Exodus in Bagdad: Dem Premier laufen die Abgeordneten davon

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Der erste Schritt für die Bildung einer Einheitsregierung schlug fehl. Kurden und Sunniten boykottierten die Wahl eines Parlamentspräsidenten. Die Kurden kokettieren immer offener mit ihrer Unabhängigkeit.

Wien/Bagdad. Die Regierung in Bagdad hatte eigens einen Feiertag proklamiert, und die Abgeordneten hatten ihre Festtagstracht hervorgeholt, als sie zwei Monate nach der Wahl zur konstituierenden Sitzung des Parlaments in der zur Festung ausgebauten Grünen Zone zusammentraten. Außerhalb der Hochsicherheitszone der irakischen Hauptstadt blieb ein Großteil der Läden geschlossen, an strategisch wichtigen Kreuzungen und Straßen der Hauptstadt patrouillierten verstärkte Armee- und Polizeieinheiten.

Sie stehen unter dem Kommando des inzwischen auch intern in Bedrängnis geratenen Premiers Nouri al-Maliki, der in Personalunion auch die Agenden des Innenministers führt, die Kontrolle über Teile der Armee aber längst verloren und das Vertrauen der Iraker nach achtjähriger Regierungszeit und unzähligen Intrigen gegen Rivalen aus dem eigenen schiitischen Lager, mehr noch aber gegen Sunniten und Kurden aufgezehrt hat.

Die Parlamentssession dauerte dann auch nicht einmal zwei Stunden, ehe sich die Abgeordnetenkammer in Chaos auflöste. Nach einer Pause kehrten Sunniten und Kurden aus Protest nicht mehr ins Plenum zurück: Von den etwas mehr als zwei Dritteln der Neoparlamentarier, die ihren Eid in Arabisch und Kurdisch abgelegt hatten, blieb am Ende nicht einmal ein Viertel übrig – die engsten Parteigänger Malikis. Damit war das vorgeschriebene Quorum für die Wahl eines Parlamentspräsidenten, dessen Amt nach der irakischen Realverfassung einem Sunniten vorbehalten ist, klar unterschritten.

Maliki-Getreue auf der einen sowie Kurden und Sunniten auf der anderen Seite hatten einander zuvor mit Schimpftiraden überzogen. Nicht einmal die akute Bedrohung durch die Jihadisten des „Islamischen Staats“ (IS), die im Norden und Westen immer näher an die Tore der Stadt vorrücken, konnte die gegnerischen Lager zur Räson bringen. Die Fraktionen schlugen die Appelle von US-Außenminister John Kerry bis hin zum schiitischen Großayatollah Ali al-Sistani, eine Einheitsregierung zu bilden, in den Wind – und erst recht die Mahnung von Mahdi al-Hafiz, dem Alterspräsidenten des Parlaments.

Ihm blieb schließlich keine andere Wahl, als das Scheitern einzugestehen und die Sitzung zu vertagen – auf kommenden Dienstag, sollten die Parteien bis dahin einen Minimalkonsens erzielen, wie er einschränkend hinzufügte. Das kann sich erfahrungsgemäß hinziehen: 2010, als sich die Abgeordnetenkammer beim letzten Mal konstituierte, vergingen mehr als neun Monate bis zur Bildung einer Regierung. Damals vollzog sich der Prozess unter den Augen der US-Besatzungsmacht, diesmal allerdings drängt die Zeit.

Angst vor Brennpunkt Samarra

Denn für byzantinisches Geschachere ist die Sicherheitslage zwischen Euphrat und Tigris zu heikel. Die Gegenoffensive der irakischen Armee in Tikrit, der Geburtsstadt Saddam Husseins im sunnitischen Herzen des Irak, schlug vorerst fehl. Rund vier Wochen nach Beginn des Blitzkriegs der Extremisten ist deren Vormarsch ungebremst. Der nächste Brennpunkt zeichnet sich bereits ab – und dies just am Anfang des Ramadan, des islamischen Fastenmonats. Offenbar haben die sunnitischen Milizen unter dem schwarzen Banner des selbst ernannten „Kalifen“ Abu Bakr al-Baghdadi die Stadt Samarra unter Beschuss genommen, die Bombardierung des Askari-Schreins im Tempelbezirk des schiitischen Heiligtums forderte mehrere Tote.

Bei den Irakern, insbesondere den Schiiten, weckt das schlimme Erinnerungen. Als die al-Qaida dort 2006 als Akt der Provokation einen Angriff startete, entfachte sie einen Bürgerkrieg mit den schiitischen Milizen – und monatelange blutige Gefechte. Schon jetzt hat der Vormarsch der Jihadisten einen hohen Blutzoll gefordert, den höchsten seit Jahren. Nach UN-Angaben kamen im Irak allein im Juni beinahe 2700 Menschen ums Leben.

Für die Kurden sind die militärische Gefahr durch radikale Sunniten und der mangelnde politische Wille für einen nationalen Kraftakt die letzten Indikatoren für den Zerfall eines ungeliebten Staats. In Interviews mit westlichen Sendern kokettiert Kurden-Präsident Massud Barzani immer offener mit der Eigenstaatlichkeit der autonomen Kurden-Region im Nordosten. Das sei ein „natürliches Recht“. Das Land sei bereits geteilt, und es sei nur eine Frage von Monaten bis zur Abhaltung eines Unabhängigkeitsreferendums.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.07.2014)

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