Sinn für das Grau und das Grauen

Sprachlich präzise und scharf beobachtet schildert Christl Greller die Verwerfungen des Alltags und die biografischen Brüche. Unheilvolle Kunststücke.

Christl Greller

Im Narrenturm

Erzählungen. Vorwort von Erich Schirhuber. 284S., brosch., €21,50 (Edition
Roesner, Maria Enzersdorf)

In Christl Grellers Erzählung „Schwalbenland“ erleben die Kinder, „die auf Besuch hier sind“, das wahre Landleben: Die Oma schlachtet die Hühner, die Katze frisst die halbtote Maus, die Schwalben betonieren einen Spatzen in ihrer Nisthöhle ein. Die Autorin dosiert denSchrecken subtil, aber im Vollbild gerät diese Geschichte zu einer Vertreibung aus dem Paradies. Der Titel von Grellers jüngstem Erzählband – „Im Narrenturm“ – deutet schon an: Anheimelnd wird die Lektüre nicht.

In „Stiegen, Häuser“ – auch diese kurze Erzählung von Greller wurde vor wenigen Jahren mit einem Literaturpreis ausgezeichnet – liegen vier Menschen wach und lauschen dem Treiben im Stiegenhaus, so dieses noch nicht in Schutt und Trümmern gelegt ist. Viermal in den Betten wälzen, zunehmend albtraumhaft, an den Standorten Wien, Haifa, Beirut und Ramallah. Dies liest sich wie eine glasklare, zunehmend verstörende Eskalation. Krieg, plastisch gemacht in wenigen Sequenzen.

In „Sommer der Insekten“ schließlich lässt die Bewohnerin eines verwahrlosten Schrebergartens einen Wespenangriff über sich ergehen. Die Einsame und Verwirrte gibt sich – „ausgebreitet wie zu einer Kreuzigung“ – den Wespen regelrecht hin, denn es sind die einzigen Wesen, zu denen sie in ihrem Umfeld noch eine Art Kontakt hat. Sie summen und stechen, bis sich die Szene im Dunkel der Nacht verliert. Greller setzt einen feinen Schlusstrich in diesem streng komponierten Bild – es zeigt die Überschreitung jeglicher Normalität. Wie in vielen ihrer Erzählungen lässt die Autorin hier den Ausgang offen, zumindest bleibt er diffus. Und wie andere Miniaturen in diesem bemerkenswerten „Narrenturm“ gehört diese zu den besonders unheilvollen Kunststücken.

Packend ist dieses Schreiben über den lauernden Wahnsinn in uns selbst, über diese latenten Alltagsgefahren. Es braucht, so zeigt Greller, oft nur kleine Ereignisse, um die große Lebensordnung auszuhebeln. Und selbst harmlose Illusionen sind da, um durchkreuzt zu werden: Locker zeigt sie dies in der Schilderung einer früheren Prater-Sensation, „Das Nacktbad Bathsebas“. Das Publikum schwitzt nicht mehr: „So etwas Unerotisches hatte man noch nie gesehen. Dazu auch noch so kurz“.

Ein besonderer Sinn für das Grau und das Grauen, die Zwischenzonen, in denen sich die gesellschaftliche Orientiertheit auflöst, prägen diese ausgezeichneten Texte der Autorin. Greller hat sich erst 1995, nach einer Karriere als Texterin und Konzeptionistin in der Werbebranche, der Literatur zugewandt, einen Roman („Nachtvogeltag“), viele Gedichte und Erzählungen geschrieben. Ihre Methode der Verdichtung und Verknappung scheint sich gut zu eignen, um die Verwerfungen im Alltag und die Brüche in Biografien zu fassen. Sprachlich präzise und scharf beobachtet sind diese Metamorphosen. Hier wird nicht kalt protokolliert, doch auf Distanz agiert, vielleicht rühren uns die Szenerien gerade deshalb so an.

Vor allem weil die größten Gewissheiten schwinden: Natur wird dämonisch. Da bleibt ein Fahrrad in der Kargheit des schottischen Hochmoors zurück – wo aber bleibt die Radfahrerin? Freundschaft wird Tod: Das Herrl kommt ins Spital, und sein Hund geht weg von zu Hause. So einfach, so schicksalhaft. Abgrund braucht bei Greller nur einen Halbsatz, er reicht, um all die Konsequenzen anzudeuten. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.06.2014)

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