Kinder: Sensorische Analphabeten

(c) AP (Barbara J. Perenic)
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Drei von vier Kindern können die vier Grundgeschmacks-Arten nicht fehlerfrei erkennen. Auch beim Riechen haben viele Kinder Probleme.

Klaus Dürrschmid ist als Wissenschaftler in seiner Wortwahl zurückhaltend. Er bezeichnet das Ergebnis seiner gestern, Dienstag, veröffentlichten Studie als „sehr überraschend“. Besser getroffen hätte es das drastischere Wort: „erschütternd“. Denn wie der Lebensmittelforscher der Universität für Bodenkultur im Auftrag der AMA Marketing herausgefunden hat, können nur 27,3 Prozent der österreichischen Kinder zwischen zehn und 13 Jahren die vier Grundgeschmacks-Arten süß, salzig, bitter und sauer fehlerfrei erkennen. Mehr als ein Drittel der Kinder erkennen nur zwei der vier Geschmäcker, ein Viertel nur einen. Und 8,1 Prozent können sogar keine einzige Geschmacksart fehlerfrei zuordnen.

Kinder schwächer als Erwachsene

Nicht viel besser sieht es bei der Geruchswahrnehmung aus: Nur jedes neunte Kind konnte die elf getesteten Gerüche richtig benennen. Jedes zweite Kind konnte immerhin acht Gerüche erkennen. Untersucht wurden in Summe 385 Kinder, die per Mikrozensus repräsentativ in ganz Österreich ausgewählt wurden. Der Geschmack wurde anhand von Lösungen getestet, in denen die Geschmackskonzentration deutlich über der Wahrnehmungsschwelle lag. Die Geruchswahrnehmung wurden mit „Sniffin' Sticks“ – ähnlich Filzschreibern, die statt der Farbe einen Geruchsstoff enthalten – getestet. Zur Auswahl standen in einem Multiple-Choice-Verfahren je vier Möglichkeiten.

„Es war zu erwarten, dass Kinder schwächer abschneiden als Studenten und Erwachsene“, sagt Dürrschmid. Aber die Testergebnisse lägen „deutlich“ unter dem Wert, der aus der Literatur zu erwarten gewesen wäre, sagte der Forscher. In Zahlen: Bei den Geschmäckern lag die durchschnittliche Erkennungsrate bei Kindern bei 55 Prozent. Bei Erwachsenen liegt dieser Wert bei knapp 80 Prozent. Ähnlich sind die Verhältnisse bei der Geruchswahrnehmung.

Bei der Erklärung dieses weit verbreiteten Geschmacks-Analphabetismus' können die Forscher bislang nur Vermutungen anstellen – denn es gebe kaum einschlägige Studien, beklagt Dürrschmid. Es gibt jedenfalls offensichtliche Zusammenhänge mit dem Ernährungsverhalten – das parallel zu den Verkostungen durch einen Fragebogen erhoben wurde. Allerdings betont der Forscher, dass ein statistischer Zusammenhang noch nicht bedeute, dass das eine die Ursache des anderen ist – denn es könnte auch gemeinsame Ursachen wie etwa genetische Faktoren geben. Trotzdem fördert die Verknüpfung der Essgewohnheiten mit den sensorischen Leistungen interessante Beziehungen zu Tage:
Es gibt einen signifikanten Zusammenhang zwischen den sensorischen Fähigkeiten und der Häufigkeit des Konsums von Schnellimbissen: Kinder die „nie“ oder „ab und zu“ Pizza, Burger & Co essen, haben signifikant bessere Testergebnisse – sowohl beim Geschmack als auch beim Geruch.
Kinder, die meistens Weißbrot essen, haben deutlich schlechtere Geruchs-Fähigkeiten als jene, die Schwarzbrot bevorzugen.
Je höher der Konsum von Obst und Gemüse ist, desto besser schneiden die Kinder beim Geruchstest ab.
Kinder, die neutrale Getränke bevorzugen, haben eine deutlich bessere Fähigkeit, Süße zu erkennen als solche, die viele stark gezuckerte Getränke konsumieren.
Wer gerne sehr saure Lebensmittel und Naschereien konsumiert, hat bessere sensorische Fähigkeiten.

Überlagert sind diese Ergebnisse von anderen Faktoren:
Hauptschulkinder schneiden sowohl beim Geschmack als auch beim Geruch deutlich schlechter ab als Gymnasiasten.
Kinder, die am Land leben, haben bessere sensorische Leistungen als Stadtkinder.
Mädchen schneiden gleich gut ab wie Buben; erst nach Einsetzen der ersten Menstruation verbessert sich das Wahrnehmungsvermögen der Frauen – was ein Folge der hormonellen Umstellung ist.

Es hängt aber nicht alles mit allem zusammen: So gibt es etwa keine Beziehungen zwischen der Naschhäufigkeit, der Frühstücksweise oder dem bevorzugten Brotbelag und den Ergebnissen der Geschmacks- und Geruchstests. Keinen signifikanten Zusammenhang gibt es weiters mit dem Gewicht der Kinder – obwohl es Hinweise gibt, dass übergewichtige Kinder besser riechen und schmecken als nomalgewichtige. Andere Studien widersprächen dem aber, betont Dürrschmid.

Vielfalt fördert Wahrnehmung

„Harte“ wissenschaftliche Erklärungen für diese Befunde sind dünn gesät. Mangels Studien könne man auch nicht sagen, ob Kinder vor 20 Jahren bessere sensorische Fähigkeiten hatten, so der Forscher. Zwei Schlüsse traut sich Dürrschmid aber doch zu ziehen. Erstens: Bei der schlechten Geruchswahrnehmung könnte eine Rolle spielen, dass immer mehr Lebensmittel künstlich aromatisiert werden – dadurch können Gewöhnungseffekte auftreten. Als sehr wahrscheinliche Ursache für die schlechten Testergebnisse sieht der Forscher zweitens eine „Ferne“ der Kinder von Lebensmitteln an. „Kinder sind nicht mehr in der Lage, ein Aroma mit einem natürlichen Produkt zu verbinden“, sagt er. „Kinder an den Herd“, schlägt er daher vor: Kinder sollen direkt mit Lebensmitteln konfrontiert werden – um mehr verschiedene Lebensmittel kennen zu lernen und die angeborene „Neophobie“ – die Scheu vor Unbekannten (siehe unten stehenden Artikel) – ablegen zu können. Dass Obst-, Gemüse- und Vollkorn-Esser besser bei den Tests abschneiden, sei keine Überraschung: „Diese Produkte sind ein Indikator für die Vielfalt der Ernährung.“ Und auch der Geruchs- und Geschmackssinn will eben trainiert werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.05.2008)

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