Lebenskunst eines Monomanen

Thomas Bernhard neu lesen: Hans Höllers Plädoyer gegen festgefahrene Lektüreklischees.

Der Titel wirkt wie einer Marketingstrategie des kleinen oberösterreichischen Verlags entsprungen. Denn was könnte es noch Unbekanntes von diesem wohl besterforschten Schriftsteller Österreichs geben, wo doch jede mündliche und schriftliche Äußerung des Obernathaler Landwirts, so könnte man den Eindruck gewinnen, in dem stetig genährten – und erst zum 25. Todestag im Februar dieses Jahres wieder angeschwollenen – Editionsfluss inzwischen publik gemacht worden sein dürfte?

Der starke Titel generiert Erklärungsbedarf, dem der Salzburger Germanist Hans Höller im Vorwort auch nachkommt. Gleich im ersten Satz gibt er bekannt, dass er nichts wisse, „was sonst niemand weiß“. Und selbst wenn er ebensolches wüsste, wäre das für die Bernhard-Community längst nichts Neues mehr, ist „Der unbekannte Bernhard“ doch eine Versammlung von über die Jahre meist in Fachjournalen publizierten (und für das Buch überarbeiteten) Aufsätzen. Immerhin zwei der neun Beiträge sind Erstveröffentlichungen und widmen sich wenig bekannten Texten Bernhards, „sodass sie dem Titel am ehesten gerecht werden“, wie Höller konzediert.

Das wenig Bekannte ist es denn auch, was Höller um- und antreibt: Dabei deckt er sozialistische und kommunistische Spuren im Œuvre auf; versucht das „Rätsel der Entstehung von ,Frost‘“ mit Nachlassmaterial zu erhellen; zeigt, wie sehr der „Gedanke der eigenen Nichtigkeit“ bei diesem Autor, der nicht für Selbstbescheidung bekannt ist, Bedeutung erlangte; oder er konstatiert eine konsequente Ausrichtung auf die „Wolfszeit“ des 20.Jahrhunderts, die Katastrophen, die den „österreichischen Gedächtnislandschaften“ eingeschrieben sind – diese Unbedingtheit, die „nicht vergehenden Spuren und weiter wirkenden Traumen des Nazi-Terrors“ sieht Höller als eine analytische, Diskurse offenlegende Arbeit Bernhards an, die hier in ihrer ganzen Konsequenz und Werktiefe ausgelotet wird.

Am Glück orientierte Lebenskunst

Höllers Buch ist ein Plädoyer für das Durchbrechen der (eigenen) festgefahrenen Lektüreklischee. Die „Kunst, Bernhard zu lesen“, bestehe darin, Widerstand zu leisten gegen die „absolut gesetzten Oppositionen“, gegen die Identifikation des Werks mit der „zwanghaften Mechanik“ der monomanischen Geistes-Diskurse. Diese Widerständigkeit ermöglicht dann, Höller folgend, Entdeckungen wie die erzählerischen Versuchsanordnungen eines Umgangs mit der „Idee einer am Glück orientierten Lebenskunst“ oder der großen Bedeutung von Freundschaft in Bernhards Büchern.

Manchmal wünscht man sich, der Verleger Raimund Fellinger hätte Hans Höller zu einer längeren durchgängigen Untersuchung überredet, die Wiederholungen, die die Aneinanderreihung von Aufsätzen mit sich bringt, sind dem Lesevergnügen nicht zuträglich. Dabei hätte man den Autor gleich noch überreden können, das Wort „Weltliteratur“ sparsamer einzusetzen und einige Tautologien („literarische Ebene des Roman-Textes“, „soziale Empathie“) zu beseitigen. Aber das sind Bagatellen.

Hans Höller ist ein leidenschaftlicher Bernhard-Leser und -Deuter, und diese Leidenschaft überträgt sich auf den Lesenden. Man bekommt Lust auf Relektüren („Die Billigesser“!) – und auf die Entdeckung seines eigenen unbekannten Bernhard. ■

Hans Höller

Der unbekannte Thomas Bernhard

164 S., geb., €24,90 (Korrektur Verlag, Mattighofen)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.06.2014)

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