Wien, 28. Juni 1914: Es war ein schöner Sommertag

Wien um 1900.
Wien um 1900.(c) Imago
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Als sich vor 100 Jahren die Nachricht vom Tod des Thronfolgers in Sarajewo verbreitet, sitzen viele Wiener in Ausflugslokalen und Schanigärten.

Der 28. Juni 1914, ein Sonntag, ist in Wien ein glühend heißer Sommertag. "Um die Mittagszeit liegt die ganze Stadt wie im Schlafe; man sieht nur wenige Passanten auf den Schattenseiten der Straßen, und die ganze Innere Stadt ist wie ausgestorben", schreibt die "Neue Freie Presse" einen Tag später. "Nur die überfüllten elektrischen Straßenbahnen und Omnibusse, viele Automobile mit hell und lustig gekleideten Menschen beweisen, daß die Stadt lebt, daß aber alles sich in das kühle Dunkel des eigenen Heims zurückgezogen hat oder die Flucht nach der waldreichen Peripherie ergreift."

Edgard Haider beschreibt den letzten "normalen" Tag in seinem Buch "Wien 1914. Alltag am Rande des Abgrunds" so: "Damen in sommerlich eleganten Ensembles lassen sich von ihren Kavalieren in noblen Automobilen oder Fiakern spazieren fahren, schlendern am Arm ihrer Begleiter die Prater Hauptallee oder Parkwegen entlang, mit einer Hand den seidenen Sonnenschirm vors Gesicht haltend. Es wäre undamenhaft, würde die starke Sonne bäuerisch wirkende Bräune im fein gepuderten weißen Gesicht hinterlassen. In den Ausflugslokalen und Schanigärten ist kein Platz frei."

"Langsam entsteht ein dumpfes, furchtbares Gerücht"

Doch die Idylle trügt. Um 14 Uhr entsteht plötzlich "hie und da vor einem öffentlichen Gebäude, vor den Ministerien, an dieser und jender Straßenecke eine gewisse Unruhe und Nervosität", wie die "Neue Freie Presse" schreibt. "Leute werfen sich in vorbeifahrende Automobile, die Telephone in den Cafés werden gestürmt, und langsam entsteht ein dumpfes, furchtbares Gerücht, daß niemand glauben will, niemand zu glauben wagt."

Nur eine Stunde später schwärmen die ersten Boten mit Extraausgaben der Zeitung aus. "Mit weit aufgerissenen Augen stehen die Menschen da, beugen sich zu zehn und zwanzig über die Papierblätter und murmeln dumpfe Rufe des Entsetzens. Und bevor noch die glühend heiße Sonne als dunstiger Feuerball hinter dem Horizont verschwunden ist, weiß es ganz Wien, und ganz Wien stellt den Lärm, das sonntägliche Jauchzen, jede laute Lebensäußerung ein."

Zweig: "Es mußte sich etwas ereignet haben"

Der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig beschrieb den 28. Juni 1914 in seinem Buch "Die Welt von gestern" ähnlich: "In hellen Sommerkleidern, fröhlich und unbesorgt, wogte die Menge im Kurpark vor der Musik. Der Tag war lind; wolkenlos stand der Himmel über den breiten Kastanienbäumen, es war ein rechter Tag des Glücklichseins." Zweig selbst las gerade ein Buch, las im Lesen inne, "als plötzlich mitten im Takt die Musik abbrach. (...) Ich spürte nur, daß die Musik mit einemmal aussetzte. Instinktiv sah ich vom Buche auf. Auch die Menge, die als eine einzige flutende helle Masse zwischen den Bäumen promenierte, schien sich zu verändern; auch sie stockte plötzlich in ihrem Auf und Ab. Es mußte sich etwas ereignet haben."

Die Reaktionen auf dieses Ereignis sind sehr unterschiedlich. Der Sozialist Julius Braunthal, der bei einer Parteiveranstaltung von dem Attentat in Sarajewo erfuhr, erinnerte sich später daran, dass keiner mit Bedauern an den Tod des Thronfolgers dachte, da er "von niemandem geliebt" wurde. Edmund Glaises von Horstenau wiederum erinnerte sich an die Reaktion seiner Mutter: "Meine Mutter, mit dem Instinkt der Frau, rief sofort entsetzt: 'Das ist der Krieg!' Ich muß gestehen, daß ich nicht so weitsichtig war, und wollte ihr ihre Besorgnis ausreden."

"Und dann wird wieder Ruhe sein"

Der Journalist Julius Deutsch befindet sich auf einer Wanderung, bei der er den Ökonomen Ludwig von Mises trifft. Dieser teilt ihm mit, dass in Sarajewo ein Attentat auf Franz Ferdinand verübt worden sei. Ungläubig reist er nach Wien zurück, in die Redaktion der "Arbeiter Zeitung". Dort stellt er verwirrt fest, dass es "keine Spur von Aufregung" gebe.

Chefredakteur Friedrich Austerlitz glaubt nicht an einen Krieg: "Glauben Sie, daß einer der Höfe Europas - und die Höfe regieren doch den Kontinent - an die Seite von Königsmördern treten werde? Serbien wird sich sehr beeilen, die Mörder zu bestrafen, um nicht selbst bestraft zu werden. Und dann wird wieder Ruhe sein." Wie heute jeder weiß, irrte Austerlitz.

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