Erdberg: Backstein, Beton und Brache

Unterwegs mit leidenschaftlichen Fußgängerinnen durch die Niederungen und zu Höhepunkten zwischen Erdberg und dem Hauptbahnhof.

Gleich hinter der lauten Schlachthausgasse steht man unversehens in der Stadtwildnis, einem schmalen, wuchernden Streifen mit Wildrosen, Ringlottenbäumen, Katzen. „Hier sieht man noch die alte Mauer am Donauprallhang“, erklärt Jine Knapp das kleine „Naturwunder“ – eine Gstätten im besten Sinne. Knapp ist Buchautorin und Grafikdesignerin, gemeinsam mit Doris Rittberger hat sie „Wild Urb“ ins Leben gerufen, eine schnell wachsende Gemeinschaft von Zufußgehern, die die Zwischenräume, Übergangszonen, ausfasernden Ränder genauso wie die baukulturelle Substanz einer Stadt schätzt.

Unerwartete Übergänge

Einer ihrer Streckenvorschläge – im neuen Buch, „Wien geht2“, beschrieben – führt gleich durch mehrere Areale, die in den letzten Jahren bei Stadtplanern und mitunter auch Stadtplanungskritikern am Radar waren. TownTown, Neu Marx, die Aspanggründe (Eurogate) und das Quartier Belvedere beim Hauptbahnhof gehören zu diesen „reformierten Vierteln“, denen man sich einmal auf dem Fußweg nähern sollte. Denn es gibt, unerwartet, immer wieder Übergänge, auf denen man schneller unterwegs ist als motorisiert: So findet man einen kurzen Weg durch die Erdberger Bürohochhausödnis, marschiert weiter Richtung Neu Marx, einem lichteren, weiteren Arbeitsumfeld, wo es auch an Werktagen beschaulich zugeht. Ein schöner Gastgarten im Backsteinbestand döst unter Sonnenschirmen, um die Ecke stehen die sanierten Rinderhallen als Überbleibsel der ursprünglichen Nutzung des Gebietes: „Vor der Weltausstellung 1873 wurden hier Schlachthof und Verarbeitung angesiedelt. Noch heute gibt es da die Berufsschule für Fleischhauer“, erzählt Knapp. Sie und Rittberger weisen auch gern auf die optischen Kontraste hin, die sich beim Gehen und Schauen ergeben – etwa alte Industriearchitektur vor dem Hintergrund des T-Center-Tankers von Günther Domenig. Die Stufen gleich daneben hinauf, steht man plötzlich wieder im Verkehr. „Dahinten liegt der Biedermeierfriedhof. Dort haben früher viele Mitarbeiter mittags ihre Wurstsemmeln gegessen, weil er lange die einzige Grünoase in der Gegend war“, erzählt Knapp belustigt.

Im Stop-and-go-Modus werden Details interessant: „Der Wildganshof ist der letzte Gemeindebau mit Teppichklopfstangen. Die Bewohner haben sich dafür eingesetzt.“ Und dann zeigen Knapp und Rittberger auf eine Hinterhofzeile, deren vorderes Gegenüber abgerissen worden ist: „Die Zinshäuser haben vermutlich nach Jahrzehnten erstmals Sonnenlicht gesehen.“ Sie stehen schon auf den Aspanggründen, einem früheren Bahngelände mit tragischem Schicksal – von hier wurden über 40.000 Juden deportiert.

Eine Brache den Bienen

Neugier leitet die beiden Wild Urbs. Und die Technik: „Oft schaue ich auf Google Maps, welches Stadtgebiet interessant sein könnte“, erklärt Knapp. Reizvoll ist die Route vom Kardinal-Nagl-Platz bis zum Hauptbahnhof ja – durch das Hybride: Gründerzeit wechselt mit Zwischenkriegszeit, schlichte Büroarchitektur mit weniger schlichten Wohnbauprojekten. Grün liegt dazwischen, nicht zuletzt der Schweizergarten gegen Ende der Tour. Und zwischen den Baustellen Brachen, die noch eine Weile den Bienen und Hasen gehören.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.06.2014)

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