Heute vor... im Juli: Die „Sanduhr des Friedens" läuft ab

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Jetzt kann nur mehr ein Wunder den Frieden retten.

Erste Gefechte um Belgrad

Neue Freie Presse am 31.7.1914

Alles deutet darauf hin, dass eine schwere Nacht bevorsteht. In Semlin (Belgrader Stadtbezirk) sind alle Lichter verlöscht. Belgrad selbst ist ohne die Lichter, die sonst so freundlich herüberleuchten. Die Stadt ist heute in Finsternis getaucht, nur auf dem Kai brennen zwei Reihen Laternen. Längs der Ufer stehen zahlreiche Menschen, die leise flüstern und das Eintreffen der Monitoren (auf Flüssen eingesetzte Kriegsschiffe, sie gaben die ersten Schüsse auf Belgrad ab, Anm.) erwarten, deren Erscheinen das Zeichen zum neuerlichen Beginn des Kampfes geben soll. Kurz vorher tobte noch ein heftiger Kampf. Schon am frühen Nachmittag hatten unsere schweren Batterien ein Artillerieduell mit den serbischen Batterien, die bei Banjica, fünf Kilometer südlich von Belgrad, aufgestellt waren. Zehn Minuten vor 8 Uhr abends begann bei der Brücke über die Save, eben als unsere Vorposten abgelöst wurden, ein heftiger Gewehrkampf. Ein österreichisch-ungarischer Aeroplan überflog die serbischen Stellungen und beleuchtete die feindlichen Positionen. Wie ein leuchtender Riesenvogel zog er hoch über den Feind seine Kreise und gab unseren Geschützen Richtung und Ziel für ihr Feuer. Um diese Zeit griffen unsere Haubitzen ein. Ihr mit bewunderungswürdiger Präzision abgegebenes Feuer brachte die feindliche Artillerie bald zum Schweigen.

Patriotische Gesänge auf der Ringstraße

Neue Freie Presse am 30. Juli 1914

Den ganzen Nachmittag über standen zahlreiche Menschen in den Ringstraßenalleen und in den Anlagen vor dem Gebäude des Kriegsministeriums und beobachteten das lebhafte Getriebe, das Zu- und Abfahren der Automobile, welche Offiziere und Ordonnanzen führten. Wenn in den vorbeikommenden Straßenbahnwagen sich einzelne Soldaten oder Soldatengruppen in Marschadjustierung zeigten, gab es sehr lebhafte Sympathiekundgebungen und Zurufe der Aufmunterung durch das Publikum und die Mannschaften winkten den sie Begrüßenden zu und sangen. Militärisch einhermarschierende Züge junger Männer sangen außer den in den letzten Tagen geradezu programmatisch gewordenen patriotischen Liedern auch Soldatenlieder, wie „Ich hatt' einen Kameraden“ und „Muss i denn, muss i denn zum Städtle hinaus.“ Als ein Zeichen der Stimmung verdient es immerhin erwähnt zu werden, dass man heute von der Volkshymne mehrmals nicht nur die Anfangsstrophe „Gott erhalte!“, sondern auch die den Waffen gewidmete Strophe zu hören bekam, mit dem mächtigen und dröhnend gesungenen Refrain: „Gut und Blut für unsern Kaiser, Gut und Blut fürs Vaterland!“

Die Ausweitung des Krieges ist unwahrscheinlich

Neue Freie Presse am 29. Juli 1914

Der Krieg ist erklärt und das Verhältnis zwischen Österreich-Ungarn und Serbien liegt außerhalb des Bereiches diplomatischer Tätigkeit und dessen Regelung muss jetzt der Armee überlassen werden. Der englische Staatssekretär Sir Edward Grey hat den Wunsch, den europäischen Völkern eine der schwersten Katastrophen zu ersparen, und dieses Ziel kann erreicht werden, wenn es ihm gelänge, die Lokalisierung des Kriegs durchzusetzen. Es gibt kein anderes Mittel, nachdem der Krieg bereits ausgebrochen ist. Russland hat gar keinen zureichenden Grund, in diesem Falle sich vor Serbien hinzustellen und es vor einem Kriege zu schützen, den es doch selbst gewollt und hervorgerufen hat. Die Verantwortung für diesen Krieg und für jeden Blutstropfen, der vergossen wird, fällt auf Serbien. Warum sollte Russland in einem Feldzug seine Armee mit den unerhörten Skandalen, die im Gerichtsverfahren von Sarajevo aufgedeckt wurden, in Verbindung bringen? England hat die stärkste Abneigung, sich in einen Krieg für Serbien hineinziehen zu lassen. Serbien begegnet in England und auch in Frankreich den frostigsten Stimmungen und weitverbreiteter Abneigung. Frankreich hat gar keine Lust zu einem Kriege, der unmöglich volkstümlich sein könnte.

Kann der Krieg lokalisiert werden?

Neue Freie Presse am 28.7.1914

Österreich-Ungarn wünscht die Lokalisierung des Krieges, hat durchaus nicht die Absicht, Europa in den Kampf hineinzuziehen, will aber eine Einmischung in den Streit mit Serbien nicht zulassen und würde voraussichtlich eine Vermittlung, welche den Zweck hätte, die Abänderung der Serbien gestellten Bedingungen durchzusetzen, kaum mit Entgegenkommen behandeln. Die österreichisch-ungarische Monarchie will die Frage mit Serbien ausfechten, nachdem alle anderen Mittel versagt haben, um den Zweideutigkeiten Serbiens und seinem verbrecherischen Treiben Einhalt zu tun. Russland hat einen anderen Standpunkt und möchte durchsetzen, dass die den Serben gestellten Bedingungen geändert werden und dass auf diese Weise der Krieg unterbleibe. Diese Forderung ist jedoch nicht leicht erfüllbar und hier ist der Knoten, den die diplomatischen Verhandlungen bisher nicht aufzulösen vermochten. Sir Edward Grey möchte die Initiative ergreifen, um den europäischen Frieden zu sichern. Er will durch seinen Einfluss Russland zu einer friedlichen Politik bewegen und hofft, dass Deutschland ihn bei der österreichisch-ungarischen Regierung unterstützen werde. Deutschland will aber keinen Druck auf den Bundesgenossen ausüben und kennt den Standpunkt, dass wir unsere Angelegenheiten mit Serbien allein ausfechten wollen.

Serbien begründet die Ablehnung des Ultimatums

Neue Freie Presse am 27.7.1914

Die Antwort, welche die serbische Regierung auf die Note der österreichisch-ungarischen Regierung gegeben hat, wird heute veröffentlicht. Serbien hat insbesondere den fünften Punkt abgelehnt, welcher lautet: „Einzuwilligen, dass in Serbien Organe der k.u.k. Regierung bei der Unterdrückung der gegen die territoriale Integrität der Monarchie gerichteten subversiven Bewegung mitwirken." Serbien hat die Folgen seiner Antwort gekannt, und bezeichnend ist, dass es schon einige Stunden vor der Übergabe der Antwort die Armee mobilisierte und somit den Kriegszustand absichtlich beschleunigte. Nicht minder bemerkenswert ist, dass auch der Punkt der Note abgelehnt wurde, der verlangte, dass die Aufreizung zu Hass und Verachtung gegen die Monarchie in der Presse unterdrückt werde. Das kann Serbien nicht entbehren. Die Urheber des Mordes in Sarajevo sind noch nicht verhaftet worden.

„Der bevorstehende Ausbruch des Krieges gegen Serbien"

Neue Freie Presse am 26.7. 1914

Als heute die Nachricht durch die Stadt flog, dass der Krieg mit Serbien unvermeidlich geworden sei, ging eine merkwürdige Bewegung durch die Menge, die sich in den Straßen angesammelt hatte. Es war keine Spur von Überhebung, nichts von jenem Rausche, der andere Nationen schon häufig dazu verlockt hat, sich mit Lorbeeren zu brüsten, die noch nicht gepflückt sind. Es herrschte das Gefühl, als hätte es sein müssen. Das war aus den Kundgebungen in den Straßen herauszuhören, die, ernst und eindrucksvoll, nichts vom Kriegstaumel hatten, aber den festen Willen zeigten, diese Krise durchzuhalten und Nerven und Muskeln zu spannen und nicht loszulassen, bis das Ziel erreicht ist. ...Dieses Blatt ist, so lange das mit der Würde und dem Wohle der Monarchie verträglich war, für den Frieden eingetreten. Wir dachten, dass ein Reich, das nach Eroberungen nicht strebt, die Möglichkeit haben müsse, in Freundschaft mit allen Völkern zu sein. Aber mit Serbien ist diese Politik nicht mehr durchzuführen.

Die „Sanduhr des Friedens" läuft ab

Neue Freie Presse am 25.7.1914

Diese Zeilen werden in einer Zeit geschrieben, in der von den achtundvierzig Stunden der Frist für die serbische Antwort auf die Note der österreichisch-ungarischen Regierung bereits mehr als dreißig verstrichen sind. Bis zu diesem Augenblicke haben England, Frankreich und Russland durch keinen Schritt und durch keine Bewegung gezeigt, dass sie die Absicht haben, sich in den örtlichen Streit einzumischen. Die Monarchie ist Serbien allein gegenüber, und nirgends war bisher ein Versuch der Einmischung zu merken, und morgen, Samstag, in der sechsten Abendstunde, hat entweder die Diplomatie ihr Werk vollbracht oder nichts mehr zu tun, weil die Worte überdrüssig sind und der Krieg beginnt. Serbien hat zu stark gereizt, zu anmaßend herausgefordert und sich zu gewalttätig an der Monarchie vergangen, als dass nicht der Krieg in den Vordergrund hätte rücken müssen. Jetzt wird die Sanduhr des Friedens bald abgelaufen sein. Wir alle wissen, was bevorsteht, wenn Serbien die Note zurückweisen sollte.

Das Ultimatum an Serbien ist übergeben

Neue Freie Presse am 24.7.1914

Der österreichische-ungarische Gesandte Freiherr v. Giesl hat der serbischen Regierung Donnerstag abends um sechs Uhr eine Note überreicht. Die Antwort muss binnen achtundvierzig Stunden gegeben werden, und die Frist zu einer friedlichen Auseinandersetzung wird am nächsten Samstag um sechs Uhr abends verflossen sein. Binnen achtundvierzig Stunden wird somit die Entscheidung über Krieg und Frieden fallen, und Verschleppungen sind unmöglich geworden, und die Wahl steht nur zwischen der von der Monarchie geforderten Klärung und dem Kampfe. Serbien hat seit der Ermordung des Erzherzogs Franz Ferdinand und seiner Gemahlin nichts getan, um seinen Ruf vor Europa zu retten. Nun wird vor der gesamten zivilisierten Welt die schwerste Anklage erhoben, von der jemals ein Land getroffen wurde. Vier Wochen sind vergangen, und die serbische Regierung hat nicht den Finger gerührt, um die Helfershelfer der Mordbuben zu fassen. Vier Wochen hat Serbien gewartet, bis ihm Schwarz auf Weiß berichtet wird, dass die Meuchelmörder ihren Plan in Belgrad ausheckten und dass sie Verbündete in der Armee und der Beamtenschaft hatten. Serbien hat sich von den Gebräuchen der Zivilisation ausgeschaltet, und die Folge ist die Note mit einer Frist von achtundvierzig Stunden.

Warnung an die Kriegsparteien

Neue Freie Presse am 23.7. 1914

Die englische Zeitung „Times" schreibt: Die Anwesenheit des französischen Präsidenten Poincaré in der russischen Hauptstadt als Gast des Zaren sollte als heilsame Warnung vor den Gefahren des Spieles mit dem Feuer an die Kriegsparteien in allen großen Ländern dienen. Der Besuch kommt zur rechten Zeit. Jetzt, wo Worte der Drohung und Herausforderung über die Donau ausgetauscht werden, ist er eine Erinnerung an alle Mächte, auf welchen Grundlagen der Friede ruht und welche Risiken jede Friedensstörung den Mächten und ihren Untertanen bringen muss. Der Besuch ist eine Antwort auf die Idee, dass die Kontroverse zwischen Österreich-Ungarn und Serbien diese beiden Staaten allein betrifft, und dass ein Streit mit Waffen zwischen beiden leicht lokalisiert werden könnte. Das Gruppensystem der Mächte bewirkt, dass kein Mitglied einer Gruppe eine Aktion ergreifen kann, die seine Partner in Verwicklung bringen könnte, und noch weniger eine Aktion, die den Casus foederis herbeiführen könnte, ohne zuerst die Partner zu überzeugen, dass die Aktion vernünftig, gerecht und notwendig ist.

Ultimatum an Serbien wird angekündigt

Neue Freie Presse am 22.7.1914

Binnen weniger Tage dürfte, wie uns aus Ischl gemeldet wurde, der österreichisch-ungarische Gesandte Freiherr von Giesl die Forderungen der Monarchie in Belgrad überreichen. Die Situation wird heute ernst beurteilt, und es verlautet, dass die Note, in welcher die Monarchie Serbien auffordern wird, jene Maßregeln zu ergreifen, die infolge des Sarajevoer Attentats zum Schutze der Interessen der Monarchie unerlässlich notwendig sind, in Belgrad überreicht werden wird. Auf jeden Fall will man eine Verschleppung der Angelegenheit verhindern. Dass eine solche Verschleppung in den Absichten Serbiens liegt, folgert man auch daraus, dass der serbische Ministerpräsident Pasic sich gerade jetzt für mehrere Tage von Belgrad entfernt hat, obgleich er Kenntnis davon haben musste, dass der Schritt der Monarchie bevorstehe. Die Regierung, so der ungarische Ministerpräsident Graf Tisza, sei sich der wichtigen Interessen bewusst, welche an die Erhaltung des Friedens geknüpft sind. Der Krieg sei eine traurige ultima ratio, zu der man so lange nicht greifen solle, als nicht jede Möglichkeit des Friedens erschöpft sei.

Fahrradkonstrukteur Johann Puch gestorben

Neue Freie Presse am 21.7.1914

Als der Automobilfabrikant Johann Puch, der gestern in geschäftlichen Angelegenheiten in Agram weilte, abends mit einigen Freunden im Hotel Royal beim Nachtessen saß, sank er plötzlich vom Stuhl. Die herbeigerufenen Ärzte stellten fest, dass er einem Herzschlage erlegen ist. Johann Puch war einer der bekanntesten Fahrrad- und Automobilkonstrukteure Österreichs. Er hatte in der Sportwelt und der Fahrzeugindustrie Österreichs einen bekannten und geachteten Namen. Aus ganz kleinen Anfängen - Puch war ursprünglich Schlosser - hat er sich zu einem großen Fabrikanten und Konstrukteur emporgeschwungen. Als die Blütezeit des Fahrradsports begann, gründete Puch in Graz die „Styria"-Fahrradwerke, deren Erzeugnisse bald eine sehr geschätzte Marke wurden. Vor einem Dezennium nahm die Fabrik auch die Erzeugung von Motorrädern auf, denen zwei Jahre später die Automobile folgten. Vor ungefähr zwei Jahren wurde Puch durch ein schweres Herzleiden gezwungen, sich von der Leitung der Grazer Fabrik zurückzuziehen. Er widmete sich nun ausschließlich als Rennstallbesitzer dem Trabersport.

Österreich hat in krisenhafter Zeit kein Parlament

Neue Freie Presse am 20.7.1914

Der ungarische Ministerpräsident Graf Stefan Tisza war gestern in Wien. Da der österreichische Ministerpräsident es über sich bringt, sogar in dieser Krise, in der jeden Augenblick über Gut und Blut des Volkes verfügt werden kann, die parlamentarischen Vertreter des Reiches fernzuhalten und der Monarchie diese wirksamste moralische Stütze im Kampfe gegen den äußeren Feind zu nehmen; da eine Regierung, die keine Mehrheit im Abgeordnetenhaus und gar keinen Zusammenhang mit der Öffentlichkeit hat und somit von unten her ohne jedes Kraftelement ist, in einem der schwierigsten Abschnitte der österreichischen Geschichte sich herausnehmen will, allein zu handeln und den Reichsrat gegen Recht und Gesetz, gegen die Vernunft und das Gefühl selbst jetzt nicht einzuberufen, so haben wir nur die Möglichkeit, aus dem Munde des ungarischen Ministerpräsidenten amtliche Mitteilungen über den Stand der Krise zu bekommen.

Man muss jetzt auch mit einem Krieg rechnen

Neue Freie Presse am 19.7.1914

Von den jetzt lebenden Österreichern haben nur wenige einen Krieg gesehen. Denn nahezu fünfzig Jahre des Friedens haben die Erinnerungen an die großen Kämpfe früherer Zeiten im Volke fast ausgelöscht. Nun ist der Ausgang der Krise nicht mit voller Sicherheit bestimmbar, und jeder von uns kann sein Urteil nur auf Wahrscheinlichkeiten stützen. Russland und Frankreich werden aus Liebe zum Großserbentum der Monarchie nicht entgegentreten, wenn sie verlangt, dass die Umtriebe in den Grenzländern aufhören, die Mitschuldigen der Mörder gestraft werden und die feindselige, gegen unseren Besitzstand gerichtete Politik nicht fortgesetzt werde. Ein Weltkrieg ohne zureichende Gründe wäre eine Todsünde und kann von den Wahrscheinlichkeiten ausgeschieden werden. Die Ordnung des Verhältnisses zu Serbien dürfte von Europa als das behandelt werden, was sie ist, eine örtliche Streitigkeit, eine polizeiliche Vorkehrung zum Schutze des Völkerrechts und ohne jeden Zusammenhang mit den allgemeinen Machtfragen.

Serbische Regierungszeitung unterstellt Österreich-Ungarn Imperialismus

Neue Freie Presse am 18.7.1914

Heute wird von serbischer Seite zu der Frage der großserbischen Propaganda in offiziöser Weise Stellung genommen: „Wenn jemand berechtigt ist, sich über die imperialistische und irredentistische Propaganda zu beklagen, so sind sicherlich wir es eher, als die Herren in Wien und Budapest. Wir verteidigen das unsere und erheben nur Anspruch auf das, was uns gehört. Wir sorgen dafür, unser Volk zu erhalten, zu entwickeln und dem Fortschritte entgegenzuführen. In Wien und Budapest träumt man imperialistische Pläne, erhebt künstlichen Widerspruch gegen Serbien und verlangt das Fremde. In Bosnien und Herzegowina blüht nach dreißigjähriger österreichischer Verwaltung der Feudalismus und ein sehr hässlicher Klerikalismus. Dort herrscht die Methode, dass der zivilisierte, ökonomisch stärkste Teil des Volkes zurückgedrängt und auf einen niederen Rang gestellt wird.

Staatsempfang in St. Petersburg für den französischen Präsidenten

Neue Freie Presse am 17.7.1914

Der Präsident der französischen Republik wird am Montag in Peterhof eintreffen. Die Begegnung mit dem Zaren wird in dem berühmten Lustschlosse stattfinden, und beim Festmahle zu Ehren des Gastes sollen Trinksprüche gehalten werden. Nirgends werden die Berichte über die Beratungen zwischen den Staatsmännern gieriger erwartet werden als in Belgrad. Denn seit der Thronbesteigung des Königs Peter werden die Grundlinien der auswärtigen Politik von Serbien in der Kanzlei an der Sängerbrücke zu Petersburg vorgezeichnet. Serbien hat seinen Nachen an das russische Schiff gehängt und wird im Kielwasser fortgeschleppt. Russland und Frankreich werden jedoch schwerlich Luft haben, wegen des Großserbentums das gewaltige Ereignis des Weltkriegs heraufzubeschwören und Deutschland und Italien in Mitleidenschaft zu ziehen.

Ungarns Ministerpräsident Tisza will den Krieg vermeiden

Neue Freie Presse am 16.7. 1914

Die Rede des Grafen Tisza hält beide Möglichkeiten offen, sowohl die Möglichkeit der friedlichen Beilegung der schwebenden Fragen, als auch die Möglichkeit, dass die Monarchie zur Wahrung ihrer Lebensinteressen und ihres Prestiges über die gewöhnlichen diplomatischen Mittel hinauszugehen genötigt wäre. Der Gesamteindruck, den die Rede von Tisza machte, war heute noch mehr als zuletzt der, dass die Regierungen Österreichs und Ungarns vor wichtigen Entscheidungen stehen. Über die Natur dieser Entscheidungen hat jedoch Graf Tisza auch heute nichts Näheres mitgeteilt. Er erklärte, dass der Krieg eine sehr traurige ultima ratio sei, zu welcher man nicht greifen darf, so lange sich nicht alle anderen Lösungen als unmöglich erwiesen haben, zu welcher aber jeder Staat und jede Nation, sofern sie Staat und Nation bleiben wollen, auch fähig sein müssen.

Niemand wird für Serbien in den Krieg ziehen

Neue Freie Presse am 15.7.1914

Die mächtigsten Völker der Erde, England, Frankreich und Russland und neben ihnen auch die Staaten des Dreibundes, sind so tief in der Arbeit für die Besserung von Übelständen in der inneren Politik versunken und so stark mit den Gärungen der heutigen Gesellschaft und mit den Folgen der Massenbewegungen beschäftigt, dass nur unmittelbare Notwendigkeiten, die keine andere Wahl lassen, sie zum Kriege drängen würden. Der Mann, der in Zeiten einer sämtliche Schichten durchdringenden Erregung aus seiner Schreibstube heraus den Befehl zum Entflammen des Weltbrands geben würde, um dem Großserbentum zu helfen, ist nicht zu sehen. Der Fürstenmord hat Serbien vereinsamt. Das Schweigen in den sechzehn Tagen nach dem Fürstenmorde von Sarajevo, die Gehässigkeit, die auch bei diesem Anlasse gegen die Monarchie aufschäumte, haben bewirkt, dass nach dem Abschlusse der Untersuchungen ein Schritt zur Klärung der ungewöhnlichen Beziehungen unternommen werden dürfte.

Der russische „Wunderpriester" Rasputin

Neue Freie Presse am 14.7. 1914

Auf den russischen Wunderpriester ist ein Attentat verübt worden. In seinem Heimatort in Sibirien wurde Rasputin von einer unbekannten Frau überfallen, die ihn durch einen Dolchstich in den Unterleib so schwer verwundete, dass er den Verletzungen erlag. (Anm: Falschmeldung, er hat schwerverletzt überlebt). Ihre Tat begründete die Frau damit, dass Rasputin ein falscher Prophet und Verführer der Menschen sei. Mit der Persönlichkeit Rasputins haben sich Politiker und Publizisten in Russland vielfach beschäftigt. Er begann plötzlich vor mehreren Jahren eine Rolle in der hohen russischen Gesellschaft und selbst am Zarenhofe zu spielen, die ihn zu einem der einflussreichsten Männer in Russland machte. Nicht bloß auf die russische Hocharistokratie, sondern auch auf die Mitglieder der Zarenfamilie, ja sogar auf den Zaren selbst übte er großen Einfluss aus. In den liberalen Blättern Russlands wurden über das Vorleben Rasputins merkwürdige Dinge enthüllt, aber diese Enthüllungen haben nicht vermocht, seine Reputation als Wunderpriester und Berater des Zaren zu erschüttern.

Panik unter Österreichern in Serbien

Neue Freie Presse am 13.7.1914

Gestern abend brach in der Belgrader österreichisch-ungarischen Kolonie eine förmliche Panik aus. Es verbreitete sich das Gerücht, dass die Serben wegen der Angriffe gegen die serbische Bevölkerung in Bosnien und insbesondere in Sarajevo an den hier lebenden Österreichern und Ungarn Vergeltung üben wollen, und es wurde mit einer gewissen Bestimmtheit behauptet, dass für die Nacht ein allgemeiner Angriff beabsichtigt sei. Die, welche keine Zeit zur Flucht hatten, eilten auf die österreichisch-ungarische Gesandtschaft und das Konsulat, wo sie natürlich mit der größten Bereitwilligkeit aufgenommen wurden. Der serbische Ministerpräsident Pasic nahm die Mitteilung des Gesandten zur Kenntnis und versprach, alle erforderlichen Sicherheitsmaßnahmen zu treffen. Die Nacht verlief indes vollkommen ruhig. In den Regierungskreisen wird erklärt, dass die Besorgnis der österreichisch-ungarischen Kolonie vollkommen grundlos sei.

Wie steht es mit der politischen Reife von Thronfolger Karl?

Neue Freie Presse am 12.7.1914

In Kürze wird mit der politischen Ausbildung des Thronfolgers Erzherzog Karl Franz Josef begonnen werden. Der Kaiser hat anlässlich der Neuregelung der Verhältnisse, die infolge des Ablebens des Erzherzogs Franz Ferdinand notwendig geworden ist, dem Wunsche Ausdruck gegeben, dass der neue Thronfolger alsbald mit den Regierungsgeschäften vertraut gemacht und insbesonders in die einzelnen Zweige der politischen Verwaltung gründlich eingeführt werde. Zwei hohe Beamte werden die Mission erhalten, als Lehrer des Erzherzogs zu fungieren und ihn theoretisch und praktisch in allen Zweigen der Staatsverwaltung auszubilden. Es heißt, der Kaiser habe verfügt, dass die Einführung des Thronfolgers spätestens bis zum Ende dieses Jahres beendet sein soll.

Tod des russischen Botschafters in Belgrad

Neue Freie Presse am 11.7.1914

Seit 1909 war Hartwig Gesandter am Hofe von Belgrad. Nach der Annexionskrise ergab sich für ihn naturgemäß durch die Stimmung in Serbien ein fruchtbares Feld für die Tätigkeit, und manchmal steigerte sich dieser Eindruck bis zu dem Zweifel, ob wirklich von den Staatsmännern in Belgrad die Politik geführt werde oder ob sie nicht vielmehr von dem Willen Herrn von Hartwigs abhänge. Serbien hat durch ihn nur Schaden gehabt, weil es immer wieder zu Feindschaften gegen die Monarchie aufgepeitscht wurde, ohne dass es schließlich imstande war, den entschlossenen Willen der Monarchie zu erschüttern. Sein Tod wird sicher den Panslawisten und all denen sehr schmerzlich sein, die eine Verschärfung des Verhältnisses zwischen Wien und Belgrad und zwischen Wien und Petersburg anstreben. Der Name des Herrn v. Hartwig weckt für Österreich-Ungarn sehr traurige Erinnerungen, und wenn er genannt wird, fangen manche alte Narben an zu brennen und erneuert sich der Gedanke an die Zeiten großer Gefahr für den Frieden.

Österreich braucht im Ernstfall Verbündete

Neue Freie Presse am 10.7.1914

Was die Haltung unserer Verbündeten betrifft, so erscheint diese durch die Lage der Dinge klar vorgezeichnet. In Berlin steht man auf dem Standpunkt, dass man die österreichisch-ungarische Regierung in dieser Frage, welche Wendung sie auch nehmen möge, voll und ganz zu unterstützen habe. Es sei die Sache, der österreichisch-ungarischen Regierung, zu entscheiden, welches ihre Interessen sind und wie diese am besten geschützt werden, jedoch gilt auch heute für die deutsche Regierung der Grundsatz, den der deutsche Reichskanzler in den Zeiten der letzten Krise wiederholt in seinen Reden im deutschen Reichstage zum Ausdruck gebracht hat: Österreich-Ungarn kann jederzeit auf die volle und tatkräftigste Unterstützung seitens Deutschlands rechnen. Auch Italien stellt sich ganz auf den Boden seines Bündnisses mit der Monarchie. Es wird nicht zögern, seinen Bundespflichten nachzukommen.

Wie bringt man die Serben unter Kontrolle?

Neue Freie Presse am 9.7.1914

Die bloß juristische Behandlung des Großserbentums ist nach der schauerlichen Katastrophe von Sarajevo kein genügendes Mittel, um endlich die Ruhe unserer Grenzen zu verbürgen, die von außen her geschürte Aufregung der Grenzländer zu verhüten und die Gefahren der fortgesetzten Gehässigkeiten zu beseitigen. Russland und Frankreich würden sicher nicht mit der Geduld, die Österreich-Ungarn bisher gezeigt hat, zugeben, dass an ihren Grenzen sich Organisationen bilden, die ganz offen den Abfall eines Teiles der russischen oder des französischen Besitzstandes vorbereiten. Es gibt wohl keinen russischen und keinen französischen Völkerrechtslehrer, der das nicht als Friedensbruch ansehen und dem bedrohten Staate nicht das Recht zusprechen würde, sich zunächst durch diplomatische Schritte die notwendige Ruhe zu verschaffen. Russland und Frankreich werden zugeben, dass die strafrechtlichen und völkerrechtlichen Folgen des Attentats nicht voneinander getrennt werden können und dass wir nichts verlangen, was nicht ohnehin unter zivilisatorischen Nationen selbstverständlich wäre.

Die Entscheidung fällt in Bad Ischl

Neue Freie Presse am 8.7. 1914

Der Minister des Äußern, Graf Berchtold, reist heute nach Ischl. Der Kaiser hat gestern Schönbrunn verlassen, und bereits nach zwei Tagen zeigt sich die Notwendigkeit, dass der Minister des Äußeren einen mündlichen Vortrag erstatte. Der Minister wird die gestern gefassten Beschlüsse des Ministerrates dem Kaiser unterbreiten. Jetzt stehen die wichtigen Beschlüsse in Erwägung, wie sich die Monarchie gegenüber der vom Großserbentum ausgehenden Strömungen und Feindseligkeiten verhalten solle. Die Frage ist, ob das Ziel einer friedlichen Nachbarschaft mit dem Großserbentum nach so viel nutzlosen Versuchen überhaupt erreichbar sei. Die Überzeugung von der Notwendigkeit, das Großserbentum einzudämmen und die von ihm ausgehende Zersetzung zu verhüten, ist ins allgemeine Bewusstsein gedrungen.

Russische Anarchisten Vorbild für radikale Serben

Neue Freie Presse am 7.7.1914

Der Mord an Erzherzog Franz Ferdinand ist doch nur die genaue Kopie der in Russland begangenen und versuchten Zarenmorde. Wer den Bericht über den gewaltsamen Tod des Zaren Alexander II. durchliest, wird manche Ähnlichkeiten finden, namentlich in dem verruchten Plan, die Bombenwerfer auf der Straße zu verteilen, sodass nach dem Versagen einer Bombe die anderen Bomben als Reserven dienen und ein Entrinnen kaum möglich ist. Das Großserbentum, wohl zu unterscheiden von dem ruhigen und sachlichen Serbentum, mit dem wir leicht in Frieden leben könnten, bedroht Europa, ist eine Gefahr für alle Herrscher, weil aus seiner Leidenschaftlichkeit und tollen Rücksichtslosigkeit, die sich nach dem Morde erst recht gezeigt haben, die Keime entspringen, welche Menschen mit verbrecherischen Anlagen zum Fürstenmorde verleiten. Der Sumpf muss ausgetrocknet werden.

Serbiens Haltung ist unverständlich

Neue Freie Presse am 6.7.1914

Belgrad ist eine der attentatsreichsten Städte von Europa. Fürstenmorde und Komplotte gegen Fürsten sind dort häufig vorgekommen. Daraus müsste gefolgert werden, dass auch Serbien ein dringendes Interesse hätte, die Erforschung der Mitschuldigen zu unterstützen und durch das größte Entgegenkommen zu beweisen, dass trotz aller Gegensätze der Abscheu vor meuchlerischen Verbrechen dort ebenso stark sei wie anderwärts. Aber es zeigt sich keine Regung der Noblesse und nicht einmal der Wille, nach außen hin durch Verständnis für die delikate Lage, in die Serbien versetzt wurde, den Eindruck der Würde zu machen. Wer die Angriffe auf die Monarchie sieht, müsste glauben, dass ein serbischer Prinz von einem österreichischen Mörder und nicht ein österreichischer Prinz von einem serbischen Mörder umgebracht worden sei.

Das Begräbnis Franz Ferdinands: Hochadel nicht eingeladen

Neue Freie Presse am 5.7.1914

Ein Mitglied des Hochadels zu unserer Zeitung: Wir haben durch unser korporatives Erscheinen bei dem Trauerzug gezeigt, dass wir den Schmerz, die Trauer und Ergriffenheit über das furchtbare Geschehnis höher einschätzen, als das unerbittliche Reglement einer Zeit, die nicht die unsrige ist. Die ganze Bevölkerung Österreich-Ungarns hat erwartet, dass das Leichenbegängnis des Erzherzogs Franz Ferdinand und seiner Gemahlin zu einer großen, gewaltigen und imponierenden Trauerkundgebung gestaltet werden würde, deren Erinnerung noch in den nächsten Generationen hinüberreichen sollte. Stattdessen machten sich von allem Anfang an Bedenken bemerkbar und Persönlichkeiten, denen die Form alles und der Inhalt gar nichts gilt, verhinderten die große Pompentfaltung. Es ist ein offenes Geheimnis, dass es Kreise gab, die am liebsten die gemeinsame Bestattung des Thronfolgers und seiner Gemahlin verhindert hätten.

Serbische Zeitungen attackieren die Monarchie

Neue Freie Presse am 4.7.1914

Bestände in Wien nicht dieser Mangel an Einsicht und Klugheit, dann hätte man den Erzherzog Franz Ferdinand nicht am Tage des nationalen Enthusiasmus nach Sarajevo gesendet, um eine brutale Manifestation der Gewalt und Unterwerfung zu feiern. Dieser brutale Akt war eine brutale Herausforderung und musste brutale Gefühle des Widerstandes, des Hasses und der Rache herausfordern. Was nach dem Attentate geschah, darüber kann kein Zweifel herrschen. Die Tatsache, dass es zu einem Vandalismus des Pöbels gegen die Serben kommen konnte, ist genügend für die Diagnose der unheilbaren Krankheit der Monarchie. Niemand kann in Europa eine Politik begreifen, welche als Sühne für ein Ereignis von zwei Minuten eine Anarchie von mehreren Tagen begünstigt, welche für die Tat zweier Menschen einen ganzen fremden Staat verdächtigt und fünf Millionen Staatsbürger außerhalb des Gesetzes stellt. Mit dem Verstand eines Huhnes kann man begreifen, dass mit so hysterischen Manieren kein Haus, geschweige denn ein Staat von 50 Millionen geleitet werden kann.

Suche nach den Drahtziehern des Attentats

Neue Freie Presse am 3.7.1914

Die öffentliche Meinung in der Monarchie verlangt die Antwort auf die folgenden einfachen Fragen: Wer hat die notwendigen Geldmittel zur Ausführung des Attentates gegeben und wer ist für die Ausstattung der Mörder verantwortlich? Die Antworten auf diese Fragen sind unerlässlich, damit die Monarchie wisse, ob nicht bloß das Strafrecht, sondern auch das Völkerrecht mitzusprechen habe, wenn die Folgerungen aus der Bluttat von Sarajevo zu ziehen sein werden. Wenn darüber volle Klarheit herrschen sollte und sich zeigen würde, dass dieser Mord nicht bloß durch innenpolitische Schlamperei, sondern auch durch den Fortbestand von Schlupfwinkeln, die international unzulässig sind, gefördert wurde, dann würde die Auseinandersetzung sich nicht an die richten, welche schamlos genug sind, den Mördern beifällig zuzuwinken, sondern an weit ernstere Stellen, welche die Pflicht hätten, die gewaltsamen Schürungen des Rassenhasses und der Feindseligkeit gegen die Monarchie zu zügeln.

Franz Ferdinand - ein unerfülltes Leben

Neue Freie Presse am 2.7. 1914

Er war der Außenstehende, der auf seine Bestimmung in der Zukunft hinweisen konnte, aber doch nicht die Gelegenheit hatte, mit eigenen Händen zu schaffen. Er konnte nur wollen und musste bei jedem Befehle gewärtig sein, dass die Berufung auf einen noch Höheren die Entscheidung gegen ihn herbeiführte. Das konnte nicht ohne Reibungen bleiben, und der Widerspruch zwischen seinen ausgeprägten Überzeugungen und den trotz aller Macht häufig unzulänglichen Mitteln, sie durchzusetzen, hat naturgemäß manche Schmerzhaftigkeiten erzeugt, und sein Temperament, das schon in der Jugend leicht aufwallte, verschärft. Er mochte, da er als Zuschauer in der Hofloge saß, die Schwierigkeiten auf der Bühne unterschätzt haben; aber dieser Irrtum darf nicht dazu verleiten, seine Neigungen und Abneigungen aus flüchtiger Laune zu erklären.

"Hauptsache, dass das gelungen ist"

Neue Freie Presse am 1.7. 1914

Die beiden Attentäter sitzen in Zellen, in denen sie durch einen kleinen Ausschnitt in der Tür fortwährend aufmerksam beobachtet werden. Cabrilovic zeigt ein phlegmatisches Benehmen. Als man ihn zu einem Geständnis bewegen wollte, sagte er: „Gott sei Dank, dass es gelungen ist. Wenigstens komme ich nicht umsonst vor Gericht. Die Herzogin bedauere ich, aber ich kann nichts dafür. Die Hauptsache ist, dass das gelungen ist, was wir ausführen wollten." Princip ist schon jetzt gebrochen. Seine Verwundung ist nicht schwer, sodass er in der Zelle auf und abgehen kann. Sein Kopf und sein Gesicht sind allerdings ganz zerschlagen und verbunden. Man kann sein Gesicht kaum sehen. Umso auffallender wirkt sein dunkelbraunes Haar, das bis auf die Schultern herabwallt. Die Hosen der beiden Attentäter sind auch jetzt noch unten mit Spagatschnüren zugebunden. Als man sie fragte, welchen Grund dies habe, antworteten sie, dass sie die Bomben in den Hosen verborgen hatten, und unten mit Spagat zubanden, damit die Bomben nicht herausfielen.

Warnung vor antiserbischer Massenpsychose

Neue Freie Presse am 30.6.1914

Das oberste Staatsinteresse fordert, sich darüber Klarheit zu schaffen, wer die Urheber und die Gönner und die Geldspender innerhalb und außerhalb Bosniens bei diesem Morde waren. Eine Politik des Zornes wird nicht gemacht werden, und die Monarchie darf selbst in der jetzigen Stimmung nicht daran denken, den bohrenden Verdacht, von dem sich die öffentliche Meinung nicht losreißen kann, auf die Millionen des serbischen Volkes zu übertragen, die in Österreich unsere Mitbürger sind und deren Mehrheit in Ungarn und in Bosnien lebt. Diese ruhigen und friedlichen Menschen sollen wegen einiger Schurken nicht gekränkt werden. Aber die Fanatiker, welche Verschwörungen anzetteln und aus Belgrad ihre Bomben beziehen oder eine Gesinnung haben, die zu solchen Verbrechen treibt, müssen gefasst und mit der Wurzel aus der Erde von Bosnien herausgerissen werden. Wen es angeht, der soll es wissen, das Wort Dantes, das auf die Grenzpfähle der Monarchie geschrieben werden sollte, weithin sichtbar: Wehe dem, der sie berührt.

Wie sich die Nachricht in Wien verbreitet

Neue Freie Presse am 29.6.1914

Ein glühend heißer Sommertag. Um die Mittagszeit liegt die ganze Stadt wie im Schlafe; die ganze Innere Stadt ist wie ausgestorben. Es wird zwei Uhr und plötzlich entsteht hie und da vor einem öffentlichen Gebäude, vor den Ministerien, an dieser und jener Straßenecke, eine gewisse Unruhe und Nervosität. Die Telefone in den Cafes werden gestürmt, und langsam entsteht ein dumpfes, furchtbares Gerücht, das niemand glauben will, niemand zu glauben wagt. Schon aber ist an offiziellen Stellen und in den Zeitungsredaktionen die Nachricht von der furchtbaren Tragödie in Sarajewo in knapper Form eingelaufen, und sie sickert weiter. Kurz nach drei Uhr verlassen die ersten Boten mit Extraausgaben der "Neuen Freien Presse" die Fichtegasse, und jetzt braust die Kunde weiter, fliegt von Straße zu Straße, von Bezirk zu Bezirk, hinaus aus Wien nach den nahegelegenen Sommerfrischen und weiter in die Kronländer.

Schreckliche Tragödie für das Kaiserhaus

Neue Freie Presse am 28.6.1914

Eine Nachricht ist heute aus Sarajevo eingetroffen, welche die ganze Monarchie auf das tiefste erschüttern wird. Das Kaiserhaus hat eine schreckliche Tragödie zu verzeichnen. Der Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und seine Gemahlin Frau Herzogin von Hohenberg sind heute in Sarajevo das Opfer eines Attentates geworden.
Wie uns aus Sarajevo gemeldet wird, hat sich das schauerliche Verbrechen in der folgenden Weise zugetragen:

Sarajewo, 28. Juni. Als Se. K. und k. Hoheit der durchlauchtigste Herr Erzherzog Franz Ferdinand mit höchstseiner Gemahlin der Frau Herzogin von Hohenberg sich heute vormittag zum Empfang ins Rathaus begab, wurde gegen das Automobil eine Bombe geschleudert, die Se. K. u. k. Hoheit mit dem Arme zurückstieß.
Die Bombe explodierte, nachdem das erzherzogliche Automobil passiert war. Die in dem nachfolgenden Automobil befindlichen beiden Herren Graf Boos-Waldeck und der Flügeladjutant des Landeschefs Oberstleutnant Morizzi wurden leicht verletzt. Vom Publikum wurden sechs Personen mehr oder minder schwer verletzt.

Der Attentäter ist ein Typograph aus Trebinje namens Cabrinovic. Er wurde sofort festgenommen.
Nach dem festlichen Empfange im Rathause setzte Se. K. u. k. Hoheit der durchlauchtigste Herr Erzherzog mit höchstdessen Gemahlin die Rundfahrt fort.
Ein Gymnasiast der achten Klasse, namens Prinzip aus Grahovo, feuerte aus einer Browningpistole mehrere Schüsse auf das erzherzogliche Automobil ab. Seine k. u. k. Hoheit der durchlauchtigste Herr Erzherzog wurde im Gesicht, Ihre Hoheit die Frau Herzogin von Hohenberg durch einen Schuß in den Unterleib verletzt. Seine k. und k. Hoheit und die Frau Herzogin wurden in den Konak überführt und sind dortselbst den Verletzungen erlegen.
Auch der zweite Attentäter wurde verhaftet.
Die erbitterte Menge hat die beiden Attentäter nahezu gelyncht.

Die erste Nachricht von dem schauerlichen Verbrechen traf einige Minuten nach zwölf in Wien ein.
Der Kaiser wurde von diesem furchtbaren Ereignis sofort verständigt. Das Gerücht von diesem entsetzlichen Ereignis verbreitete sich in der ganzen Stadt und rief große Aufregung hervor.

(Anm.: der 28. Juni 1914 war ein Sonntag, auf der Extra-Ausgabe stand irrtümlich Donnerstag)

Agitation der Tschechen ist unerträglich

Neue Freie Presse am 27.6.1914

In Brünn wird morgen ein nationales Verbrechen stattfinden. Ein Verbrechen ist es, eine Stadt, die trotz der politischen Zwistigkeiten im tiefsten Frieden lebt, in einen Wirbel von gefährlicher Erregung zu stürzen. Ein Verbrechen ist es, die Möglichkeit von Blutvergießen heraufzubeschwören. Vierzig Extrazüge werden die slawischen Turner in die Stadt bringen, die, bisher wenigstens, deutsch geblieben ist; zu Tausenden und Tausenden werden sie mit den dröhnenden Hetzliedern auf den Lippen ihre Wanderung durch die Gassen antreten, wo nationale Abzeichen verkauft werden sollen und wo sicher alle Tschechien in hellem Jubel sie begrüßen. Eine nationale Orgie soll stattfinden, wilder und aufreizender als vielleicht jemals etwas in dieser Art. Ein Faustschlag gegen die Deutschen in Mähren, gegen die Deutschen in Österreich, ein nationales Verbrechen, nichts mehr und nichts weniger, ist das Fest, das morgen in Brünn gefeiert wird.

Sarajewo begrüßt den Thronfolger

Neue Freie Presse am 26.6.1914

Morgen und übermorgen wird Erzherzog Franz Ferdinand den bosnischen Manövern beiwohnen. Für Sonntag ist ein Besuch Sarajewos geplant. Die Blätter begrüßten den Erzherzog und dessen Gemahlin in schwungvollen Artikeln. „Savajevski List", die „Bosnische Post", das „Sarajevoer Tagblatt" und das Organ der serbischen Volkspartei „Istina" veröffentlichen Festnummern. Auch das oppositionelle Blatt „Srpska Rijec" widmet dem Erzherzog an leitender Stelle einen Willkommartikel, in dem die Ergebenheit und Treue des serbischen Volkes für die Dynastie betont wird.

Raiffeisenkassen – die Banken des Dorfes

Neue Freie Presse am 25.6.1914

Man spricht wenig von den Raiffeisenkassen, den Banken des Dorfes, die den landwirtschaftlichen Kredit kräftig unterstützen. Man hört wenig von landwirtschaftlicher Kreditnot, von einer exzessiven Bodenverschuldung, worüber noch vor Jahren geklagt wurde. Ungefähr die Hälfte der Bevölkerung lebt von der Agrarproduktion, und es sind daher sehr breite Schichten, die an den gebesserten Verhältnissen direkt interessiert sind. Mit dem Kredit des kleinen Landwirtes steht es inzwischen besser als mit dem des Mittelbesitzes und der städtischen Kreditwerber, dank der Raiffeisenkassen, die heute nicht nur caritative Kreditinstitutionen, sondern leistungsfähige Geldquellen geworden sind, aus denen der Landwirt schöpft, da die Sparkassen und Landesbanken fast untätig und zu teuer sind.

Der Autobus - ein ständiges Ärgernis

Neue Freie Presse am 24.6.1914

Staub, Missgeruch und Bodenerschütterung - das ist das Ergebnis der letzten Errungenschaft der Josefstädterstraße: des Autobus Stephansplatz-Ottakring. Für den Staub kann man ihn allein nicht verantwortlich machen: würde die Straße besser gereinigt, wäre es anders. Der Benzingeruch aber ist abscheulich. Er dringt auch in die Wohnungen, so dass man die Fenster bei Tag nicht offen halten kann. Die Antwort eines Omnibuschauffeurs auf die Frage, warum kein besseres Benzin genommen werde, lautete kurz: „Weil's billig is‘." Es gibt zwar eine Verordnung, die den Autos das Auspuffen der Benzindämpfe in den Straßen verbietet, aber darum kümmert sich niemand. Wir sind ja in Wien. Das Schlimmste an diesem Fahrzeug aber ist die Erschütterung des Bodens, die es verursacht. Man spürt sie bis in die entferntesten Winkel der Wohnungen.

Der letzte öffentliche Auftritt der Friedensnobelpreisträgerin

Neue Freie Presse am 23.6. 1914

Gerade heute vor einem Monat war es, als sie zu einem größeren Kreis von Freunden zum letzten Mal öffentlich sprach. Wir hatten sie damals veranlasst, ihr Krankenlager zu verlassen und in der Hoffnung, durch die Mitarbeit an dem ihr so am Herzen liegenden Werke, der Vorbereitung des 21. Weltfriedenskongress, ihre Widerstandskraft zu beleben. Sollte doch dieser Kongress in Wien die Krönung ihrer Lebensarbeit werden und gleichzeitig eine Huldigung bilden für Österreichs berühmteste Frau. In diesem Sinne wurde ihr auch an jenem uns ewig unvergesslichen Nachmittag gehuldigt, und sie ergriff, obwohl sie es vorher abgelehnt hatte, dennoch das Wort. Wir ahnten nicht, dass es zum letzten Mal sein werde.

Idealismus und Hingabe für eine Idee: Berta von Suttner

Neue Freie Presse am 22.6.1914

Die Menschenfreunde und Idealisten der ganzen zivilisierten Welt betrauern den Hingang einer starken und wertvollen Individualität, einer bedeutenden Frau, die mit dem Einsatz ihrer ganzen Persönlichkeit unbekümmert um banausischen Spott und gedankenlosen Gleichmut der Vielzuvielen ihre ganze Lebenskraft der Verwirklichung eines von ihr als richtig erkannten Gedankens gewidmet hat. Berta Suttner hat das Philosophenwort, dass die Utopien von heute die Wirklichkeit von morgen sind, zur Devise ihres Daseins werden lassen und ist allen Enttäuschungen zum Trotz zeitlebens in ihrer unermüdlichen Werbearbeit für die Sache des Weltfriedens und der Völkerverständigung nicht erlahmt. Die Lebensarbeit eines bedeutenden Menschen kann nicht immer an den Erfolgen gemessen werden, die bei seinem Lebensende sinnfällig in Erscheinung treten; aber selbst wenn man diesen nüchternen Maßstab der Wertung des Lebenswerkes der Suttner zugrunde legt, staunt man, was ihre Rastlosigkeit, ihre Agitationskraft und ihre Agitationslust in wenig mehr als zwanzig Jahren bewerkstelligt hat.

Totale Macht einer Partei in Wien

Neue Freie Presse am 21.6.1914

„Jetzt haben wir die Macht in Wien und üben sie rücksichtslos aus!" Na ... ob! Ist es wirklich notwendig gewesen, das extra noch zu sagen? Jeder Mensch weiß ja ohnehin, wer im Rathaus befiehlt, wer in der Gemeindestube keinen Muckser duldet und am liebsten überhaupt alle selbständigen, unbequemen Meinungen in der ganzen Stadt niederdrücken möchte. Eine Partei, die für jeden Widerspruch ihr unveränderliches „Halt's Maul!" bereit hat, braucht gar nicht erst so laut über sich selbst zu reden. Dennoch tut sie es unaufhörlich. Gewiss: Sie haben die Macht, haben sie seit zwei Jahrzehnten, und in solch einem Zeitraum lässt sich schon etwas ausrichten. Weil sie aber so heftig aufpochen, weil sie der Welt diese Macht wie eine geballte Faust unter die Nase halten ... Manches ist geschehen, was als Leistung gelten kann, das soll nicht geleugnet werden. Aber die ungeheuren Weihrauchwolken, die solche Werke umdampfen, vermögen einen ruhigen Betrachter doch nicht ganz zu benebeln.

Schweres Ballonunglück in Fischamend

Neue Freie Presse am 20.6.1914

Eine grauenhafte Katastrophe hat sich heute ereignet. Der Körting-Lenkballon, der zu wissenschaftlichen Versuchen aufgestiegen war, wurde von einem ihn verfolgenden Aeroplan angerannt, die Ballonhülle eingerissen, und die Folge war eine furchtbare Explosion, bei der beide Luftfahrzeuge verbrannten und sämtliche Insassen getötet wurden. Neun Todesopfer, darunter sechs Offiziere, sind zu beklagen. Die erste Aufgabe der Untersuchung wird die Feststellung sein, ob die Versuche des Aeroplans, den Körting-Ballon zu überfliegen, zu den notwendigen Bestandteilen der militärischen Übung gehörten. Diesen Versuchen wird nämlich die Schuld an dem unfassbaren Unglück gegeben.

Urteil im Vaterschaftsprozess Wagner

Neue Freie Presse am 19.6.1914

Wie der Korrespondent aus Bayreuth erfährt, hat die Zivilkammer des dortigen Landgerichtes in der Klage der Frau Isole Beidler gegen ihre Mutter Frau Cosima Wagner auf Anerkennung, dass sie die Tochter Wagners und nicht Hans von Bülows sei, das Endurteil dahin gefällt, dass die Klage abgewiesen werde. Die Klägerin Frau Isolde Beidler hat die Kosten des Rechtsstreites zu tragen. Die Gründe für das Urteil wurden heute nicht angegeben, sondern werden erst später publiziert. Das Urteil soll, wie verlautet, darauf basieren, dass die Klage gegen die guten Sitten verstoße.

Burschenschaften zur Duellfrage

Neue Freie Presse am 18.6.1914

Auf dem in Marburg abgehaltenen Burschenschaftertag der österreichischen Burschenschaften wurde seitens der anwesenden Delegierten der verschiedensten Burschenschaften auch die Satisfaktionsunfähigkeit der Juden verhandelt und bei diesem Punkte mit Stimmenmehrheit der Beschluss gefasst, das sogenannte Waidhofner Prinzip fallen zu lassen. Die Satisfaktionsverweigerung seitens der österreichischen Burschenschaften gegenüber den Juden wurde im Jahre 1896 als Grundsatz aufgestellt. Unter den Burschenschaften hat über diesen Punkt nie eine volle Einigkeit bestanden. Der Großteil der Burschenschaften ließ auf dem Marburger Kongress das sogenannte Waidhofner Prinzip fallen.

Besinnungslose Wut der Balkanvölker

Neue Freie Presse am 17.6. 1914

Der Völkerhass ist so stark, der Blutdurst, die Instinkte und Leidenschaften sind so aufgestachelt, dass die vernünftigen Wünsche der Regierungen oft in dieser Brandung ertrinken. Auch die Staatsmänner vermögen nichts mehr, wenn die Wut die Massen um ihre Besinnung bringt; auch sie können den Eindruck nur wenig mildern, den die Verfolgungen und Quälereien von Volksgenossen machen müssen. Und wer wird auf diesem Balkan nicht verfolgt? Es ist, als ob ein Geschwür vorhanden wäre, das fortwuchert und fortschwärt und immer wieder die Säfte im Körper zur Fieberhitze aufpeitscht. Ein Verbrechen zieht das andere nach sich, Beschuldigung steht gegen Beschuldigung, und in diesem wirren Knäuel fehlt jeder Anhaltspunkt zu gerechtem Urteil. Viele haben geglaubt, nach den Balkankriegen sei die orientalische Frage wenigstens für einige Jahre gelöst. Aber unter diesem Lavaboden glühen die Feuerströme immer wieder auf.

Bessere Ausbildung der Kindergärtnerinnen

Neue Freie Presse am 16.6.1914

Der Aufschwung des Kindergartenwesens in den größeren Städten Österreichs und der Wunsch der Kindergärtnerinnen, eine gründlichere Vorbildung für ihren Beruf zu erwerben, hat das Unterrichtsministerium veranlasst, der Frage der zweijährigen Bildungsdauer der Kindergärtnerinnen näherzutreten, so dass die Erweiterung der bestehenden einjährigen Lehrkurse auf zwei Jahre in unmittelbarer Aussicht steht. Es sollen für die Kleinkindererziehung besser vorgebildete Elemente zur praktischen Mitwirkung an der Erziehung im Kindergarten gewonnen werden; es wird aber auch jenen Mädchen, welche sich mit der Erziehung in der Familie befassen, die Möglichkeit gewährt, ihre wirtschaftliche und soziale Stellung zu verbessern. Auch Mädchen aus den besseren Ständen, welche gewillt sind, sich für ihren künftigen Frauen- und Mutterberuf vorzubereiten, können gründliche Kenntnisse über die Pflege und Erziehung kleiner Kinder erwerben.

Russland rüstet auf, Frankreich soll mitziehen

Neue Freie Presse am 15.6.1914

Russland könne nicht gleichgültig gegenüber der Frage der dreijährigen Dienstzeit in Frankreich bleiben. Russland habe alles getan, wozu das Bündnis mit Frankreich es verpflichtete, es erwarte mithin, dass sein Verbündeter ebenfalls seine Pflicht tue. Es ist allbekannt, heißt es weiter, welche kolossalen Opfer Russland gebracht hat, um das französisch-russische Bündnis auf eine ideale Höhe zu bringen. Das diesjährige Rekrutenkontingent ist von 450.000 auf 580.000 Mann gestiegen und die Dienstzeit um sechs Monate verlängert worden. Dank dieser Maßnahme stehen jeden Winter in Russland vier Kontingente Rekruten unter Waffen, also eine Armee von 2 1/3 Millionen Mann. Deutschland verfügt über 880.000, Österreich-Ungarn über etwa 500.000 und Italien über etwa 400.000 Mann. Ganz natürlich also, dass Russland von Frankreich 770.000 Mann erwartet, was nur bei der dreijährigen Dienstzeit möglich ist. Diese Vergrößerung der Armeen in Friedenszeiten soll ausschließlich eine schnelle Mobilisierung erwirken.

Spionagegefahr bei Gebirgsmanövern in Bosnien

Neue Freie Presse am 14.6.1914

Das Armeeinspektorat in Sarajewo hat an die unterstehenden Kommanden aus Anlass der demnächst stattfindenden Gebirgsmanöver, denen der Generalinspektor der gesamten bewaffneten Macht Erzherzog Franz Ferdinand beiwohnen wird, einen Erlass herausgegeben, in welchem scharfe Bestimmungen zur Verhinderung der Spionage während der Übungen angeordnet werden. In dem Erlasse wird mit der Wahrscheinlichkeit gerechnet, dass die Gebirgsmanöver Anlass zur Entsendung fremder Agenten oder in fremden Diensten befindlicher Kundschafter geben werden; es wird daher allen Truppen erhöhte Aufmerksamkeit empfohlen. Die Truppen werden ermächtigt, die Zuseher an den Übungen zur Vorweisung der Legitimationen für das Betreten des Manöverraumes zu veranlassen und es wird ihnen die Befugnis erteilt, bei nichtgenügender Legitimierung sofort zur Verhaftung zu schreiten oder diese durch Gendarmerieorgane zu veranlassen.

Hohe Säuglingssterblichkeit in Wien

Neue Freie Presse am 13.6.1914

Die Säuglingsfürsorge steckt bei uns nicht in den Kinderschuhen, sondern im Säuglingsalter und gerade sie ist eines der wichtigsten Gebiete der Wohlfahrtspflege. Der Verlust, den der Staat durch die Säuglingssterblichkeit erleidet, ist ungeheuer. Österreich hat die größte Säuglingssterblichkeit. In einem Zeitraume von fünf Jahren hatten wir 4.701594 Lebensgeburten und von einer Million lebend Geborenen sind 200.000 Todesfälle im ersten Lebensjahr zu verzeichnen. Das entspricht 20 Prozent von allen, die geboren wurden. Bei einer Vergleichung der Säuglingssterblichkeit in den Bezirken mit wohlhabenderen gegenüber den Bezirken mit ärmeren Bewohnern zeigt sich, dass die Sterblichkeit bei den Wohlhabenderen eine größere ist. Sie werden mich fragen, wieso dies kommt. Darauf gibt der bekannte Professor Dr. Neumann in Berlin Auskunft. In seiner Untersuchung über den Einfluss des Pauperismus findet er, dass die Brustkinder selbst der niedrigen sozialen Stufe noch einen verhältnismäßig höheren Lebenswert haben als die Flaschenkinder der besseren Stände. Übrigens ist der Mittelstand von der Wirtschaftskrise der letzten Jahre am meisten betroffen.

Warum klettern die Leute so gerne in Höhlen?

Neue Freie Presse am 12.6.1914

Höhlen sind seit Jahren in unserem Gebirge bekannt gewesen und auch gelegentlich immer wieder besucht worden.  Bisher haben das aber bloß ein paar Sonderlinge aus Neugier, nach Laune, gemacht,  jetzt wird es sportmäßig und methodisch betrieben. Das Motiv ist die Lust am Geheimnis, der Reiz der Gefahr. Höhlensport ist charakteristisch für die Jugend geworden. Er stellt die höchsten Forderungen an Kraft, Ausdauer, Geschicklichkeit. Es ist ein Sport, in dem man sich Dilettanten nicht gut denken kann. Er führt immer ins Ungewisse. Er führt in die tiefste Einsamkeit, durch Finsternis, an kein Ziel, denn immer kann ja vielleicht noch irgendein Gang in irgendeine noch tiefere Tiefe irgendwo verborgen sein. Er führt ins Gestein, über Eis, an Seen; sie müssen klettern, hängen, waten. Mitten in der Heimat, kaum ein paar Stunden von ihrer Vaterstadt, sind sie in verzaubertem Land. Und sie sind Entdecker.

Eheverbot für niederösterreichische Lehrerinnen

Neue Freie Presse am 11.6.1914

Die Christlichsozialen fühlen sich bei dem Gedanken noch nicht befriedigt, dass Österreich bei vielen Gesetzen zum rückständigsten Land der Welt geworden ist. Sie haben eine neue Schranke aufgerichtet, die eine ganze Klasse von Menschen, von ehrlichen und tüchtigen, die ein wichtiges und bedeutsames Amt für den Staat erfüllen, von der Freude abtrennt, Menschen, die mit ausgeklügelter  Grausamkeit gezwungen werden, entweder auf den Lebensberuf oder auf das Lebensglück Verzicht zu leisten. Die Lehrerin soll nicht heiraten. Sie wird den Unmündigen, den Wahnsinnigen und Blödsinnigen, den Verbrechern gleichgestellt. Sie wird in ihrer persönlichen Freiheit in unerhörter Weise verletzt. Das christlichsoziale Muckertum redet sich darauf aus, dass die Kinder sich über eine Frau, die sich in gesegneten Umständen befände, lustig machen würden. Das heißt aber wahrlich, der Jugend etwas von dem eigenen Geiste leihen. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass es sich bei dieser ganzen Kampagne gegen die persönliche Freiheit nur darum handelt, einige Groschen weniger auszugeben für jene Tage, in welchen die verheiratete Frau arbeitsunfähig wäre.

Soll man die Suffragetten verhungern lassen?

Neue Freie Presse am 10.6.1914

In mehreren hiesigen Zeitungen wird jetzt dafür Stimmung zu machen gesucht, dass man die hungerstreikenden Suffragettes ruhig verhungern lasse. Bernard Shaw äußert sich hierüber folgendermaßen: „Da wir nicht genug Überzeugung haben, um es zu wagen, die Suffragettes verhungern zu lassen, noch genug gesunden Menschenverstand, um uns zu einer unvermeidlichen Reform zu verpflichten, so kann man bloß warten, bis die Frauen den Mob provozieren, sie zu lynchen, und die Regierung eine ausreichende Zahl Mob zur Sühne hängt. Es ist so echt englisch, dass die Frauen ihr Stimmrecht erst bekommen werden, bis nicht der letzte Tropfen Unheil und Leiden aus einer Situation herausgepresst ist, die verschiedene zivilisierte und vernünftige Länder ohne die geringste Schwierigkeit gemeistert haben."

Prozess gegen den Dieb der „Mona Lisa"

Neue Freie Presse am 9.6.1914

Der Angeklagte Vincenzo Peruggia berichtet, dass er am 21. Juli um 7 Uhr den Louvre betreten habe. Ich sah das Bild, sagte er, das eines unserer größten Meisterwerke ist, und nahm es an mich.  Der Gerichtspräsident: „Erklären Sie uns jetzt, weshalb sie den Diebstahl begangen haben?" Angeklagter mit einem unbestimmbaren Lächeln: „Alle italienischen Bilder, die sich im Louvre befinden, sind geraubt worden." - „Womit können Sie diese Behauptung beweisen?" - „Durch Bücher und durch Photographien." - „Woher stammt ihre Vorliebe für die ‚Gioconda‘? Konnten Sie nicht ebensogut andere Bilder nehmen?" - „Gewiss, ich hätte auch einen Raffael oder einen Corregio an mich nehmen können; ich zog jedoch das Meisterwerk Leonardos vor. Ich wollte, dass es wieder seinen Ehrenplatz in einer italienischen Galerie einnehme."  - „Warum haben Sie sich in einem Brief an ihre Familie dahin ausgesprochen, dass Sie nun endlich zu Geld kommen würden, da Sie das Ziel ihrer Träume erreicht haben?" - Angeklagter nach einigem Zögern: „Romantische Worte!"

Audienz des Thronfolgers beim Kaiser

Neue Freie Presse am 8.6.1914

Der Kaiser erfreut sich andauernd guten Befindens. Schlaf und Appetit des Kaisers sind normal, Arbeitskraft und Stimmung sehr zufriedenstellend. Bei gutem Wetter macht der Kaiser, dessen Bronchitis völlig geheilt ist, so dass auch das Rauchen schon gestattet wird, täglich die Parkpromenade im reservierten Schönbrunnergarten. Heute Vormittag um ½ 9 Uhr fuhr Erzherzog Franz Ferdinand vom Belvedere nach Schönbrunn und wurde vom Kaiser in Audienz empfangen. Der Erzherzog wird den Concours Hippique besuchen, und dann wahrscheinlich schon heute abend, nach Konopischt reisen, wo er diese Woche noch den deutschen Kaiser zu Gast hat. Erzherzog Franz Ferdinand, Herzogin von Hohenberg und Familie werden dann nicht, wie verlautete, nach Artstetten reisen, sondern auch in diesem Jahr in Blühnbach bei Salzburg Sommeraufenthalt nehmen.

Russland versucht die Ukrainer für sich zu gewinnen

Neue Freie Presse am 7.6.1914

Man kann sich über das Endziel der russophilen Politiker unmöglich noch im Unklaren sein. Nach den zutage getretenen Intentionen soll in dem ruthenischen Volksstamme, dessen Sprache in Russland aus Kirche, Amt, Schule und aus dem öffentlichen Leben verbannt wurde, auch auf dem vom San und der oberen Theiß bis zum Don sich erstreckenden Gebiete, welches sie als den Hebel zur internationalen Umgestaltung Osteuropas und als ein mächtiges Werkzeug in ihren Händen ansehen, das nationale Bewusstsein gänzlich erstickt werden. Diese Agitation führt nichts Geringeres im Sinne, als die in Galizien, in der Bukowina und in Nordungarn lebenden Ruthenen, die einen von der russischen Nation verschiedenen Entwicklungsgang durchgemacht haben, vom  „schweren österreichischen Joche" zu befreien und die von denselben bewohnten Landstrecken unter die Herrschaft des Zaren zu bringen.

U-Boote statt großer Schlachtschiffe

Neue Freie Presse am 6.6.1914

Das Ereignis des Tages ist ein Brief von Sir Percy Scott, dem seit 1913 pensionierten englischen Admiral. In diesem Brief erklärt Sir Percy die großen Kriegsschiffe als durch die Unterseeboote und Luftfahrzeuge vollständig entwertet und verlangt, dass keine weiteren großen Schiffe, sondern nur Unterseeboote und Luftfahrzeuge gebaut werden. Unterseeboote und Luftfahrzeuge ergänzen einander. Der Aeroplan ist der Späher und gibt das akustische Signal, auf das hin die Unterseeboote auf den Feind losgelassen werden, wie man Hunde loslässt. Kein Schiff kann gegen diese Gefahr bestehen, kein Schiff wird sich auf die offene See auch nur hinauswagen, ja ist selbst im eigenen Hafen sicher, soweit es nicht von den eigenen Unterseebooten und Seeminen geschützt ist.

Budgetbeschlüsse ohne Parlament

Neue Freie Presse am 5.6. 1914

Die Sommersession des Parlaments ist jetzt schon so gut wie begraben und eine Verständigung ganz unwahrscheinlich geworden. Alle Herausforderungen der letzten Zeit, alle Widersetzlichkeiten gegen die Verfassung, die Missachtung der Rechte des Hauses, haben nicht vermocht, die Volksvertreter aus ihrer Schlaffheit herauszureißen und sie zu einem Aufschrei der Empörung zu vereinigen. Der Ministerpräsident hat sich den Witz geleistet, die Einbringung, richtiger Einschmuggelung des Budgets in das Abgeordnetenhaus als einen Akt der Courtoisie darzustellen, für den das Parlament noch dankbar zu sein hätte. Vielleicht müsste noch die ganze Öffentlichkeit der Regierung zu Füßen fallen und ihr dafür danken, dass sie die Ziffern des Staatsvoranschlages nicht gänzlich verborgen und wie in den Zeiten des reinen Absolutismus als Staatsgeheimnis behandelt habe.

Gebirgsmanöver in Bosnien mit Franz Ferdinand

Neue Freie Presse am 4.6.1914

Für die Teilnahme des Erzherzogs an den Manövern wurden folgende Bestimmungen getroffen: Erzherzog Franz Ferdinand trifft am 25. d. in Sarajewo ein und setzt nach kurzem Aufenthalte, der dem Empfange der staatlichen und der Gemeindefunktionäre gewidmet ist, die Reise nach Ilidze fort. Der Erzherzog wird mit seinem Gefolge im Hotel Bosna Wohnung nehmen. Am 28. d., nach Schluss der Manöver, begibt sich der Erzherzog wieder nach Sarajewo, woselbst er die Stadt und ihre Sehenswürdigkeiten besichtigen dürfte. Am Nachmittag des 28. d. erfolgt dann die Rückreise über Agram nach Wien.

Mit dem Auto zum Blumenkorso in den Prater

Neue Freie Presse am 3.6.

Vom Wetter außerordentlich begünstigt, entwickelte sich heute wieder das farbenfrohe Bild des Blumenkorsos in der Hauptallee. Das Fest ging unter der Etikette „Alt-Wiener Praterfahrt“ vor sich. Aber es blieb bei der Devise und der Etikette, denn wenn auch viele Damen in reizenden Kleidchen aus der Wiener Biedermeierzeit einen Hauch der Erinnerung an die vergangenen Zeiten hervorzauberten, so war doch das neuzeitliche Auto Trumpf. Die Pferdewagen geraten immer mehr in eine klägliche Minderzahl, und man konnte die Fiaker an den Fingern abzählen. Autos als Blumenschiffe, als Blumenkörbe, als ganze Gärten, phantastisch und nüchtern herausgeputzte Automobile folgten einander in geschlossenen Reihen.

Verdruss über die Wiener Taxifahrer

Neue Freie Presse am 2.6.1914

Die Taxameterchauffeure sind böse, wenn man sie nur zu kurzen Fahrten benützt, trotz des Trinkgeldes, das sie empfangen. Benützt man ihre Vehikel aber zu langen Fahrten, zum Beispiel zum Zentralfriedhof, und nicht auch zurück, sind sie abermals sehr gekränkt und machen kein Hehl aus ihrem Verdruss. Auch ist die Beleuchtung des Taxameterapparates durchaus schlecht. So erfuhr ich es am letzten Sonntag, da ich infolge des drohenden Gewitters von der Wollzeile bis zu meiner nahegelegenen Wohnung ein Auto nahm. Ich fragte den Chauffeur am Ende der Fahrt: „Was macht das aus?“ Er sagte: „Eine Krone achtzig Heller.“ Zu sehen war nichts. Im tiefsten Dunkel war der Apparat, da nahm ich ein Streichholz, mit dessen Hilfe es mir gelang, auf dem Apparat 1 K. 40 H. zu lesen.

Der Thronfolger, das unbekannte Wesen

Wiener Montags-Journal am 1.6.1914 (Pfingstmontag)

Die ernstliche Krankheit des greisen Monarchen hat naturgemäß die Aufmerksamkeit wieder auf den einstigen Thronerben gelenkt, der nach menschlichem Ermessen - Gott erhalte den Kaiser noch viele, viele Jahre - berufen ist, das Erbe anzutreten. Die Person des Thronfolgers ist den Völkern Österreichs ein unbeschriebenes Blatt, und es ist nur natürlich, wenn sich die Neugierde allenthalben Umrisse klarmachen will. Der ganze Hofklatsch macht sich darüber her. Die Ursachen dieses Klatsches liegen auf einem Gebiete, das wegen der wirklich sympathischen Grundlinien zur höchsten Bewunderung locken sollte. Die Heirat des Thronfolgers, der gibt der Hofsippe immer wieder den Anlass, die hohen Laubengänge mit Apercus und Anmerkungen zu füllen, die leicht den Weg hinaus auf die Straße und ins Volk finden. Das traurige Gewerbe blüht eben immer noch bei Hof, wie vor vielen hundert Jahren.

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