Demograf Münz: "Kann keinen Ruhestand mit 58 Jahren geben"

Demograf Rainer Münz
Demograf Rainer Münz(c) Clemens Fabry
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Die Lebenserwartung steigt, die Anreize für Junge, Kinder zu bekommen, fehlen. Demograf Rainer Münz plädiert für eine Anhebung des Pensionsalters. Ein Betätigungsfeld sieht er für Ehrenamtliche in der Pension.

Die Bevölkerungspyramide ist längst keine Pyramide mehr, in Österreich leben immer mehr ältere und immer weniger junge Menschen. Können wir dieser Entwicklung noch entkommen?

Rainer Münz: Die klassische Alterspyramide gibt es nicht mehr. Das ist grundsätzlich positiv. Denn die Pyramide entstand ja, weil Menschen in jedem Lebensalter verstarben. Die gute Nachricht ist: Wir werden heute älter. Unsere Lebenserwartung steigt jedes Jahr um 2,5 bis drei Monate. Allerdings ist die Zahl der Kinder seit 30 Jahren konstant niedrig – im Schnitt 1,5 Kinder pro Familie. Und zwar unter allen möglichen Regierungskoalitionen und deren Ambitionen in der Familienpolitik.

„Geld zeugt keine Kinder“, haben Sie bezüglich der Familienpolitik einmal gesagt.

Ich bezweifle, dass höhere Geldleistungen, Beihilfen oder Steuererleichterungen für Familien zu mehr Geburten führen. Das lässt sich an einem Gedankenexperiment für Berufstätige testen: Wie viel müsste man mir pro Monat zahlen, damit ich zu Hause bleibe und Kinder bekomme?

Lässt sich die Frage wirklich so stellen?

Familienbeihilfen und andere Zahlungen sind eine finanzielle Hilfe für alle Eltern. Aber sie ersetzen niemals ein Erwerbseinkommen. Wer also wegen der eigenen Kinder auf Beruf und Karriere verzichtet, bekommt diesen finanziellen Nachteil vom Staat nicht ersetzt. Zudem enden die Zahlungen des Staates, sobald die Kinder erwachsen sind. Der Karrierenachteil, ein niedrigeres Einkommen und eine bis zum Tod kleinere Pension bleiben jedoch auf Dauer. Auch eine sehr großzügige Familienpolitik kann dafür nicht entschädigen. Bei niedrig qualifizierten Frauen, die wenig verdienen, sind die Folgen geringer. Die Folgen einer Babypause spüren vor allem gut ausgebildete Frauen. In dieser Gruppe ist deshalb auch die Kinderlosigkeit am höchsten.

Und die Antwort?

Wir könnten die Belastungen, die sich durch Kinder ergeben, zwischen Männern und Frauen etwas anders verteilen. Derzeit kümmern sich Frauen deutlich mehr um eigene Kinder und verzichten damit eher auf Einkommen: weil sie eine längere Pause machen oder in Teilzeit arbeiten. Früher sahen viele Frauen ihre Männer als Ernährer. Heute können sie genauso gut selbst Geld verdienen. Mütter würden also entlastet, wenn Väter mehr Verantwortung für ihre Kinder im Alltag und bei Erziehung übernehmen würden. Das könnte es mancher berufstätigen Frau erleichtern, ein Kind zu bekommen.

Das lässt sich mit staatlicher Zwangsgewalt nur schwer durchsetzen.

Von Zwang halte ich gar nichts. Es geht mir nur darum, eine gesellschaftliche Diskussion anzustoßen. Demokratische Politik kann da nichts verordnen. Und es gibt raschere Wege, um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu erhöhen. Wir brauchen Kindergärten, die übers ganze Jahr und täglich ausreichend lang offen haben, um Eltern eine Erwerbstätigkeit zu ermöglichen. Und wir brauchen Schulen, in denen Kinder und Jugendliche den ganzen Tag unterrichtet, aber auch gut betreut werden und am Abend mit gemachter Aufgabe nach Hause kommen. Es gibt Länder, in denen das funktioniert: zum Beispiel Frankreich, Skandinavien, Großbritannien und die USA.

Wie versorgen wir die Alten?

Mehr ältere Menschen sind in unserer Gesellschaft ein Versorgungsthema, wenn sie nicht mehr erwerbstätig sind. Aber das hat nicht in erster Linie mit dem Alter zu tun, sondern nur mit der Organisation unseres Arbeitsmarktes und unseres Pensionsversicherungssystems. Da müssen wir ansetzen.

Wie?

Um unser Pensionssystem im Gleichgewicht zu halten, sollten wir länger arbeiten. Das würde viel bringen. Berechnungen zeigen: Wenn alle ein Jahr später in Pension gehen, verringert das die Pensionslast um mehr als eine Milliarde Euro. Die wachsende Lebenserwartung sollte jedenfalls laufend berücksichtigt werden. Eine Möglichkeit ist, das Pensionsalter jedes Jahr um den Zugewinn der Lebenserwartung zu erhöhen. Wer trotzdem früher in Pension geht, müsste einen Abschlag auf die monatliche Pensionshöhe akzeptieren.

Geht das so ohne Weiteres?

Längere Erwerbstätigkeit setzt einen funktionierenden Arbeitsmarkt für ältere Menschen voraus. Denn viele gehen heute früher in Pension, weil die Arbeitgeber drängen. Länger arbeiten erfordert lebenslanges Lernen, altersgerechte Arbeitsplätze und Entlohnungssysteme, die sich nicht nach Alter und Betriebszugehörigkeit orientieren.

Welche Rolle kann die Migration in dieser Debatte spielen?

Es gibt schon heute in bestimmten Berufen zu wenig qualifizierte Arbeitskräfte. Dieses Problem wird in Zukunft größer werden. Zuwanderung kann helfen, Lücken auf dem Arbeitsmarkt zu schließen. Das Pensionssystem muss trotzdem stabilisiert werden. Denn Zuwanderer, die bei uns bleiben, werden ja auch eines Tages in Pension gehen.

Was muss passieren?

Wir müssen unsere Vorstellung vom wohlverdienten Ruhestand verändern. Einen wohlverdienten Ruhestand im Alter von 58 Jahren, in dem wir heute im Schnitt in Pension gehen, kann es zukünftig nicht geben. Denn unsere Lebenserwartung liegt heute schon bei 80 und wird gegen 90 Jahre gehen. Wir müssen unsere Biografien und Berufsverläufe anders denken. Es muss einen positiveren Wert darstellen, wenn jemand im Alter beruflich noch aktiv ist. Oder sich in unserer Gesellschaft ehrenamtlich engagiert.

Dazu muss man die Menschen wohl auch ermutigen.

Diese Ermutigung ist nicht nur eine staatliche Aufgabe. Da ist auch die Zivilgesellschaft gefordert. Wir brauchen mehr Angebote von Organisationen, in denen sich Ältere aktiv engagieren können. Dazu braucht es gewisse Voraussetzungen und die Bereitschaft, auch ehrenamtliches Personal zu integrieren. Wir können nicht von bloß von einzelnen älteren Menschen erwarten, dass sie sich selbst organisieren. Zum Vergleich: Die Freiwillige Feuerwehr funktioniert auch nur, wenn bereits eine gewisse Basis da ist – ein Feuerwehrhaus, ein Spritzenwagen, eine Organisation.

Gibt es da Vorbilder?

Denken Sie an die USA. Da gibt es viele Bereiche, in denen ältere Menschen integriert sind, und zwar nicht nur als Erwerbstätige, sondern auch als ehrenamtliche Mitarbeiter. In Museen zum Beispiel.

An welche Bereiche denken Sie da in Österreich?

Bei uns gibt es viele Bereiche, in denen aktive Ältere viel bewirken könnten. Lernen mit Schulkindern, Kinderbetreuung am Nachmittag, zusätzliche Hilfe für Kinder mit Migrationshintergrund, die nicht ausreichend Deutsch können, Besuche bei Älteren, die keine Angehörigen haben, Hilfe bei Erledigungen oder Behördenwegen. Überall dort, wo wir nicht genug Steuermittel einsetzen können, um eine mit Vollerwerbskräften finanzierte Lösung zu finden, gibt es ein Betätigungsfeld für ehrenamtlich tätige Menschen.

Sie haben damit ein weiteres Thema angesprochen: nämlich, dass es ländliche Gegenden gibt, in denen wir die Infrastruktur nicht mehr aufrechterhalten können.

Es gibt derzeit ein wachsendes und ein schrumpfendes Österreich. Einerseits Zentren, mit immer mehr Einwohnern, andererseits Peripherien mit immer weniger Menschen. Nördlich des Alpenhauptkamms wächst die Republik, im Süden gibt es viele schrumpfende Bezirke. Wanderungen aus ländlichen in städtische Regionen verstärken diese Unterschiede. Zudem bekommen junge Erwachsene ihre Kinder dort, wo sie hinziehen. Das verstärkt die Alterung in den Abwanderungsgebieten. Am Ende stellt sich die Frage: Wo können und wollen wir uns die Aufrechterhaltung teurer Infrastruktur leisten? Und wo soll es zu einer Konzentration kommen?

Was können wir tun?

Bäckereien, Kleinhändler und Schuhgeschäfte verschwinden, wenn es nicht genug Kunden gibt. Aber was ist mit Schulen, Spitälern, hausärztlicher Versorgung?

Wie können wir dieser Entleerung der Peripherien sinnvoll begegnen?

Nicht überall wird es gelingen, durch Regionalförderung, Betriebsansiedelung und andere Maßnahmen gegenzusteuern. Wir müssen auch lernen, intelligent zu schrumpfen. Das gehört nicht zu unseren Stärken, weil wir uns in der Regel an Wachstum orientieren und Schrumpfung immer nur als Ausnahme oder als Krise begreifen.

Steckbrief

Rainer Münz veröffentlichte zahlreiche Arbeiten zu Bevölkerungs- und Familienentwicklung, Migration und demografischer Alterung sowie zu Auswirkungen demografischer Veränderungen auf Wirtschaft und soziale Sicherungssysteme.
Seit 2005 leitet er die Forschungsabteilung der Erste Group. Davor war er u. a. Direktor des Instituts für Demographie der ÖAW und Professor für Bevölkerungswissenschaft an mehreren deutschen Universitäten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.06.2014)

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