Muss Deflation überhaupt bekämpft werden?

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Die Deflation wird in der Peripherie wieder einmal in einer Weise analysiert, die für einen gemeinsamen Währungsraum unangemessen ist.

Nachdem die Eurokrise in ihrer Form als Finanzkrise durch OMT, ESM und Schritte in Richtung Bankenunion entschärft wurde, wendet sich die Debatte der makroökonomischen Krise zu, in der sich der Euroraum schon seit Jahren befindet. Dies ist auch notwendig, denn die Wachstums- und Arbeitslosenzahlen sind erdrückend schlecht. Dies gilt insbesondere für die Euro-Krisenländer: Nach tiefer Rezession und Massenarbeitslosigkeit ist nun in einigen Staaten auch ein Rückgang des Preisniveaus, also Deflation zu beobachten.

Unterschiede in Währungsraum sind normal

So begrüßenswert der Schwenk zur Makrobetrachtung ist, so bedauerlich ist es festzustellen, dass die Deflation in der Peripherie wieder einmal in einer Weise analysiert wird, die für einen gemeinsamen Währungsraum unangemessen ist. Darauf weist der Titel des Beitrags hin: Haben wir uns im D-Mark Raum jemals um die Frage gekümmert, ob Deflation in einer Region Fluch oder Segen ist? Die Antwort lautet: Nein, und dies nicht nur, weil keine Inflationszahlen für Ostfriesland oder den Hunsrück vorliegen, sondern weil die Antwort klar ist: Sie ist weder Fluch noch Segen, solange es keine Deflation in Deutschland gibt.

In jedem integrierten Währungsraum treten Inflationsdifferentiale auf. Sie fungieren als ein Anpassungsinstrument, um Investitionen und die Produktion von Gütern in den Gebieten mit geringerer Wettbewerbsfähigkeit attraktiver zu machen, und Arbeitnehmer aus den Gebieten mit niedrigerer Wettbewerbsfähigkeit und daher niedrigeren Löhnen anzuregen, Arbeit in Regionen mit höheren Löhnen anzunehmen. Die erforderliche Höhe des Inflationsgefälles hängt von mehreren Faktoren ab. Angesichts diverser Mobilitätshemmnisse (Sprache, kulturelle Faktoren, unterschiedliche Sozialsysteme etc.) überrascht es nicht, dass in Europa die Inflationsdifferentiale etwas größer ausfallen als in Deutschland.

Inflationsdifferentiale sind daher ein Beitrag Anpassungsprozesse in der Währungsunion zu gestalten. Nachdem sich in der Vorkrisenperiode Ungleichgewichte - hohe Leistungsbilanzdefizite in der Peripherie, hohe Leistungsbilanzüberschüsse im Kern - herausgebildet hatten, gilt es nun, diese umzukehren. Dieser Prozess schreitet schon seit einigen Jahren voran. So wiesen alle Krisenländer 2013 eine praktisch ausgeglichene Leistungsbilanz auf, fünf Jahre nach Defiziten im zum Teil zweistelligen Prozentbereich (in Relation zum BIP). Natürlich lässt sich darüber streiten, wie sehr diese Anpassung die Einkommenskontraktion widerspiegelt und wie sehr sie auf Exporterfolgen beruht (Gros 2014). Strittig mag auch sein, wie lange der Prozess noch dauern muss, um nachhaltig zu sein. Dass die Anpassung im Gange ist und dass sie Zeit braucht, wird jedoch selbst von Euro-Skeptikern nicht bestritten (Sinn und Valentinyi 2014).

Deflationsgefahr richtig einschätzen

In den letzten Monaten geht die Herausbildung von Inflationsdifferentialen mit Deflation in einigen (ehemaligen) Defizitländern einher. Bleibt unberücksichtigt, dass sich die Länder in einer Währungsunion befinden, kann schnell der Fluch der Deflation thematisiert werden, wie er von Fisher (1933) analysiert wurde. Danach erhöht Deflation die reale Schuldenlast sowie den Realzins und bremst damit die gesamtwirtschaftliche Nachfrage. Bei einem Umschlagen von Deflation in Deflationserwartungen ist auch der Konsum negativ betroffen.

In einer Währungsunion tritt dieser Fluch aber nicht auf, solange

a) der Währungsraum hinreichend integriert ist, d.h. die ökonomische conditio sine qua non für einen gemeinsamen Währungsraum erfüllt ist, und

b) die Geldpolitik für den gemeinsamen Währungsraum verhindert, dass sich für den Währungsraum als Ganzes Deflation einstellt.

Unter diesen Voraussetzungen lässt sich zwar für einzelne Teile des Währungsraumes Deflation messen, ökonomisch handelt es sich jedoch lediglich um eine Änderung der relativen Preise. Denn unter den oben genannten Voraussetzungen impliziert jeder Zehntelprozentpunkt, mit dem die „Inflationsrate" in den Defizitländern fällt, dass die „Inflationsrate" in den Überschussländern steigt (gewichtet mit den jeweiligen Anteilen am gemeinsamen BIP). Konkret: Deflation in Spanien ist unproblematisch, solange es Inflation in Deutschland gibt und damit - in einem integrierten Währungsraum - Anpassungsprozesse stattfinden. Zudem wird der Entstehung von Deflationserwartungen in Spanien (und spiegelbildlich: Inflationserwartungen in Deutschland) ein Riegel vorgeschoben. Denn in Spanien sinkt im Zuge des Anpassungsprozesses die Arbeitslosigkeit und steigt das Einkommen, während in Deutschland wegen des Arbeitskräfteimports sowie des steigenden Konkurrenzdrucks auf den Gütermärkten der Preisdruck in Schach gehalten wird.

Die Deflation in Südeuropa ist demnach nur dann ein Fluch, wenn der Euroraum entweder nicht jenes Maß an Integration aufweist, das für einen erfolgreichen Anpassungsprozess erforderlich ist, oder die Deflation in Südeuropa nicht von einem entsprechenden Inflationsanstieg in Kerneuropa begleitet wird. Geht man davon aus, dass der Euroraum hinreichend integriert ist, dann ist das Problem der letzten Monate, dass trotz fallender und negativer Inflationsraten in der Peripherie die Inflationsraten in Kerneuropa nicht steigen, sondern auf niedrigstem Niveau stagnieren oder sogar ebenfalls fallen. Der Fluch der Deflation in der Euro-Peripherie besteht also darin, dass sie womöglich den Euroraum als Ganzes erfasst.

Euro-Deflationsgefahr ist gestiegen .....

Noch ist unklar, ob diese Gefahr Realität werden wird. Manche Beobachter verweisen darauf, dass der Rückgang der Inflationsrate überwiegend Entwicklungen bei den Rohstoff- und Nahrungsmittelpreisen widerspiegelt. Doch wie es in dem Jürgen Stark zugeschriebenen Zitat heisst: es gibt kaum Menschen, die weder essen noch Auto fahren. Wenn also ein Anstieg volatilerer Preiskomponenten eine geldpolitische Reaktion erfordert, dann sollte das symmetrisch auch bei einem entsprechenden Rückgang gelten. Übrigens: die Kerninflationsrate ist seit Jahren unter der Zielmarke und fällt ebenfalls. Andere beziehen sich auf fest verankerte langfristige Inflationserwartungen in der Nähe der EZB-Zielmarke von knapp unter zwei Prozent pro Jahr, um die Deflationsgefahr klein zu reden. Erfahrungen aus der Großen Depression (Calomiris 1993) sowie aus Japan (Moghadam, Teja and Perkman 2014) zeigen jedoch, dass eine lange Deflationsphase selbst dann eintreten kann, wenn sich die langfristigen Inflationserwartungen dauerhaft in der Nähe des Ziels Preisniveaustabilität bewegen. Es stellt sich daher die Frage, warum der Euroraum bereit ist, die Deflationsrisiken zu tragen. Diese Frage richtet sich an die EZB und die europäische Wirtschaftspolitik insgesamt (Fratzscher 2014). Entsprechend gibt es auch zwei Antworten.

... geldpolitischer Grundpositionen

Das (bisherige) Zögern der EZB - auch im Vergleich zu anderen Zentralbanken (Mody 2014) - aggressiv auf die Deflationsrisiken zu reagieren, spiegelt unterschiedliche geldpolitische Grundsatzpositionen wider, die seit Langem bekannt sind. So hat die Bundesbank erst zum Jahresende 2013 verdeutlicht, dass sie die größten geldpolitischen Risiken nicht in einer aufkommenden Deflation, sondern in den Nebenwirkungen der Niedrigzinspolitik sieht (Winkler 2013). Folglich ist laut Auffassung der Bundesbank eine weitere geldpolitische Expansion, wie sie zur Abwehr der Deflationsgefahr notwendig wäre, nur dann vertretbar, wenn die jetzt schon gegebenen Risiken der Niedrigzinspolitik kleiner sind als die Risiken einer Deflation.

Während die Risiken einer Deflation, sollte sie denn eintreten, durchaus gesehen werden (Bentzien 2014), wird die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Deflationsszenarios jedoch als so gering eingeschätzt (Handelsblatt 2014), dass sich aus der bisherigen Kosten-Nutzen Abwägung keine Unterstützung für eine aktive Anti-Deflationspolitik ergab. Dabei kann sich die Bundesbank auch auf Stimmen aus der Wissenschaft berufen, die nahelegen, dass die Geldpolitik - gerade unter den ökonomischen Bedingungen der Eurozone - keine Möglichkeit hat, mit unkonventionellen Maßnahmen die Deflation zu bekämpfen und die Nachfrage anzukurbeln, schon gar nicht in den Gläubigerländern, wie z. B. Deutschland (Belke und Gros 2014). Damit wird eine Wirkungslosigkeit der Geldpolitik konstatiert, eine These, die nicht nur, aber eben auch in Deutschland viele Anhänger hat. Dagegen gilt sie in den USA als eine der gefährlichsten Fehleinschätzungen moderner Geldpolitik (Fischer 1933, Romer und Romer 2013). Entsprechend unterschiedlich fallen die Geldpolitiken der EZB und der Federal Reserve aus.


... und mangelnder Anpassungsbereitschaft in Kerneuropa

Die zweite Antwort liegt in der fehlenden Bereitschaft Kerneuropas, ebenfalls an der Anpassung mitzuwirken, konkret: einen Boom zu akzeptieren bzw. einen solchen Boom wirtschaftspolitisch zu gestalten. Dies gilt für die Geldpolitik, wie das Beispiel der Bundesbank zeigt, ebenso wie für die Fiskalpolitik. Vorschläge, die darauf abzielen, dass z.B. Deutschland die Schuldenbremse lockert, um dringend notwendige Infrastrukturinvestitionen zu finanzieren und damit das Produktionspotential auszubauen ((Kirkegaard 2014), haben eine Realisierungschance, die gleich Null ist. Dies liegt daran, dass eine expansive Geld- und Fiskalpolitik als Ursache der Krise gelten, so dass man doch nicht ernsthaft empfehlen kann, mit der verfehlten Politik der Vergangenheit, die Probleme von heute zu lösen.
Erfahrungen aus Währungsunionen der Vergangenheit

Übersehen wird, dass man damit genauso argumentiert und damit die gleichen Fehler macht, wie in der ersten Phase der Großen Depression 1929 - 1931, als die meisten Marktwirtschaften noch über den Goldstandard über eine gemeinsame Währung verfügten. Dieser zerbrach daran, dass die Überschussländer der damaligen Zeit einen Aufschwung mit einer restriktiven Geldpolitik über die Sterilisierung von Goldzuflüssen (Eichengreen 1986) sowie eine restriktive Fiskalpolitik verhinderten (De Long 1998), weil sie Stabilität sichern wollten. Doch sie ernteten Deflation und Instabilität, d.h. den Zusammenbruch der „gemeinsamen Währung", des Goldstandstandards, begleitet von Schuldenschnitten und der Realisierung von Haftungsrisiken, die sich auch aus der Zusammenarbeit der Zentralbanken zur Stützung des Goldstandards ergeben hatten.

Insofern bestätigen die Lehren des Goldstandards nur scheinbar jene, die seit Jahren behaupten, dass Deutschland mit Schuldenschnitten und der Übernahme von Haftungsrisiken den Preis für das Experiment Euro zahlt bzw. wird zahlen müssen. Denn übersehen wird, dass dem ein Versagen der Makropolitik vorausging. Während man den damals politisch Verantwortlichen zugute halten kann, dass die Wirtschaftswissenschaft noch nicht so weit war, dieses Versagen als solches zu kennzeichnen, ist dies heute anders (De Grauwe 2006). Der Euro mag ebenso wie der Goldstandard nicht das optimale Währungsregime darstellen (O'Rourke and Taylor 2013), aber er könnte wesentlich besser gemanagt und damit auch die Makrokrise eingedämmt werden, wenn die Überschussländer akzeptieren würden, dass der einzige Preis, den sie zur Überwindung der Krise wirklich zahlen müssen, darin besteht, einen Boom zu gestalten. Es ist der systemimmanente Preis jeder Währungsunion.
Den D-Mark Raum beherzigen

Auch der Währungsraum Bundesrepublik Deutschland wäre unter den gegebenen Bedingungen nicht fünfzig Jahre erhalten worden, wenn sich Frankfurt, Stuttgart und München geweigert hätten, höhere Inflationsraten und damit ein höheres Preisniveau aufzuweisen als Ostfriesland und der Hunsrück. Indem Frankfurter, Stuttgarter und Münchner eine höhere Inflationsrate und ein höheres Preisniveau akzeptierten, leisteten sie den gleichen Beitrag zur Stabilität des D-Mark Raums wie Ostfriesen und Hunsrücker mit niedrigeren bzw. negativen Inflationsraten. Gemeinsam mit einer Bundesbank, die fünfzig Jahre keine deflationäre Entwicklung in Deutschland zuließ, war dies eine ökonomische Grundvoraussetzung für den Erfolg der D-Mark. Nicht mehr, aber auch nicht weniger gilt für den Euro.

Autor

Adalbert Winkler, geboren 1962, studierte Volkswirtschaftslehre an der Universität Trier und an der Clark University in Worcester, Massachusetts. Ende 2001 wechselte er zur Europäischen Zentralbank. In der Generaldirektion Internationale und Europäische Beziehungen war er für die Beobachtung und Analyse der wirtschaftlichen Entwicklung in den Nachbarstaaten der Europäischen Union, die Beziehungen zu den dortigen Zentralbanken sowie die jährliche Berichterstattung der EZB zur internationalen Rolle des Euro verantwortlich.

Kooperation

Dieser Artikel wurde für "Ökonomenstimme", die Internetplattform für Ökonomen im deutschsprachigen Raum, erstellt. Die Presse ist exklusiver Medienpartner der Ökonomenstimme.

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