Der Gerechtigkeits-Kompass

Ist Gerechtigkeit eine Worthülse? Nein, Grundformen ziehen sich durch die Zeiten. Und was eine »faire Gesellschaft« ist, kann jeder verstehen.

Vor zehn Jahren tobte der Hurrikan Charley über Florida, 22 Menschen verloren ihr Leben, viele, viele ihr Haus, Hab und Gut, es gab keinen Strom. In dieser Situation tauchten hier und da erstaunliche Preise auf: Eine Firma verlangte für die Entfernung zweier Bäume von einem Hausdach 23.000 Dollar, ein greises Ehepaar mit behinderter Tochter zahlte auf der Flucht vor dem Hurrikan 160 Dollar für ein Motelzimmer, das sonst 40 kostete, eine Zwei-Dollar-Eispackung kostete zehn ... Als der Justizminister gegen den Preiswucher vorgehen wollte, protestierten Ökonomen: Preise würden in der freien Marktwirtschaft eben von Angebot und Nachfrage bestimmt – so etwas wie einen „gerechten“ Preis gebe es einfach nicht!

Mit diesem Beispiel eröffnet der populäre amerikanische Philosoph Michael J. Sandel, auch gern „Star der Gerechtigkeit“ tituliert, sein Buch „Gerechtigkeit“. Er will damit zeigen, wie kompliziert die Sache mit der Gerechtigkeit ist. Die Gegner der Preissteuerung haben nämlich gute Argumente. Der freie Markt fördere das Gemeinwohl, weil er zu Leistung anstachle, und die hohen Preise würden in diesem Fall Anreize für Anbieter liefern, mehr von den Gütern zu produzieren. Außerdem fördere der Markt die Freiheit des Einzelnen. Befürworter der Preissteuerung erwiderten: Bei diesen Preisen gehe es nicht um Freiheit, sondern Erpressung von unter Zwang (zu kaufen) Stehenden. Und die Mehrung des Gemeinwohls müsse gegen die Last abgewogen werden, die man Armen aufbürde. Außerdem sei es nie gut fürs Gemeinwohl, wenn der Staat exzessive Gier dulde.

Theorie und „Gefühl“. Mehrung des Gemeinwohls, Achtung vor der Freiheit des Einzelnen, Förderung menschlicher „Tugenden“ – man könnte viele aktuelle Beispiele bringen, in denen diese Grundziele, mit- oder gegeneinander, zu verschiedensten Positionen führen. Und je nachdem, welche der vielen „Gerechtigkeits-Theorien“ man vertritt, die man in Büchern heutiger und früherer Philosophen schön nachlesen kann (Sandels Buch gehört zu den anregendsten neueren dazu), wird man zu einem anderen Ergebnis kommen.

Merkwürdig nur, dass die Menschen, wenn sie nicht gerade komplizierte Gerechtigkeitsbücher lesen, meist sehr genau „wissen“, ob die Wucherpreise nach dem Hurrikan „gerecht(fertigt)“ sind oder nicht: Nein, sie widersprechen unserem moralischen Empfinden, sie machen uns zornig: Hier nutzen Menschen das Elend anderer aus, sie nehmen sich etwas, was ihnen nicht zusteht. Da stimmt etwas nicht.

Im Grunde genommen ist dieses Gefühl das des Kindes, das aufstampft, weil die Eiskugel der Schwester größer ist: „Das ist ungerecht!“ – nur dass es hier nicht der Zorn über etwas ist, was einem selbst, sondern was einem anderen geschieht. Was empfindet das mit seiner Eiskugel unzufriedene Kind als ungerecht? Dass nicht beiden das Gleiche, das gleich Gute zuteil geworden ist. Mama hätte auf die zufällig kleiner ausgefallene Eiskugel noch was drauftun sollen. Hätte das Kind vorher vielleicht was „angestellt“, hätte es sich vielleicht ebenso geärgert. Aber der Satz „Das ist ungerecht!“ wäre vielleicht ausgeblieben.

Sind das nicht zwei Grundelemente dessen, was Gerechtigkeit schon für die ersten antiken Gerechtigkeitsphilosophen ausmachte? Das Gebot, gleiche Fälle gleich zu behandeln (Justitia hat eine Binde vor den Augen), und das Gebot „suum cuique“, jedem zu geben, was ihm zusteht.

Doch was steht einem zu? Da wurde, wird es schwierig. Die „unerforschliche“ Gerechtigkeit Gottes konnte als Maßstab dienen; oder die unterschiedlichen „Begabungen“ bei Platon. Auch die katholischen Erfinder der „sozialen Gerechtigkeit“ unterschieden grundlegende Menschenrechte und ebenfalls naturgegebene „individuelle Rechte der Mitmenschen“. Heute ist Leistung ein Schlüsselwort, das Hierarchien schafft und zur Rechtfertigung horrender Unterschiede in der Lebensqualität dient. Nur auf Chancengleichheit komme es an, nicht Ergebnisgleichheit.

Ungerechter Utilitarismus. Im Prinzip leuchtet das ein, aber die klare Unterscheidung zwischen beiden ist Konstrukt. Ist die Not der allein erziehenden Mutter nur das Ergebnis schlecht genutzter Chancengleichheit, eigenes Versagen? Und ist die Leistung jener Menschen, die hundertmal mehr als andere verdienen, auch hundertmal größer? Die Rechtfertiger solcher Einkommensscheren argumentieren gerne utilitaristisch: Insgesamt nütze ein solches System allen, es vergrößere den allgemeinen Wohlstand und komme damit auch den Ärmeren zugute. Aber der Utilitarismus hatte schon immer ein Problem mit der Gerechtigkeit. Er kümmert sich um die Maximierung des Gemeinwohls, aber nicht, wie es proportional auf die Einzelnen verteilt wird. Auch eine Sklaven- und Kastengesellschaft, wendet der deutsche Gerechtigkeitsphilosoph Otfried Höffe ein, lässt eine solche Art Utilitarismus zu, wenn sie nur maximales Gemeinwohl bringt.

Und ist überhaupt die Tatsache, dass letztendlich alle wohlhabender werden (manche mehr, manche weniger), schon „Maximierung des Gemeinwohls“? Nicht, wenn der Zusammenhalt einer demokratischen Gesellschaft dadurch bröckelt. Und dass er das tut, wenn die Kluft zwischen Arm und Reich ein bestimmtes Maß überschreitet, ist unbestritten. Zu viel Wohlfahrtsstaat kann die „staatsbürgerliche Tugend“ zersetzen – zu viel „Ergebnis-Ungleichheit“ genauso.


Rawls „faire“ Gesellschaft. Einer der wichtigsten modernen Gerechtigkeitsphilosophen, John Rawls, entwarf eine hypothetische Ursituation für die Schaffung einer gerechten Gesellschaft: In ihr weiß niemand, welche Position er im Leben tatsächlich einnehmen, wie es ihm ergehen wird. Durch diesen „Schleier des Nichtwissens“ entscheiden die Menschen unparteiisch, das heißt gerecht oder auch „fair“, wie die Gesellschaft beschaffen sein soll.

Eine solche Gerechtigkeitstheorie wird auch ein (älteres) Kind ziemlich sicher verstehen, ebenso wie den Satz „Was du nicht willst, dass man dir tu', das füg' auch keinem andern zu“. Solche Grundvorstellungen von Gerechtigkeit ziehen sich durch die Zeiten und Kulturen.

Viele Ideale wurden im Lauf der Geschichte entsorgt, Gerechtigkeit dominiert heute mehr denn je. Weil es eine Worthülse ist, die jeder füllen kann, wie er will, wie Kritiker meinen? Wohl eher, weil im Grunde fast jeder Mensch verstehen kann, was gemeint ist. Dieser innere Kompass garantiert zwar nicht, dass man auf jede konkrete Frage eine Antwort findet – aber er ist es, der für die richtige Richtung sorgt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.07.2014)

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