Katie Mitchell: «Krieg ist für Frauen undenkbar»

The Forbidden Zone
© Salzburger Festspiele / Stephen Cummiskey
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Die britische Regisseurin Katie Mitchell wirft bei den Salzburger Festspielen in «The Forbidden Zone» weibliche Blicke auf den Ersten Weltkrieg – mit spektakulärer Livefilmtechnik.

Die Salzburger Festspielen haben Sie eingeladen, eine Arbeit zum heurigen Leitthema zu machen: dem Ersten Weltkrieg. Was bedeutet das für Sie als Engländerin?

Katie Mitchell: Hier arbeiten beide Seiten zusammen, um an einen Krieg zu erinnern, in dem unsere Länder Aggressoren waren. Das ist für mich besonders wichtig. Das Stück ist zum Teil auf Deutsch, zum Teil auf Englisch, und die Besetzung ist gemischt. Dadurch wird es richtig authentisch.

 

Wie haben Sie sich dem Thema genähert?

Ich habe mein Augenmerk auf die Frauen gerichtet. Ich suchte nach der Geschichte einer starken Frau, die sich gegen den Krieg auflehnt. So bin ich auf Clara Immerwahr gestoßen – und das Hauptthema des Abends: chemische Waffen. Der Erste Weltkrieg war ja wie die Büchse der Pandora: Er hat ein ganzes Spektrum von Schrecken entfesselt.

Wer war diese Clara Immerwahr?

Eine deutsch-jüdische Chemikerin, die mit Fritz Haber verheiratet war, einem Wissenschaftler, der chemische Massenvernichtungswaffen entwickelte. Als ihr Mann von ersten Giftgaseinsätzen nach Hause kam und den Erfolg feierte, schoss sie sich ins Herz. Es gab auch pathologische Züge an ihrem Selbstmord, ihre Ehe war zerrüttet. Aber der Hauptgrund war ihr Protest dagegen, dass ihr Mann die Wissenschaft missbrauchte.

Was war Fritz Haber für ein Mensch?

Wir dämonisieren ihn nicht. Er war sehr facettenreich, ein wissenschaftliches Genie: Er erfand den Kunstdünger, damit verdankt ihm bis heute ein Viertel der Weltbevölkerung ihr Leben. Und er dachte ernsthaft, die Wissenschaft könne den Krieg und das Leiden verkürzen. Aber sein Erfolg führte ihn zur Machtgier, zur Hybris.

 

Tragen die Deutschen die Hauptschuld daran, dass es chemische Waffen gibt?

Deutschland war nicht das erste Land, das chemische Waffen einsetzte. Das war Frankreich! Wir sind sehr darauf erpicht, ausgewogen zu sein.

 

Ihre Geschichte geht bis über den Zweiten Weltkrieg hinaus. Warum?

Mit chemischen Waffen gab es im Ersten Weltkrieg erste Versuche. Sie töteten noch nicht viele Menschen, waren eher ein Angstfaktor für die Soldaten. Um zu verstehen, was sie ausgelöst haben, muss man bis zu den Atomwaffen gehen. Clara hatte einen Sohn, es heißt, sie sei in seinen Armen verblutet. Nach dem Krieg zog er nach Amerika. Später beging auch er Selbstmord. Ich fand heraus, dass seine älteste Tochter Claire Chemikerin wurde und in Chicago an einem Gegengift für den Kampfstoff Phosgen arbeitete. Sie versuchte also, den Schaden wieder gutzumachen – und brachte sich schließlich ebenfalls um, mit Zyankali auf einer öffentlichen Toilette. Ich staunte: Was für ein Schatten über dieser Familie! Und ich hatte ein Narrativ, dass beide Kriege umspannt.

 

Der Titel „The Forbidden Zone“ ist den Aufzeichnungen der Amerikanerin Mary Borden entlehnt, die im Krieg als Krankenschwester arbeitete. Die Front war für Frauen eine „verbotene Zone“. Gehen nur deshalb Kriege fast immer von Männern aus?

Wir zitieren im Stück aus einem Essay von Virginia Woolf. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass irgendein Problem durch Massengewalt gelöst werden kann. Und sie glaubte, dass es ihr Geschlecht ist, das ihr diese Vorstellung unmöglich macht. Warum um alles in der Welt sollte man Generationen junger Männer und Zivilisten solcher Gewalt aussetzen? Das ist für eine Frau schlicht unbegreiflich. Vielleicht, weil wir Kinder gebären. Und weil wir deshalb Empathie auch für die Kinder anderer Leute haben.

 

Was ist mit den Herrscherinnen, die Krieg geführt haben?

Das waren Strohfrauen einer Männergesellschaft.

 

Sie wenden wieder ihre schon berühmt gewordene Technik an: Auf der Bühne wird live ein Video gedreht und zugleich auf einer großen Leinwand gezeigt. Was macht für Sie den Reiz dieser Methode aus?

Als Regisseurin bin ich nahe an den Schauspielern dran. Da sehe ich alle Feinheiten – wir haben ja 200 Muskeln im Gesicht! Aber gehen Sie mal in die zehnte Reihe, da wird das Spiel grob. Die Videotechnik bringt jeden Zuschauer sehr nahe ans psychologische Detail. Deshalb passt sie zu Stücken, in denen es um feine Nuancen des menschlichen Verhaltens geht. Wie in „Forbidden Zone“ der Moment, wenn Claire mit dem Zyankali in der Hand zögert: Was steht mir für ein Leben bevor, wenn ich das jetzt nicht schlucke? Diesen Gedanken gibt ein Wimpernschlag preis. Wir sind im Reich der winzigen Dinge.

Warum drehen Sie nicht Filme fürs Kino?

Ein Film ist doch vorab aufgezeichnet, gestaltet, bearbeitet und abgeschliffen. Ich bin ein Junkie von Live-Aufführungen!

 

Sie zerstören zwar die Theaterillusion, zeigen aber die Emotionen der Darsteller sehr realistisch. Wie passt das zusammen?

Ich liebe die Spannung zwischen beidem. Theater ist immer ein Fake. Ich deklariere die Täuschung, zeige ein Konstrukt aus einem fertigen Film und seinem Entstehen. Das ist ganz ehrlich. Gerade dadurch schlägt es um: Die Ungläubigkeit wird außer Kraft gesetzt.

 

Noch ein Gegensatz: das hektische Gewusel der Filmtechniker und die meditative Gedankenwelt der Akteure. Auch das erzeugt Spannung. Ungewollt oder absichtlich?

Ich glaube, es ist Absicht. Es hängt auch damit zusammen, wie ich Realität erlebe. Ich rede jetzt mit Ihnen, schaue zu, wie Sie mitschreiben, denke mir: Was hält er von dem, was ich sage? Zugleich lausche ich den Geräuschen im Orchestergraben und schätze ab, wie viel Zeit wir noch für das Interview haben. Wir erleben ständig alles gleichzeitig, nur selten sind wir auf eine Sache oder Person fokussiert. Das setzte ich auf der Bühne um.

 

Was machen Sie als Nächstes?

Im Herbst den „Kirschgarten“ in London, mit seltsam gemischten Gefühlen. Ich bin unsicher. Es ist mein Lieblingsstück. Während der Arbeit werde ich 50. Dafür habe ich mir das beste und schwierigste Werk ausgesucht. Nun habe ich aber diese wunderbare Reise gemacht, zur Oper, zu Videos. Wie wird es sein, wieder zum Handwerk, zum gut gebauten Stück zurückzukehren?

 

In England gelten Ihre Arbeiten als extrem und provokant, bei uns nicht. Warum ist die britische Regietradition so konservativ?

Unsere Theaterkultur hat sich seit dem 19. Jahrhundert kaum geändert. Wir sind beim textbezogenen Realismus geblieben. In Deutschland hingegen gab es eine fantastische Serie von Brüchen mit der Tradition, viel radikales Neuerfinden. Der Zweite Weltkrieg war hier ein Umbruch, bei uns nicht. Wir machten einfach weiter. Jetzt strömen unsere Jungen nach Deutschland. Es ist sehr lustig, wenn sie dann nach Hause kommen, mit ausgeliehenen Bruchstücken, die sie irgendwie zusammenstecken, ohne zu verstehen, wie ernsthaft und gewachsen diese Praktiken sind.

 

Sie sind als Theaterschaffende auf beiden Seiten zu Hause, der Insel und dem Kontinent. Wie erleben Sie das?

In Deutschland wurde ich angetrieben, sehr viel radikaler zu arbeiten als jemals zu Hause. Heute fühle ich mich total schizophren! Du machst die gleiche Sache hier und dort, und die Reaktionen sind völlig unterschiedlich. Das ist bizarr.

 

Sehen Sie auch Unterschiede zwischen Berliner und Wiener Publikum?

Nein. Das Wiener Publikum ist wie das deutsche: sehr aufmerksam, streng, mit hohen intellektuellen Erwartungen. In England schlafen viele Leute im Theater ein. Die gehen da hin, um ihren Sorgen zu entfliehen und in Nostalgie zu schwelgen. Hier beugen sich die Leute nach vorn und prüfen eingehend, was man macht, mit der Erwartung, dass es gut sein wird. Es ist toll, dieses Privileg eines Publikums im deutschsprachigen Raum zu haben. Es macht mich als Regisseurin stärker.

Steckbrief

Katie Mitchell
(49) ist eine britische Theater- und Opernregisseurin. Berühmt wurde sie durch ihre Technik, auf der Bühne Filme zu drehen und zugleich live zu zeigen. Am Burgtheater inszenierte sie im Februar eine Theaterfassung von Peter Handkes Roman „Wunschloses Unglück“.

„The Forbidden Zone“ ist ein Auftragswerk für die Salzburger Festspiele. Nach Mitchells Konzept schrieb Duncan Macmillan den Text. Das vielschichtige Werk über den Ersten Weltkrieg und den Fluch chemischer Waffen erlebt seine Uraufführung am 30.7. auf der Perner-Insel in Hallein.

Stephen Cummiskey

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.07.2014)


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