Landau: "System hat Menschen auf dem Gewissen"

THEMENBILD: CARITAS PRESSEREISE SENEGAL 2014
THEMENBILD: CARITAS PRESSEREISE SENEGAL 2014(c) APA/HELMUT FOHRINGER (HELMUT FOHRINGER)
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Caritas-Präsident Landau mahnt: Der Grundkonsens, Menschen an den Rändern nicht zu vergessen, erodiere. Er plädiert für ein Ende der Debatten aus Sparperspektive. Österreich benötige mehr Nichtraunzerzonen.

Derzeit wird über eine Steuersenkung diskutiert. Wenn Sie als Caritas-Präsident die Ärmsten im Auge haben: Könnte der Steuersatz dann gar nicht hoch genug sein?

Michael Landau: Es stimmt, das Bemühen der Caritas muss darauf abzielen, dass in unserem Land jeder Mensch in Würde leben kann. Dass jeder die Chancen hat, seine Begabungen zu entfalten. Das ist auch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

Sehen Sie diesen Anspruch auf Würde nicht verwirklicht?

Für zunehmend mehr Menschen ist der Zugang zu leistbarem Wohnraum ein Problem. Es ist dafür zu sorgen, dass die Mittel der Wohnbauförderung für den Wohnbau zweckgewidmet werden. Das System der Zu- und Abschläge bei den Mieten muss transparenter werden. Wenn ich mir insgesamt die Aufgaben, die anstehen, ansehe, dann weiß ich: Wir werden mehr Mittel brauchen. Viele von den Menschen, die zu uns kommen, sind „working poor“. Die sehr hohen Eingangssätze bei der Steuer und die Sozialversicherungsbeiträge stellen eine Belastung dar. Daher kann ich mit der Empfehlung der Europäischen Kommission, vor allem im Eingangsbereich die Steuern zu senken, schon etwas anfangen.

Möglichst rasche Senkung also zumindest der ersten Lohnsteuerstufe?

Wir sind als Caritas Armutsexperten, nicht Steuerexperten. Wir nehmen aber wahr, dass die Zahl der Menschen, die an den Rand gedrängt werden, zunimmt. Gleichzeitig entnehme ich der „Presse“, dass im Jahr 2013 die Zahl der Millionäre in Österreich um 4600 zugenommen hat. Die Diskussion, wie sie derzeit geführt wird, setzt am falschen Ende an. Entscheidend ist, wohin die Reise führen soll. Das ist der Kern von Politik: die Diskussion von Zielen, die wir gemeinsam erreichen wollen. Das menschliche Antlitz einer Gesellschaft entscheidet sich nicht zuletzt daran, wie mit den Menschen an den Rändern der Gesellschaft umgegangen wird. Die Diskussion, die wir nicht führen, ist die über die Ziele, für die es sich anzustrengen lohnt. Die Diskussion über Werthaltungen und Menschenbilder wird zu wenig geführt. Es geht darum, die Diskussion aus der reinen Sparperspektive hinauszuführen und auf die Zielperspektiven hin auszurichten: Gibt es in unserem Land einen Grundkonsens, dass wir die Menschen an den Rändern nicht vergessen dürfen?

Gibt es diesen Grundkonsens?

Ich habe den Eindruck, dass dieser Grundkonsens zunehmend erodiert unter einem behaupteten Spardruck.

Aber wo wird denn tatsächlich gespart?

Es geht selbstverständlich darum, mit den vorhandenen Mitteln sparsam umzugehen. Ich sehe aber ebenso, dass wir dort, wo es um Pflegegeld, Hospizarbeit, Bildung, Forschung geht, Akzente benötigen. Nicht zuletzt im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit, wo die Regierung beabsichtigt, im Jahr 2015 die Mittel um über 20 Prozent zu kürzen. Wenn ich weiß, dass alle zehn Sekunden weltweit ein Kind an Hunger oder den Folgen von Hunger stirbt, wie sollen wir dazu schweigen? Ich erwarte mir, dass die Republik in einem ersten Schritt die Kürzung zurücknimmt und dass die gesamten Entwicklungshilfemittel, so wie im Regierungsprogramm vorgesehen, auf 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens erhöht werden. Derzeit stehen wir bei blamablen 0,28 Prozent des BIPs. Ich fordere eine gesetzliche Verankerung der Mittel. Heute sind das Ermessensausgaben, die jederzeit gekürzt werden können.

Können Sie den Satz von Papst Franziskus unterschreiben: Diese Wirtschaft tötet?

Es ging dem Papst nicht um pauschale Wirtschaftsschelte. Er benennt sehr klar, was er meint. Ein Wirtschaftssystem, in dem es niemanden schert, wenn ein alter Mann auf der Straße erfriert, in dem aber Schlagzeilen erfolgen, wenn die Börsenkurse sich um einige Prozentpunkte verschieben, ein solches Wirtschaftssystem hat Menschen auf dem Gewissen. Wir haben in Österreich zum Glück ein sehr hohes Verantwortungsbewusstsein in den wirtschaftlichen Unternehmen. Aber in den vergangenen 25 Jahren sind mehr als 20.000 Menschen beim Versuch, Europa zu erreichen, elend ertrunken.

Das hat aber wohl eher mit verbrecherischen Schlepperorganisationen als dem Wirtschaftssystem zu tun.

Wenn ich weiß, dass ich um eine Million Euro in den Herkunftsregionen der Menschen 12.000 Menschen nachhaltig vom Hunger befreien kann, dann sind das auch 12.000 Menschen weniger, die auf klapprige Boote steigen und nach Europa zu kommen versuchen. Die Europäische Union mag Trägerin des Friedensnobelpreises sein. Aber für ihren Umgang mit Menschen auf der Flucht hat sie diesen Preis nicht verdient. Europa schaufelt vor den Küsten von Griechenland, Malta, Italien ein Grab. Mit jedem Toten wird dieses Grab tiefer. Gerade wenn es um das Thema Asyl geht, brauchen wir mehr und nicht weniger Europa. Wir brauchen einheitliche Verfahrensstandards in den Nationalstaaten. Die Wiedereinführung des Botschaftsverfahrens (in den Heimatländern der Asylwerber kann um Asyl angesucht werden, nicht erst in Österreich; Anm.) wäre etwa ein sinnvoller Schritt.

Europa wird nicht alle Probleme Afrikas lösen können.

Den Hunger zu bekämpfen ist nicht eine Frage des Könnens, sondern des Wollens. Selbstverständlich heißt das auch Einsatz für Menschenrechte, Unterstützung beim Aufbau einer Zivilgesellschaft in den Regionen.

Zu Österreich zurück. Ist es gerecht gegenüber der nächsten und übernächsten Generation, wenn in Österreich das durchschnittliche Alter für den Beginn der Pension bei 58 Jahren liegt, und das bei einer Steigerung der Lebenserwartung?

Manches in der Debatte klingt nach Besitzstandswahrung. Mit Blick auf die Gesamtausgaben im Sozialbereich kann man sagen: Hier braucht sich Österreich nicht zu verstecken. Wenn ich aber gleichzeitig sehe, dass ein großer Teil davon für Pensionen und Altersvorsorge ausgegeben wird, dann kommt dem Themenfeld der Armutsvermeidung und der Armutsbekämpfung offensichtlich nicht das Gewicht zu, das dem Thema zukommen sollte. Und das, obwohl der Sozialstaat Österreich über weite Strecken gut funktioniert.

Hat sich die Mindestsicherung bewährt?

Grundsätzlich war das ein wirklicher Fortschritt. Es gilt aber nachzujustieren: Man muss die Lebenswirklichkeiten der Menschen entschiedener in den Blick nehmen. Das heißt etwa, die tatsächlichen Wohnkosten zu berücksichtigen oder wenn es einen Sonderbedarf gibt und ein Kind krank ist.

Bei der Unterbringung von Asylwerbern hat Landeshauptmann Erwin Pröll gedroht, Traiskirchen für Neuaufnahmen zu sperren. Sprechen Sie sich für Sanktionen aus, wenn Bundesländer Quoten nicht erfüllen?

Ich erwarte mir, dass sich die Bundesländer an die Vereinbarungen halten. Vor allem sollte der Arbeitsmarkt endlich für Asylwerber geöffnet werden. Es gibt eine europäische Richtlinie von 2013, die bis Juli 2015 umzusetzen ist und klarstellt, dass es einen Zugang zum Arbeitsmarkt nach neun Monaten ohne erstinstanzlichen Asylentscheid geben muss. Wir sind in Österreich in einer Reihe von Gebieten nicht schlecht unterwegs. Wenn es der Bundesregierung gelingen würde, ein Stück mehr Optimismus auszustrahlen, käme sie mit Erfolgen besser über die Bühne.

Sind Sie Berater der Koalition?

Ich werde mich hüten, ich bin Priester, nicht Politiker. Wir brauchen in der Gesellschaft ein ganzes Stück mehr Nichtraunzerzonen.

Ideen für ÖSTERREICH

Mieten
Caritas-Präsident Michael Landau plädiert für eine Zweckbindung der Wohnbaufördermittel.
Bei den Zu- und Abschlägen auf die Mieten sollte es mehr Transparenz geben.

Asyl
Mehr Europa: EU-weit gültige Standards sollten eingeführt werden. Aslywerber sollten (wieder) in ihrem Herkunftsland in österreichischen Botschaften einen Antrag stellen können.
Der Arbeitsmarkt sollte geöffnet werden.

Entwicklungshilfe
Die dafür vorgesehenen Mittel sollten gesetzlich festgeschrieben werden (derzeit Ermessensausgaben) – und die Regierung solle ihr im Koalitionspakt gegebenes Versprechen einlösen, den Anteil der Mittel für Entwicklungszusammenarbeit von den derzeit 0,28 auf 0,7 Prozent des BIPs zu erhöhen.

Steckbrief

Michael Landau
geboren 1960 in Wien als Kind eines jüdischen Vaters und einer katholischen Mutter.

1978–1988
Studium der Biochemie in Wien, Abschluss mit Doktorat.

1980
Eintritt in die katholische Kirche
und Taufe.

1986–1999
Studium der katholischen Theologie, 1988 Eintritt ins Priesterseminar, 1992 Priesterweihe.

1995
Direktor der
Caritas Wien.

2013
Präsident der
Caritas Österreich.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.07.2014)

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