"Im Opfermythos darf man keine Fragen stellen"

Die Belgrader Historikerin Dubravka Stojanovic deutet die wütenden serbischen Reaktionen auf Christopher Clarks "Schlafwandler" auch als Widerstand gegen die Europäisierung Serbiens.

Der Erste Weltkrieg wurde Anfang der 80er-Jahre in Serbien auf einmal zum großen Thema. Ein Schlüsselmoment war das Theaterstück „Kolubarska Bitka" Warum hat das damals so hysterische Reaktionen im Publikum hervorgerufen?

Dubravka Stojanovic: Das Stück entstand 1983, als die jugoslawische Krise langsam wirklich tief wurde, als der Gesamtstaat ernsthaft in Frage gestellt wurde, das Verhältnis der Nationalitäten ein Thema wurde. Eine der ersten Antworten auf diese Krise war der serbische Nationalismus, infolge des Konflikts im Kosovo. 1983 war also ideologisch gesehen der Boden schon bereitet für alles Weitere. Das geschah freilich nicht in der Öffentlichkeit, es gab ja keine Parteien, die Medien waren unter staatlicher Kontrolle, die Zeitungen konnten nicht offen nationalistisch schreiben. Nicht einmal die Kirche konnte das damals tun. Aber die Kunst, das Theater, das war der politische Raum für neue Ideen. Dieses Stück war von Anfang an nicht einfach nur Theater, sondern ein politisches Event, das haben die Menschen auch ganz genau gespürt. Man bekam monatelang im voraus keine Tickets, und während der Aufführungen herrschte eine hysterische Atmosphäre, das Publikum schrie, als ob es ein Teil, ja, nicht nur des Stückes, sondern sogar der Schlacht wäre.

Aber warum diese Reaktion?

Einer der serbischen Autoren, die sich mit dem Ersten Weltkrieg befassten, hat es auf den Punkt gebracht: als eine Art Kosovo-Mythos, allerdings mit einem Sieg am Ende. Das ist meiner Meinung nach die beste Definition, denn die Bedeutung der Kosovo-Schlacht ist enorm, und das entscheidende Thema dort ist die Opferrolle, in die man sich selbst drängt: Die Serben sind die stolzen Opfer. Hier hat man nun eine ähnliche, opferreiche Schlacht, aber diesmal mit einem Sieg. Das war genau das richtige Amalgam für dieses historische nationale, nicht nur nationalistische, Bewusstsein. Und das kann in Krisen sehr gut benützt werden.

Könnte eine Erklärung sein, dass der unterdrückte, unter der Oberfläche brodelnde Nationalismus endlich eine Möglichkeit gefunden hat, sich Bahn zu brechen?

Ja, nationale Emotionen wurden unter den Kommunisten unterdrückt, und was Serbien betrifft gilt das besonders in Bezug auf den Ersten Weltkrieg. Das gilt als historischer Moment der Größe, des nationalen Stolzes für Serbien. In den Schulen gab es daher in der kommunistischen Zeit vielleicht zwei Unterrichtsstunden über den Ersten Weltkrieg, und dann ein halbes Jahr über den Zweiten. Es waren sogar einige Lieder aus dem Ersten Weltkrieg verboten, denn da ging es ja um serbischen Heroismus und serbische Siege. In den traditionellen Restaurants, den Kafanas, wurden diese Lieder gelegentlich nach Mitternacht oder zu Neujahr von manchen Gästen gesungen - und sie konnten sich dadurch richtig als Dissidenten fühlen, als „Freiheitskämpfer gegen die Kommunisten", einfach weil sie ein Lied aus der Zeit des Ersten Weltkriegs gesungen haben. Das war fast wie eine Revolution gegen die Partei.

Und als 1983 dann dieses Stück auf den Spielplan kam, war die Partei schon zu schwach, um etwas dagegen zu unternehmen.

So ist es. Das war schon auch ein Zeichen der geschwundenen Macht der Partei. Und dieses Theaterstück hat in einer Eruption den Bann gebrochen. Die Menschen fühlten, dass sie plötzlich sagen und singen konnten, was sie wollten.

Wären ähnliche Reaktionen auf ein derartiges Theaterstück auch heute denkbar?

Nun, da kann man nie sicher sein. Es gab vergangenen Winter ein Stück im Nationaltheater, mit dem Titel „Srpska Trilogija", basierend auf einem Roman über den ersten Weltkrieg. In einer sehr harten Kritik in „Politika" stand, die Atmosphäre sei fast so gewesen wie damals bei „Kolubarska Bitka" in den 80er-Jahren. Diese Kritik wiederum hat - in Polika - eine heftige Debatte entfacht. Die Autorin der Besprechung wurde scharf angegriffen, von Schriftstellern und Intellektuellen.

Aber was emotionalisiert die Menschen heute so bei dem Thema?

Es gibt hier auch von Seiten der Experten kaum etwas Ernst zu nehmendes über das Thema. Es gab nur diese starke Reaktion darauf, was sich in Europa abgespielt hat. Das ist für mich der klare Beweis, dass der Erste Weltkrieg als solcher gar kein Thema ist. Er wird es erst in dem Moment, wenn man ihn politisch instrumentalisieren will.

Wenn etwa ein gewisser Christpher Clark ein solches Buch schreibt....(gemeint sind die in Serbien heftig kritisierten "Schlafwandler").

Hier gilt das Gleiche: Das Buch selbst ist gar nicht wichtig. Ich bin mir auch sicher, dass das hier so gut wie niemand gelesen hat nicht einmal unter Historikern, immerhin hat es 800 Seiten und viele Fußnoten. Aber sobald es veröffentlicht war, gab es eine enorme hysterische Reaktion - vom Taxifahrer über meinen Zahnarzt bis hin zum Präsidenten. Einfach jeder hat über Clark gesprochen, monatelang. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es hier vor allem um Serbiens Position im heutigen Europa geht. Es ist eine Reaktion gegen die Integration, gegen die Europäisierung Serbiens, eine xenophobische, monolithische Reaktion gegen das Recht eines Historikers, die Geschichte anders zu denken, neue Fragen zu stellen. Das war nicht nur nationalistisch, sondern auch anti-pluralistisch, anti-demokratisch. Immer wieder konnte man folgende Frage hören und lesen: „Was tut denn jetzt unser Staat gegegen Clark?". Was für eine Frage! Was hätte denn bitteschön der Staat gegen einen Historiker zu unternehmen? Das geht den Staat doch gar nichts an! Sind die denn alle verrückt geworden? Das ist ein Historiker, und wer nicht seiner Meinung ist, soll sich hinsetzen und ein eigenes Buch schreiben - und mit Clark darüber diskutieren!

Clark beschreibt und betont im ersten Kapitel die serbische Rolle im Vorfeld des Attentats, also die Rolle der Schwarzen Hand, die er stärker betont als andere Historiker. Aber wo ist das Problem? So neu ist das auch wieder nicht.

Es gibt den ziemlich mächtigen Mythos, dass Serbien das große Opfer ist. Ja, das Land hat ein Viertel seiner Bevölkerung verloren, vielleicht sogar mehr. Aber man kann, wenn man im Mythos des „siegreichen Opfers" bleiben will, nichts in Frage stellen, schon gar darf man die Frage der Verantwortung aufwerfen: Ein Opfer kann per definitionem nicht verantwortlich sein. Es ist in etwa so, als würde man in der Türkei über den Völkermord an den Armeniern sprechen. Das geht ebenso wenig, weil die Türken müssen doch die Opfer sein. Diese Parallele kann man ziehen. In dieser mythologischen Denkweise darf man keine Fragen stellen oder die Dinge von einer anderen Perspektive aus betrachten. Denn dann reißt man den ganzen Monolithen ab, bereits mit der ersten logischen Frage. Präsident Nikolic war gewissermaßen der Anführer dieser Reaktion gegen Clark, und es ist ja bekannt, dass er sehr prorussisch ist und kein wirklicher pro-Europäer. Nikolic begann, ständig über Clark zu sprechen, und da er kaum Englisch kann und das Buch bisher nicht auf Serbisch erhältlich ist, kann er es auch nicht gelesen haben. Was Leute wie Nikolic, aber auch Historiker, von sich gegeben haben, waren nur Slogans, wie „Serbien wird nie wieder zulassen, dass es beschuldigt wird", „Schon wieder sind alle gegen Serbien", „Serbien steht wieder unter Sanktionen": Es waren exakt die Slogans der 90er-Jahre, diese - wie nennt man noch mal schnell diese Geistesstörung? - diese Paranoia!

Wenn ich Sie richtig verstehe, proklamiert die Regierung zwar öffentlich den europäischen Weg, sendet aber gleichzeitig Signale aus, in einer Art „double speak.

Das läuft zweigleisig. Es gibt da ja auch die tatsächliche Spaltung zwischen Vucic und Präsident Nikolic. Dieser wollte seinen eigenen politischen Spielraum finden. Natürlich konnte er nicht sagen, dass er gegen die Regierung und seinen politischen Ziehsohn Vucic ist, aber er konnte sagen: ich bin gegen Christopher Clark. Das ist eine der kleinen Spielwiese, die er gefunden hat. Es gab zahlreiche Historiker, die in der Debatte teilnahmen, und genau das selbe sagten wie der Präsident. Einer von Ihnen sagte: Clarks Buch und die neue europäische Einstellung gegenüber dem Ersten Weltkrieg liege daran, dass Europa sich wegen der Krise in der EU versöhnen will. Weil deshalb jeder auf gutem Fuße mit Angela Merkel sein will, ändern sie die Einstellung gegenüber der deutschen Verantwortung. Weil sie deutsche Finanzhilfe wollen. Deshalb seien sie bereit historische Fakten zu verkaufen.

Eine andere Frage, die Sie immer wieder aufwerfen, ist die Behandlung des Ersten Weltkriegs in den Schulbüchern. Was sind da die problematischsten Aspekte?

Dass die Interpretationen des Ersten Weltkriegs aus der Literatur, zum Beispiel aus dem besagten Theaterstück, direkt in die Schulbücher kamen und die Historigraphie einfach übergangen haben. Es gibt ernst zu nehmende wissenschaftliche Literatur, etwa von Andrej Mitrovic, darüber, aber sie wird von den Autoren der Schulbücher einfach nicht in Betracht gezogen. Die Schulbücher halten sich hingegen an dieses mythologische Narrativ aus der Literatur. Und die zentrale Idee dieses Narrativs ist biblischen Ursprungs, es geht um das Schicksal Christi, das auf das serbische Volk umgelegt wird. Denn eine Metapher, die in allen Schulbüchern zu finden ist, ist Golgatha und Auferstehung. Das ist einfach überall. Dies gibt den Menschen, dem Volk, die das Leben Christi replizieren, natürlich einen Sonderrolle (gebraucht das deutsche Wort „Sonderweg").

Das formt dann die Einstellung der "einfachen" Bürger?

Die Leute haben das Gefühl, dass dieses Narrativ über den ersten Weltkrieg irgendwie die Wiege ihrer nationalen Identität ist. Und wenn das gefährdet wird, sei es durch Clarke oder einfach dadurch, dass heute neue Fragen gestellt werden, dann ist das, als ob die Nation als solche angegriffen wird. Wenn Du versuchts, dieses Narrativ anzugreifen, greifst Du damit die Nation an. Ich sage gar nicht, dass die Leute sich dessen bewusst sind, ich glaube eher, dass das unbewusst, unkontrolliert geschieht. Dass einfach jeder in die Attacken auf Clark einstimmte. Und niemand sagte: OK, schauen wir uns mal die Fakten an: Was wissen wir über die Schwarze Hand? Das ist auch von serbischen Historikern nachgewiesen: Die Schwarze Hand HAT das Attentat vorbereitet.

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