Moral ist Gefühlssache

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Ein Versuch bestätigt: Bei Fragen der Verteilung ist den meisten Menschen Gerechtigkeit wichtiger als Effizienz.

Sie fahren einen mit hundert Kilo Lebensmittel beladenen LKW in ein Hungergebiet. Wenn Sie eine lange Route wählen und alle Hungernden versorgen, dann verderben 20 Prozent der Lebensmittel. Wenn Sie einen kürzeren Weg wählen, dann verlieren Sie nur fünf Prozent der Nahrung, aber nur 50 Prozent der Hungernden werden gespeist. Wie entscheiden Sie sich: für Gerechtigkeit (gleiche Verteilung) oder für Effizienz?

Diese Entscheidungsfrage stellen Neurowissenschaftler um Ming Hsu (Illinois) an den Beginn einer Arbeit (Science, 8.5.), in der sie genau diese Art von Dilemma erforschen – und zwar nicht theoretisch, sondern an Versuchspersonen. Diese mussten sich nicht nur entscheiden, sondern es wurde auch versucht, das zu messen, was man „neuronale Korrelate“ ihrer Entscheidungen nennen kann: über Magnetresonanzspektroskopie, mit der man zumindest sehen kann, welche Hirnregionen gerade besonders aktiv sind.

Real existierende Waisenkinder

Die Versuchspersonen mussten keinen Lastwagen fahren, sondern nur via Bildschirm Entscheidungen treffen – allerdings über das Schicksal von 60 wirklich existierenden Waisenkinder in Uganda, die ihnen auch bildlich nähergebracht wurden. (Ob die Entscheidungen wirklich umgesetzt werden, verschweigt die Arbeit, es ist nicht anzunehmen.) Zuerst erfuhren die Testpersonen, dass jedes Waisenkind fünf Dollar erhält, wofür es sich 24 Mahlzeiten kaufen kann. Dann wurde ihnen erklärt, dass sie einigen Kindern wieder Geld entziehen müssten, damit weitere Kinder ernährt werden können.

Das Dilemma war hier: Entweder man streicht nur einigen wenigen Kindern Geld, wobei allerdings insgesamt wenig gestrichen wird. Oder mehr Kinder erleiden (kleinere) Einbußen, dafür ist die insgesamt eingesparte Summe größer. Auch hier also: Effizienz oder Gerechtigkeit?

Die große Mehrheit entschied sich, wohl gerührt durch drastische Darstellung, für die Gerechtigkeit, bei den weiblichen Teilnehmern waren es noch mehr. Leicht fiel die Entscheidung kaum jemandem, manche Teilnehmer sagten Sätze wie: „Das ist das schlimmste Experiment, an dem ich je teilgenommen habe!“

Gefühle in der Inselrinde

Bei den Entscheidungen für mehr Gerechtigkeit war besonders die Inselrinde im Großhirn aktiv: In dieser werden körperliche Empfindungen und Gefühle verarbeitet, sie ist z.B. bei Hunger und Entzugserscheinungen, aber auch bei Ekel oder Freude stark involviert. Bei der Abwägung der Effizienz war dagegen die Aktivität im Putamen erhöht – eher überraschend: Dieser Teil des Großhirns ist sonst u.a. für automatische Bewegungen zuständig. Bei der Entscheidung ist dann vor allem der Nucleus caudate aktiv, der bei willentlich gesteuerten Bewegungen, aber auch bei Lernprozessen mitwirkt.

Die starke Beteiligung der Inselrinde bei Entscheidungen für Fairness jedenfalls spricht gegen eine Pflichtethik im Sinne Kants – und auch gegen eine utilitaristische Moral, bei der ja die Summe des Glücks respektive Unglücks entscheiden soll, die eine Handlung bewirkt. „Die Vernunft kann nicht Quelle unserer Begriffe des moralisch Guten oder Bösen sein“, sagte David Hume. Zumindest nicht primäre Quelle: Das kann man aus obigem Experiment lesen. Es gibt viele ähnliche.

In vielen Varianten getestet wurde etwa ein Paradoxon: Die meisten Menschen fänden es moralisch okay, eine Weiche so zu stellen, dass ein bereits fahrender Zug nicht fünf Personen, sondern nur eine Person überrollt und tötet; die wenigsten aber würden einen Knopf drücken, der bewirkt, dass ein dicker Mann auf die Schiene fällt, dabei stirbt, aber verhindert, dass der Zug fünf Menschen tötet. Rational ist das schwer zu argumentieren. Moral ist eben Gefühlssache.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.05.2008)

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