzliche Händedrucke der damaligen Sieger vor. Auch die Deutschen sind mittlerweile in den Kreis des Gedenkens aufgenommen worden. Beschworen wird eine Anti-Hitler-Allianz, die 1944 noch halbwegs intakt war, bald darauf aber im Kalten Krieg zerbrach.

Einer der alliierten Soldaten, die am 6.Juni 1944 durch den Kugelhagel gingen, war der Kriegsfotograf Robert Capa. Er war 1933 vor den Nazis aus Berlin, wo er damals lebte, geflohen. In Paris wurde er zum Fotografen, im Spanischen Bürgerkrieg zum Star. 1936 fotografierte er den „fallenden Soldaten“, heute ist das Foto eine Ikone der Kriegsfotografie. 1939 zog er in die USA und fotografierte für amerikanische Medien den Vormarsch amerikanischer Truppen: zuerst in Nordafrika, dann in Sizilien und zuletzt in der Normandie. Im Frühjahr 1944 hielt er sich in London auf – und genoss das Leben. Er trieb sich in Nachtklubs herum und spielte mit seinen Freunden nächtelang Poker. Capa, so meinte der Schriftsteller William Saroyan, ein Freund des Fotografen, der ihn auf seinen Zechtouren oft begleitete, war „einPokerspieler mit der Nebenbeschäftigung Fotograf“.

Im Mai 1944 aber wurde es ernst für Capa. Er hörte von den Vorbereitungen zu einer größeren militärischen Aktion – die genauen Pläne blieben bis zum Schluss geheim – auf dem Festland. Und er wollte dabei sein, wie viele andere Journalisten auch. 18 Fotografen schafften es in die amerikanische Vorauswahl. Am Ende erhielten vier von ihnen den Zuschlag: Capa war unter ihnen. Er arbeitete für das Magazin „Life“, ebenso wie Bob Landry. Bert Brandt berichtete für dieFotoagentur Acme und Peter J. Carroll für Associated Press. Am 29. Mai wurden die vier den amerikanischen Truppen zugeteilt,es folgten erste Briefings,aber ohne Details, wann und wo es losgehen sollte. Das schlechte Wetter verzögerte den Einsatz. Dann, am 4. Juni, erreichten die Verbände unter strengster Geheimhaltung die südenglische Küste.

5. Juni 1944, nachts: Capa geht an Bord des amerikanischen Schiffes USS Samuel Chase. Er trägt einen Ledermantel und hat drei Kameras umgehängt: eine mittelformatige Rolleiflex (für die Aufnahmen an Bord) und zwei kleinformatige, handliche Contax-Apparate (für die Landung), alle sorgsam mit wasserdichten Überzügen verpackt, dazu einige Rollen Negative. Um halb vier Uhr am Morgen geht die Samuel Chase – und mir ihr eine Armada von anderen Transportschiffen –vor der französischen Küste vor Anker. 4.15 Uhr: Die ersten Landungsboote werden ins Wasser gehievt. Es geht los. Capa ist bei der ersten Angriffswelle dabei. Kaum sind die Angreifer in Küstennähe, geraten sie in heftigstes deutsches Abwehrfeuer. Die Männer kauern so lange wie möglich in ihren Booten, um Schutz vor dem höllischen Geschosshagel zu finden. Viele Landefahrzeuge werden getroffen und sinken. Andere verfangen sich in den stählernen Sperrvorrichtungen, geraten in Minengürtel, brennen aus. Die Verluste sind groß.

Etwa zehn Kilometer lang war die Landungszone in der Normandie. Die Invasion, die unter dem Namen „Operation Overlord“ lief, war eine gewaltige Personal- und Materialschlacht. 160.000 Soldaten setzten zum Sturm auf das Festland an. Im Einsatz waren mehr als 5000 Schiffe, davon mehrere Tausend Landungsboote. Unterstützt wurde der Angriff durch massive Luftangriffe. 13.000 Flugzeuge, vor allem B-17- und B-24-Bomber, waren pausenlos in der Luft, um die deutsche Abwehr zu schwächen. Zugleich setzten sich Fallschirmeinheiten und Luftlandetruppen in Gleitflugzeugen in Küstennähe ab, um so rasch wie möglich Brückenköpfe aufzubauen. Nach zwölf Stunden blutiger Kämpfe hatten sich die Landungstruppen auf französischem Boden festgesetzt. Die deutsche Verteidigung war überrannt und zurückgedrängt worden.

Tage später, am 11. Juni 1944, schrieb der deutsche Major Volkhard Eitner, der ein Regiment im Landungsgebiet kommandiert hatte, an seine Frau: „Die Division steht in schwerstem Kampf. In der Luft gibt es mehr amerikanische Jagdflugzeuge und Bomber als Vögel. Wir hoffen aber doch noch auf ein Wunder.“ Das Wunder kam nicht. Am 12.Juni war der alliierte Brückenkopf bereits 100 Kilometer lang und 30 Kilometer tief. Die deutschenEinheiten wichen zurück. Am 16. Juni wandte sich Eitner neuerlich an seine Frau: „Hier ist es gerade nicht sehr schön, denn die feindliche Überlegenheit ist sehr groß, besonders in der Luft.“ Und er ergänzte: „Die Amerikaner stürzen sich auf alles, was sich unten bewegt, auf jedes Auto, jeden Radfahrer.“

„Die Geschosse peitschten das Wasser um mich herum auf, und ich erreichte denSchutz der ersten Stahlbarriere“: So erinnerte sich Capa in seinem autobiografischen Bericht „Slightly out of focus“ (1947) an die ersten Augenblicke der Landung. Im seichten Gewässer angekommen, waren die Männer ins Wasser geglitten und hatten sich Schritt für Schritt zur Küste vorgekämpft. Capa hatte keine Waffe dabei, nur seine beiden Contax-Kameras, die Rolleiflex hatte er im Transportschiff zurückgelassen. Er begann sogleich zu fotografieren. „Sehr grau“ sei es gewesen, kein ideales Licht für gute Fotos. Er schoss ein Bild nach dem anderen. Dramatische Szenen: Soldaten, die sich im Getümmel durchs Wasser kämpfen, zwischen ihnen ragen die metallenen Kreuze der im Meer versenkten Befestigungsanlagen hervor. Allmählich näherte er sich dem Festland. Hinter zwei Soldaten herlaufend, erreichte er das Ufer. Auf einer Aufnahme sind die Hügel im Hintergrund zu sehen, in denen sich die deutschen Truppen verschanzt hatten. Aus den Befestigungsanlagen wurde pausenlos gefeuert. Aber von all dem ist auf dem Foto nichts zu erkennen. Der Hintergrund ist verschwommen. Er habe, so Capa später, in den eineinhalb Stunden, die er im Wasser war, insgesamt 106 Bilder verschossen. Mehrmals musste er den Film wechseln. Eine Filmrolle wurde dabei von der Nässe ruiniert.

Capa blieb nicht lange auf französischem Boden. Er wollte die Bilder so schnell wie möglich zurück nach England bringen. Die Medien warteten auf die ersten Bildberichte. Zurück an der englischen Küste, übergab Capa die Bilder einem Kurier, der sie nach London brachte. Im „Life“-Fotolabor wurden die Filme sogleich entwickelt. Die Zeit drängte, denn sie mussten rasch nach New York geflogen werden. Die Redaktionhatte eine Bildstrecke freigehalten. Plötzlich passierte das folgenreiche Missgeschick. Der Laborassistent Dennis Banks wollte das Trocknen der entwickelten Filme beschleunigen undschaltete im geschlossenen Raum die Heizung an. Die Temperatur stieg schnellan, in der Hitze begann die Filmemulsion zu schmelzen. Die Bilder waren zerstört. Nur elf der 106 Aufnahmen konnten gerettet werden. Sie befanden sich auf der vierten Filmrolle, der die Hitze weniger zugesetzt hatte.

Am 19. Juni 1944 brachte „Life“ Capas Bilder in einer großen Reportage. Im Eröffnungsbild sind Soldaten zu sehen, die in hüfthohem Wasser der Küste entgegenstürmen. Dahinter prangt im grauen Himmel der Schriftzug „Life“. Die Reportage berichtet, derart inszeniert, nicht nur von einem isolierten militärischen Ereignis, sondern vom Kampf zwischen Leben und Tod, zwischen dem Guten, das siegen wird, und dem Bösen, den Nationalsozialisten, die besiegt werden.

Die Operation am 6. Juni 1944 gab dem Krieg gegen Hitler eine entscheidende Wendung. Am 30. Juni überquerten die alliierten Truppen die Seine. Am 25. August war Paris in alliierter Hand. Die Niederlage der deutschen Wehrmacht war nur mehr eine Frage der Zeit.

Capas Fotos vom 6. Juni 1944 wurden berühmt. Nicht zuletzt wegen ihrer Dramatik und weil es keine anderen Bilder gab. Auf den Schiffen wurde viel fotografiert. Kaum aber waren die Soldaten im Wasser, gab es Wichtigeres zu tun, als auf den Auslöser zu drücken. Capa war der einzige Fotograf, der in der ersten Angriffswelle nach vorne stürmte und Bilder mit nach Hause brachte. Capas Kollege Bob Landry, der ebenfalls mit den Soldaten ins Wasser gegangen war, hatte in der Hektik der Kämpfe alle belichteten Filmrollen verloren. Bert Brandt und Peter Carroll kamen zwar als erste mit Bildern zurück nach England, aber beide hatten ihre Fotos vom Boot aus aufgenommen. Sie zeigen die Kämpfe aus großer Entfernung. Als die ersten Soldaten festen Boden unter den Füßen hatten, entstanden weitere Bilder. Etwa jene eindrucksvolle Szene, die der junge Amerikaner Walter Rosenblum aufnahm: Ein Soldat kniet erschöpft im Kies am Strand. Die Schwimmweste hat er noch um den Bauch gebunden. Er blickt zum Himmel. Vor ihm liegt, unter einer Decke, ein getöteter Kamerad.

Die Mythologisierung der Invasion in der Normandie setzte schon früh ein. Kaum war der Krieg zu Ende, erschienen die ersten Bücher zum Thema. Den Auftakt machte ein anspruchsvoll aufgemachter Band, der am 20. September 1945 von der historischen Abteilung des amerikanischen War Department herausgegeben wurde. „Omaha Beachhead (6June–13June)“, so der etwas sperrige Titel, beruhte auf zahlreichen Interviews mit Soldaten und Offizieren, enthielt umfangreiches Bildmaterial und aufwändig gezeichnete Karten vom Kriegsschauplatz. Das Vorwort stammte von George C. Marshall, der während des Krieges Oberbefehlshaber der alliierten Truppen in Nordwesteuropa gewesen war.

15 Jahre später fand das Thema D-Day Eingang ins große Hollywoodkino. „The Longest Day“, hergestellt von Darryl F. Zanuck, war eine Mammutproduktion: Für den Film arbeiteten vier parallel agierende Regisseure, 23.000 Statisten und mehr als 40 Stars, darunter Robert Mitchum, John Wayne, Henry Fonda, Richard Burton, Curd Jürgens, Gert Fröbe. Gedreht wurde an den Originalschauplätzen in der Normandie (wo zuerst die überwucherten Bunker freigelegt werden mussten) und in Korsika. Der Film erzählt den D-Day als großes Heldenepos, als erfolgreichen Kampf des Guten gegen das Böse.

Drei Jahrzehnte später griff Steven Spielberg mit seinem zwei Stunden und 49 Minuten langen Drama abermals den Mythos des D-Day auf. Er verengte allerdings den Blickwinkel und ließ das große historische Panorama im Schicksal des Soldaten John H. Miller (Tom Hanks) aufgehen. Der durchbricht mit einer kleiner Gruppe von Kameraden die deutschen Linien, um den Fallschirmjäger James Ryan zu retten. Die Rettung gelingt, der Befreier Miller aber stirbt am Ende. Der historische Mythos ist auch in diesem Film ungebrochen. Die Figuren aber sind, trotz all ihrer Tatkraft, auch von Zweifeln geplagt.

Und in Deutschland? Lange Zeit wurde der D-Day, der eindeutig den Alliierten gehörte, in der Gedenkkultur der Bonner Republik übergangen. In nationalen rechten Kreisen wurde der Rückzug von der Atlantikküste sogar als Heldendrama gefeiert, etwa in Paul Carells Band „Sie kommen. Der deutsche Bericht über die Invasion und die 80-tägige Schlacht um Frankreich“, der 1960 erschien. Das offizielle Deutschland wusste mit dem 6. Juni 1944 lange wenig anzufangen. Noch 1994, zum 50-Jahr-Gedenken, reiste der deutsche Kanzler Kohl nicht in die Normandie. Dennoch: Allmählich zeichnete sich ein Umbruchin der deutschen Sicht auf das Ereignis ab. Wenige Tage vor der 50-Jahr-Feier schrieb der renommierte deutsche Publizist Theo Sommer in der Hamburger „Zeit“ über die Bedeutung dieses Tages: „Wir müssen dabei nicht mitfeiern. Aber auch wir Deutschen haben Anlass, des alliierten Landungsunternehmens dankbar zu gedenken.“ 2004 war es dann so weit: Als erster deutscher Kanzler reiste 60 Jahre nach dem D-Day Gerhard Schröder in die Normandie. Die Fotos der deutsch-französischen Umarmung gingen um die Welt.

Spielberg hatte Berge dokumentarischen Materials über den D-Day zur Verfügung. Kaum ein Ereignis des Zweiten Weltkriegs wurde derart genau rekonstruiert wie der 6.Juni 1944. Ganze Regale umfasst die – vor allem englischsprachige – Literatur zum Thema. Der Regisseur hätte die wenigen Fotos Capas nicht wirklich benötigt. Und dennoch nahm er im Film explizit auf den berühmten Kriegsfotografen und dessen Bilder Bezug. Die dokumentarisch anmutende Eröffnungssequenz von „Saving Private Ryan“ zitiert deutlich erkennbar Capas Aufnahmen. Einige seiner Fotos sind verwischt. Für „Life“, das die Bilder Tage nach dem Angriff publiziert hatte, war dieser Effekt die Folge der enormen Anspannung gewesen. Die Aufregung des Fotografen hatte sich, so die Deutung, gewissermaßen in die Bilder eingeschrieben.

Die Wahrheit freilich sah ganz anders aus, die Erklärung für die verwackelten Bilder war banal: Bei der Entwicklung der Negative war die Emulsion verrutscht. Capa, der sich in seinem autobiografischen Bericht viele Freiheiten nahm, griff die „Life“-Geschichte auf, um sie sogleich zum Mythos in eigener Sache zu machen. Er nannte sein Buch aus diesem Grund „Slightly out of focus“. Bis heute ist auf dem Umschlag der amerikanischen Taschenbuchausgabe Capas berühmtestes Foto vom 6. Juni 1944 zu sehen: die verwackelte Szene eines einzelnen Soldaten, der, bis zu den Schultern im Wasser, auf das Ufer zuwatet. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.05.2014)

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