Bagdad rüstet sich gegen die Terrormiliz

IRAQ UNREST MILITIA
IRAQ UNREST MILITIAAPA/EPA/ALI ABBAS
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Die sunnitische Terrorgruppe Isil steht vor den Toren der irakischen Hauptstadt. In Sadr City rekrutieren Schiiten im großen Maßstab Soldaten. Vor den radikalen Kämpfern fürchtet sich hier niemand.

In Sadr City herrscht höchste Sicherheitsstufe, seit der Islamische Staat im Irak und der Levante (Isil) vor den Toren Bagdads angekommen ist. In diesem Stadtteil im Nordosten der irakischen Metropole wohnen ausschließlich Schiiten: insgesamt drei Millionen, fast die Hälfte der Einwohner Bagdads. Schiiten sind für die ultrakonservative, sunnitische Isil-Miliz Ungläubige, die man bevorzugt tötet. Zu Hunderten exekutierte die extremistische Gruppe Schiiten im Laufe ihres Siegeszugs durch den Irak, der mit der Einnahme der Stadt Mosul am 10. Juni begonnen hatte. Es ist eine Rivalität zweier Hauptströmungen des Islam, die auf einen Streit um die rechtmäßige Nachfolge des Propheten Mohammed vor über 1300 Jahren zurückgeht.

„Von uns aus sind es zu den Stellungen von Isil nur 45 Kilometer“, sagt Abu Aki unweit der großen Moschee von Sadr City, vor der jeden Freitag Zehntausende von Menschen auf offener Straße beten. „Wir haben unsere Augen überall, kontrollieren jeden Wagen genau, der in unser Viertel fahren will, um Anschläge zu vermeiden.“ In Bagdad explodieren beinahe täglich Autobomben, die jeweils Dutzende Menschen töten. Abu Aki nennt sich Medienoffizier, aber sein Team ist für die Sicherheit im Dienst der Mehdi-Armee zuständig. Die Miliz hat Sadr City fest in der Hand und folgt den Befehlen von Muktada al-Sadr, einem der einflussreichsten religiösen Führer des Irak. Der schiitische Geistliche wurde weltweit bekannt, als er nach der US-Invasion 2003 den „Besatzungstruppen“ Washingtons den Kampf ansagte.

„Wir haben viele US-Soldaten getötet“, erinnert sich Abu Aki stolz. „Sie wollten mehrfach nach Sadr City eindringen, aber mit Heckenschützen und Panzerabwehrraketen konnten wir das verhindern – so lange zumindest, bis sie die Luftwaffe einsetzten.“ Sadr City gilt bis heute als Zentrum eines radikalen, schiitischen Islam – und Muktada al-Sadr ist der Geistliche, der ihn repräsentiert.

Nasse Tücher. Der 43-Jährige stammt aus Najaf, der drittheiligsten Stadt für Schiiten im Süden des Irak. Im Februar dieses Jahres hatte al-Sadr seinen Rückzug aus die Politik angekündigt. Aber diese Woche meldete er sich aus Najaf zurück, als er angesichts des Vormarschs der Isil die Bildung einer nationalen Einheitsregierung forderte; nach den Wahlen im April tritt das irakische Parlament am 1. Juli zusammen, um einen neuen Präsidenten zu wählen. Bei seiner Rede sandte al-Sadr gleichzeitig eine Warnung an Isil. Man werde den „Boden unter den Füßen dieser Ignoranten und Extremisten erbeben lassen“.

Am Freitag strömen wie üblich tausende Gläubige zum öffentlichen Gebet. Sie sind mit Regen- und Sonnenschirmen ausgerüstet oder tragen nasse Tücher auf dem Kopf. Die Sonne ist bei 46 Grad im Schatten kaum auszuhalten. „Alle Zufahrten nach Sadr City sind seit gestern Abend gesperrt“, erklärt Abu Aki. „Heute sind 800 Mann für die Sicherheit zuständig.“ Jeder einzelne Besucher wird nach Waffen oder Sprengstoff untersucht, bevor man sie auf der al-Schuada-Straße ihren Gebetsteppich ausbreiten lässt.

Die engsten Mitarbeiter Abu Akis treffen sich in einer behelfsmäßig aufgebauten Hütte auf dem Gehsteig. Alle sind erfahrene Kämpfer der paramilitärischen schiitischen Mehdi-Armee und erzählen ebenfalls gern und unbekümmert von alten Zeiten. Über ihre „unzähligen erfolgreichen Anschläge“ auf US-Truppen und die Gefechte, die sie sich mit ihnen geliefert haben. „Sollten die Amerikaner wieder auf die Idee kommen, in den Irak einzugreifen, werden wir sie wie früher attackieren“, meint Mohammed mit einem breiten Grinsen, als würde es nichts Schöneres auf der Welt geben, als Amerikaner zu töten. Hier in Sadr sieht man sich als Opfer der Okkupationsmacht. Das Weiße Haus gilt als Inkarnation alles Bösen, die Schaltzentrale des westlichen Imperialismus, die sich mit Israel verschworen hat, um die Welt zu regieren.

Vor Isil fürchtet sich hier niemand. Es wird eine Reihe von Fotos der Militärparade der Mehdi-Armee herumgereicht, die vor einer Woche in Sadr City stattfand. Man wollte Stärke und Entschlossenheit zeigen. „Hier sehen Sie, das sind Katyusha-Raketen“, sagt Mohammed. „Aber wir haben noch ganz andere Waffentypen. Schwere Artillerie und sogar Panzer.“ Die seien jedoch gut versteckt, wie er erläutert. „Wir sind bereit, gegen Isil zu kämpfen, könnten aber auch ganze Länder erobern.“

Bisher aber habe Führer Sadr noch keinen Einsatzbefehl gegeben, um gegen die sunnitischen Extremisten der Isil vorzugehen. „Wir haben die Aufgabe, alle heiligen Stätten und unseren Stadtteil zu beschützen, aber nicht an die Front zu ziehen.“ Sollte al-Sadr aber befehlen, sei man bereit, seinen Anweisungen sofort und bedingungslos zu folgen.

Freiwillige gegen Isil. Gegenüber, auf der anderen Straßenseite befindet sich eine Registrierstelle für Freiwillige, die bei der Mehdi-Armee gegen Isil kämpfen wollen. „Täglich kommen etwa tausend“, behauptet einer der Männer am langen Tisch, die die Anmeldeformulare ausfüllen, „heute beim Freitagsgebet sind es üblicherweise mehr.“ Alle Freiwilligen würden nach ihren Qualitäten und Sicherheitsaspekten überprüft, bevor sie aufgenommen werden, sagt Abu Aki. „Ausgebildet werden die Neurekruten in eigenen Trainingslagern der Mehdi-Armee.“

Von einer Hilfe des Iran will Abu Aki unterdessen nichts wissen, obwohl bekannt ist, dass die Islamische Republik die Miliz mit Militärberatern und Waffen großzügig unterstützt. „Man kratzt sich am eigenen Körper am besten immer selbst“, meint Abu Aki schmunzelnd und fährt sich dabei über seinen dicken Bauch. Hintergrund der Massenrekrutierungen ist eine Fatwa von Ayatollah Ali al-Sistani, der obersten schiitischen Autorität im Irak. Nur drei Tage nach dem Einfall von Isil rief der 83-Jährige alle „gesunden Iraker“ auf, ihr Land zu verteidigen.


„Der Premier muss gehen.“
Ali Kerbali ist mit seinem großen Regenschirm zum Freitagsgebet nach Sadr City gekommen. Sein weißer Turban auf dem Kopf weist ihn als religiösen Scheich aus. „Wir wollen eine Botschaft des Friedens senden“, sagt Kerbali. „Greift uns nicht an, denn wir sind bereit, zu kämpfen und unsere Leute zu beschützen.“ Im Anschluss an das Gespräch lässt sich der Scheich sofort in eine der Freiwilligenlisten eintragen. Beim Gebet sitzt Kerbali in der ersten Reihe, ganz in der Nähe von Ibrahim Moahmmed al-Talakani. Er ist einer der beiden Repräsentanten und Berater von Muktada al-Sadr in Bagdad. Er hoffe auf eine nationale Einheitsregierung, sagt er. Dabei ist er sich sicher, dass der noch amtierende Premierminister Nuri al-Malaki nicht mehr für eine weitere Amtsperiode gewählt wird. „Ja, er muss gehen, so Gott will.“

Auch al-Talakani, dessen schwarzer Turban ihn als einen Nachfahren der Familie des Propheten Mohammed ausweist, will von einem Einsatzbefehl für die Mehdi-Armee gegen Isil nichts wissen. Er stellt klar, dass die Miliz unabhängig von der irakischen Armee kämpfen würde. „Wir nehmen keine Befehle des Militärs entgegen“, versichert er. „Schuld an dieser Misere haben nur die USA, die mit ihrer inhumanen Besetzung des Irak extremistische Elemente wie Isil kreiert haben.“

Im Bagdader Stadtteil al-Kardara treffen wir auf eine ganz andere schiitische Miliz. Sie ist Premierminister al-Malaki treu und kooperiert mit der ihm nahestehenden bewaffneten Gruppierung der Asaib Ahl al-Haq. „Wir haben al-Malaki wiedergewählt und wir halten zu ihm“, sagt Scheich Raad al-Kafaji, der Führer eines großen Stammes im Irak. Von einer Rivalität mit al-Sadr und der Mehdi-Armee will al-Kafaji nichts wissen. „Wir sind alle eine Familie, die Differenzen haben mag“, beginnt er im honorigen Ton. „Aber wenn das gemeinsame Haus angegriffen wird, legt man seine Meinungsverschiedenheiten beiseite.“ Die Terroristen würden keinen Unterschied machen: „Sie wollen alle Schiiten töten.“

Die Basis der al-Kafaji-Miliz ist zugleich Rekrutierungszentrum. 250 Männer würden täglich in die Trainingszentren der irakischen Armee geschickt. „Wir haben vollstes Vertrauen in die Armee“, sagt Scheich al-Kafaji, der selbst über fünfzehn Jahre als Militär unter Saddam Hussein diente. Der Verlust von Mosul sei nicht die Schuld der Soldaten gewesen, erklärt der Scheich, sondern das Resultat einer Verschwörung. „Die Schuldigen müssen dafür noch bestraft werden.“ Freudestrahlend berichtet der Scheich zum Abschluss über neue Waffenlieferungen aus Russland. „Sie haben uns MiG-Kampfflugzeuge und Luft-Boden-Angriffsmaschinen vom Typ Suchoi geliefert.“ Es seien keine ultramodernen Maschinen, aber für Isil würde es wohl reichen. Panzer vom Typ T-72 habe man ebenfalls bekommen.

Folter mit Bohrmaschinen. Während die schiitischen Milizen in Bagdad sich aufrüsten und neue Rekruten akquirieren, geht in den sunnitischen Teilen der Hauptstadt die Angst um. „Wir werden seit vier Jahren bereits verfolgt“, behauptet Mustafa Abdullah und erzählt von verschwunden Freunden, Folter mit Bohrmaschinen und brutalen Morden an Sunniten. „Seit Isil im Irak auf dem Vormarsch ist, hat sich die Situation für uns jedoch noch verschlimmert“, fügt er an. Jeden Augenblick könne man in ein Auto gezerrt werden und auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Abdullah will mit einem Ausländer nicht gesehen werden und spricht nur versteckt im Wagen. „Ich will denen keinen Anlass zur Verhaftung liefern.“

Wer die Übeltäter sind, weiß Abdullah nicht. „Sie tragen Militäruniformen und müssen zur Regierung gehören, sonst könnten sie das alles ja nicht machen.“ Abdullah hofft, dass er von den Truppen befreit wird, die vor den Toren Bagdads stehen. Er nennt sie „Revolutionäre“, die mit Isil so gut wie nichts gemein hätten. „Isil ist nur eine Propaganda der Regierung. In Wirklichkeit spielen sie eine völlig untergeordnete Rolle.“ Sollte sich die Situation für die sunnitische Bevölkerung weiter verschlechtern, überlegt Abdullah schon, sich den „Revolutionären“ anzuschließen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.06.2014)

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