Die Revolution der Erben von Saddam Hussein

IRAQ UNREST KIRKUK
IRAQ UNREST KIRKUK(c) APA/EPA/KHALIL AL-A'NEI
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Radikale Islamisten verbreiten Furcht und Schrecken. Doch das Gros der Kämpfer gegen die Armee stellen Stämme und Anhänger von Exdiktator Saddam Hussein.

Bagdad. In der zentralen Leichenhalle von Bagdad liegen 35 Soldaten der irakischen Armee in Plastiksäcken im Keller. Ihre Körper sind bereits stark verwest, nachdem sie zwischen fünf und zehn Tage bei fast 50 Grad im Schatten im Freien lagen. Die Soldaten wurden in Tikrit, der Heimatstadt Saddam Husseins, gefunden. Die meisten sind aus nächster Nähe erschossen worden. Die Hände einiger der Toten sind noch immer auf den Rücken gefesselt. „Wer ein Verräter ist und die Regierung in Bagdad unterstützt, der wird getötet“, sagt Omar Saleh al-Tikriti. Der 27-Jährige kämpft in Tikrit gegen die irakische Armee, die dort vor einer Woche eine Offensive lancierte, aber bisher nicht ins Stadtzentrum vordringen konnte. „Als wir das Gefängnis in Tikrit befreiten“, erinnert sich al-Tikriti, „da kamen die einen frei, die anderen wurden erschossen.“

Das brutale Vorgehen unterscheidet sich nicht vom Islamischen Staat (IS), der seit seiner Invasion im Irak überall eine blutige Spur hinterlässt. Dabei wollen al-Tikriti und seine „Revolutionäre“ anders sein. Unter Revolutionären versteht der gelernte Schmied sunnitische Stämme und ehemalige Anhänger der unter Saddam Hussein herrschenden Baath-Partei. Vor drei Wochen hat sich al-Tikriti ihnen angeschlossen, um den schiitischen Premier Nouri al-Maliki und seine vom Iran gesteuerte Regierung zu stürzen. „Wir Revolutionäre sind die eigentlichen Macher des Aufstandes und nicht der Islamische Staat (IS)“, erklärt al-Tikriti. Die Islamisten seien eine kleine Gruppe, die in Tikrit über 2000 bis 3000 Männer verfüge, während die Stämme angeblich zusammen mehr als 6000 Kämpfer hätten. „Ein Kalifat, wie es die Islamisten ausriefen, ist für uns undenkbar. Wir wollen einen säkularen Staat, in dem alle Ethnien und Religionen gleichberechtigt miteinander leben“, sagt der Schmied.

Allianz auf Zeit mit den Radikalen

Er erinnert an die Sachwa-Milizen, die ab 2005 radikale Islamisten im Irak bekämpften. Für ihre Dienste erhielten sie damals Gehälter von der US-Besatzungsmacht. Als die Regierung in Bagdad 2008 für die Milizen zuständig wurde, versprach man den Kämpfern die Übernahme in die staatlichen Sicherheitskräfte. Bis 2013 geschah aber nichts. „Wir protestierten friedlich, aber man ignorierte uns. Es ging nicht anders, wir mussten zu den Waffen greifen“, meint al-Tikriti.

Unter Saddam Hussein besetzten Sunniten, die nur ein Drittel der 31 Millionen Einwohner des Irak stellen, jahrzehntelang führende Staatspositionen und waren die herrschende Klasse. Nach dem Sturz des Diktators 2003 verloren sie ihre Privilegien. Als Premier al-Maliki 2006 ins Amt kam, setzte er Schiiten in leitende Funktionen in der Politik, der Verwaltung, im Militär und bei den Sicherheitskräften. Sunnitische Gegenden vernachlässigte der Staat.

„Meine drei Brüder, mein Vater und alle meine Cousins kämpfen heute“, sagt al-Tikriti. „Wir wollen keine Menschen zweiter Klasse bleiben.“ Zuerst werde man die Regierung al-Malikis stürzen, danach IS besiegen. „Wie schon al-Qaida hat auch IS gegen uns Stämme nicht die geringste Chance.“ Vorerst kooperieren sie aber mit IS, um die Verteidigung Tikrits zu organisieren.

Das Al-Mansour Shopping Center in Bagdad ist das größte Einkaufszentrum der irakischen Hauptstadt. Dort sind zwei Aufständische aus Falluja zu einem Treffen bereit. Man sieht den jungen Studenten die Angst an. „Es wäre nicht das erste Mal, dass sie Sunniten verschwinden lassen und später tot auf die Straße werfen.“

„Wir werden IS aus dem Irak vertreiben“

Falluja liegt in der Anbar-Provinz, knapp 70 Kilometer von Bagdad entfernt. Es ist, neben Ramadi, die Wiege des aktuellen Aufstands. Im Dezember begannen dort die Kämpfe gegen die irakische Armee. Im Jänner hatte die Zentralregierung über das 350.000 Einwohner große Falluja die Kontrolle verloren. „Wir waren damals dabei“, erklären Ali und Mohammed stolz. „IS spielt bei uns keine führende Rolle“, versichert Mohammed. „Sie machen vielleicht 20 Prozent aller Kämpfer in Falluja aus, ihre Basen liegen außerhalb der Stadt.“ „Sobald mit der al-Maliki-Regierung abgerechnet ist, werden wir IS aus dem Irak vertreiben“, sagt der 19-jährige Ali. „Sehen Sie“, fügt Mohammed hinzu, „wir ziehen IS der Regierung in Bagdad vor, die uns Sunniten seit Jahren systematisch verfolgt, einsperrt und unsere Frauen verschleppt.“

Die beiden Studenten haben große Sympathien für die Baath-Partei. „Natürlich darf es nie mehr so werden wie unter der Diktatur Saddam Husseins“, führt der 24-jährige Mohammed aus. „Aber wir brauchen einen sozialen, demokratischen Staat, der nicht auf Religion basiert.“ Nach ihren Aussagen sollen führende Mitglieder der Baath-Partei aus der Ära Saddam Husseins in Falluja ein- und ausgehen. Darunter Izzat Ibrahim al-Douri, der ehemalige Armeechef und Vizepräsident des Irak, bekannt für seinen leuchtenden, rothaarigen Schnurrbart. Ein regelmäßiger prominenter Besucher sei auch Hatem Ali Suleiman, Führer des Stammes der Dulaim, der in Erbil, der Hauptstadt Kurdistans (KRG), immer wieder Interviews gibt. „Die Revolutionäre haben sehr gute Beziehungen zu den Kurden“, meint Mohammed breit grinsend.

An allen Frontlinien im Irak sind schiitische Milizen im Einsatz, die hauptsächlich die Kämpfe gegen IS und die sunnitischen Stämme führen. Dazu gehören die Asaib Ahl al-Haq-Badr-Brigaden oder auch Katib Hisbollah, die auf der US-Terrorliste geführt ist. Sie unterstehen alle dem irakischen Innenministerium. „Wir Milizen kämpfen an der Front“, bestätigt Hussein Ali, der Kommandant einer Truppe von 40 Mann der Asaib Ahl al-Haq. „Wir haben in Ramadi gekämpft, sind heute in Samarra und Tikrit als Elitetruppen, zusammen mit den anderen schiitischen Milizen.“ Vor drei Monaten war Hussein Ali, der auf einer Militärbasis in der Nähe von Teheran ausgebildet worden ist, noch in Damaskus. Dort war der 38-Jährige mit seinen Männern im Einsatz, um das heilige Grab und die Moschee von Saida Zeinab zu schützen. „In Damaskus ist es jetzt ruhig“, sagt der Kommandant lapidar. „Da konnte man uns leicht in den Irak zurückbeordern.“

„Wir verhungern langsam“

Das Einkaufszentrum in Bagdad füllt sich am frühen Abend. Die teuren Geschäfte mit internationalen Markenartikeln bleiben aber leer. Man ist hier anscheinend nur, um zu flanieren. Mohammed erzählt aufgebracht von willkürlichen Angriffen der irakischen Luftwaffe und von zahlreichen getöteten Zivilisten in der gesamten Provinz Anbar.

Als Beweis lässt er uns mit einem Revolutionär sprechen. An einem ruhigen Ort, an dem niemand zuhören kann, meldet sich dann Basheer al-Ani am Telefon. Er stammt aus der Kleinstadt Ana, die knapp 100 Kilometer von der irakisch-syrischen Grenzstadt al-Qaim entfernt ist. In diesem Gebiet gibt es seit zwei Wochen heftige Gefechte mit der irakischen Armee. „Wir werden seit Februar von Hubschraubern aus angegriffen“, erzählt der 27-Jährige. „Sie beschießen und bombardieren Märkte, Krankenhäuser und vor Kurzem sogar den Friedhof.“ Am Montag habe die Luftwaffe drei Wohnhäuser getroffen.

„Wir brauchen Unterstützung von Menschenrechtsorganisationen“, sagt al-Ani. Es klingt wie ein Hilferuf. „Die Straßen sind gesperrt, es gibt kaum Lebensmittelvorräte und Wasser. Wenn wir nicht durch die Luftangriffe sterben, verhungern wir langsam.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.07.2014)

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